Noch ist Wassib Nazari handzahm. Aber ich weiß genau, dass er noch am Anfang seines Wahns steht und irgendwann übergriffig werden wird. Hoffentlich kann ich meine Zielperson bestmöglich schützen und sie vor körperlichen Übergriffen bewahren. Solche Erfahrungen sind nicht gerade förderlich. Psychisch ist das Ganze schon sehr belastend für sie – