Das Dröhnen des Basses verhinderte, dass Maxi sich richtig konzentrieren konnte. Der Blindenstock fuhr von links nach rechts und stieß ständig mit irgendwelchen Steinen, Holzstücken, Erdhügeln oder gar dem Gartenzaun zusammen. Es wirkte wie eine Zeitreise, als er sich bildhaft den großen Holzzaun samt Flügeltoren vor sich vorstellte. Die groben Verzierungen zeugten von einer geringen Handwerkskunst, als Maxi das kühle Material berührte und die Türklinke herunter drückte. Ein Klopfen hätte eh nichts gebracht, dass würde Thorsten nicht hören, selbst wenn die Musik nicht wäre.
Lisa klopfte ihrem Bruder zum Abschied grob auf die Schulter und hinterließ neben einer warmen Berührung ein belustigtes Schnauben.
"Wenn was ist, melde dich einfach!", flüsterte sie in seine allzu strapazierten Ohren und ging. Die auf den Steinfliesen klackenden Absätzen verschwanden innerhalb weniger Minuten in dem tosenden Lärm, der sein Gehör mehr als deutlich überforderte. Stöhnend drückte er gegen die schwere Holztür und trat ein.
"Kaum sehe ich die Tür öffnen, wusste ich, dass du es bist!", rief die bekannte Bassstimme ihm zu. Thorsten umarmte ihn wie in alten Zeiten und hob wohl abschließend die Hand, damit sie ihren alt bekannten Handschlag machen konnten. Maxi tat nichts dergleichen und es widerstrebte ihn auch, nochmal von Thorsten berührt zu werden. Sein Gesichtsausdruck wurde wohl richtig gedeutet, als Thorsten mit einem "Oh" die Hand sinken ließ.
"Sorry, als ich dich gesehen habe, dachte ich mir, dass alles wieder so ist wie früher.", seine tiefe solide Stimme klang ab, als er kehrt machte und in die Scheune ging. Maxi wusste nur grob, wo sich alles befand.
Direkt hinter dem hohen Zaun lugten die Baumspitzen der Tannen, Kiefer und Fichten hervor. Einige kleine Bäume wurden an den kleinen Ecken gepflanzt. Das drei Hektar große Land gehörte Thorstens Großvater, auf welchem sie früher immer ihre Partys gefeiert hatten. Die einzige große Scheune, in der nicht nur alle Maschinen wie Traktor oder fahrbarer Rasenmäher untergebracht waren, wurde in den letzten fünf Jahren so restauriert, dass man den zweiten Anbau als Wohnraum nutzen konnte. Ein kleines Badezimmer, samt Wohnraum, Küchenzeile und ein paar Schlafräume konnte um die zehn bis fünfzehn Mann unterbringen. Maxi wurde zum Übernachten eingeladen, doch er hoffte sich noch irgendwie aus der Affaire ziehen zu können. Sein Magen hob und senkte sich mit jedem weiteren unsicheren Schritt. Der Stock konnte Hindernisse erkennen lassen, aber keine versteckten Löcher. Maxi trat immer wieder auf eine Erhebung oder einem kleinen Loch, sodass es geschlagene fünf Minuten statt der normalen Minute zur Scheune dauerte. Er war sich bewusst, dass alle ihn anstarrten, denn die Gespräche klangen ab, als er die rettende Bank erreichte.
Die Musik dröhnte ein paar Meter weiter und Maxi gewöhnte sich nur spärlich an die Lautstärke.
"Ich bringe dir ein Bier, okay?", Thorsten wollte schon los, als Maxi ihn packte und um ein Wasser oder ein anderes Softgetränk bat. Alkohol würde seine Sinne dermaßen täuschen, dass er sich dann gar nichts mehr zutraute.
Thorsten kam mit einem kurzen Zögern der Bitte nach und brachte ihm eine Fanta.
Beide unterhielten sich um der alten Schule willen, die alte Zeit und Maxi entkam immer wieder die ein oder andere Schnauben oder gar Lachen. Er mochte Thorsten nach wie vor, obwohl der ehemals stämmige junge Mann nun in dem Jahr ordentlich abgespeckt hatte. Stolz berichtete sein Freund von einem Praktikum in einem Fitnessstudio, dass Maxi unbedingt mal ausprobieren sollte. Dass Blinde für gewöhnlich nicht einfach so in ein Studio gingen, erwähnte Maxi nicht. Er freute sich über das Stück Normalität und Selbstkontrolle in seinem Leben und kostete den Moment völlig aus. Jemand rief nach Thorsten und so unterbrach man das Gespräch. Maxi nippte an der kühlen Süße. Er schluckte, als er ein paar geordnetere Schritte auf sich zulaufen hörte.
"Hallo Maxime.", hörte er eine weibliche Stimme. Er musste zweimal hinhören, denn er hatte nie wieder gedacht Marias weichen Klang zu hören. Sein Blutdruck stieg ein wenig an und seine Wangen erhitzten sich, wenn sie nicht ohnehin schon durch die stechende Kühle einen Rotton annahmen. Er musste verwegen lächeln, als sie sich neben ihn setzte.
"Darf ich dich umarmen?", fragte sie schüchtern. Er konnte diese Schönheit wahrlich vor sich sehen. Diese braunen lange Haare über diese schmale Taille und diese perfekten Rundungen. Oh weh. Und er mit einem Blindenstock und einer Sonnenbrille. Der Vergleich war so absurd, dass es ihm noch mehr die Röte ins Gesicht stieß. Maria wartete auf die Antwort, doch es kam keine.
"Hallo Maria.", sagte er stattdessen und gab sich mit einem Lächeln zufrieden. Beide waren nie wirklich offiziell getrennt gewesen, doch der Kontakt brach nach Maxis Unfall nach und nach einfach ab.
"Was machst du hier?", fragte sie schüchtern. Sie wusste wohl nicht, wie sie wirklich mit Maxi umgehen sollte.
"Ich habe Thorsten auf einem Spielplatz wieder getroffen, als meine kleine Cousine und sein kleiner Bruder zusammen gespielt hatten. Er hat mich wiedererkannt und kam zu mir. Er schlug vor, ein kleines Treffen zu veranstalten. Um der alten Zeiten willen." Auch wenn Maxi liebend gern auf diese Einladung verzichtet hätte, hatte er sich doch auch über den erneuten Kontakt gefreut. Und da Zweifel die Vorfreude nicht besiegen hatte können, hatte er Lisa darum gebeten, ihn zu fahren und auch eventuell wieder abzuholen. Von dem Abholen wusste keiner offiziell. Er hatte aber bisher auch keiner Übernachtung zugesagt.
Maria berichtete, dass sie nach der Realschule eine Ausbildung als Krankenschwester mache. Er habe sie inspiriert, sagte sie. Diese Stärke und Willenskraft, die er an den Tag gelegt hätte und ihn jetzt so stolz und gut organisiert zu sehen, würde sie freuen.
Maxi selbst kam sich vor wie ein anderer Mensch, nickte aber nur. Die Schmetterlinge im Bauch verflogen schnell, als beide sich unterhielten. Nachdem Maxi nichts Neues zu berichten hatte, außer eine Blindenschule besucht zu haben und derweil bei seiner Tante zu leben, verschwand Maria. Ihr war dieses Gespräch ebenso unangenehm wie ihm.
Eine kühle Brise zerzauste seine Haare und auch die stetige Warnung in seinem Kopf zusammen mit dem nervösen Magengrummeln ließen ihn nicht los. Er zog den Kragen höher, in der Hoffnung, er könne sich unter der dicken Herbstjacke verstecken.
Und als wäre das nicht genug, hörte er durch Zufall ein Gespräch mit, dass ihn erstarren ließ.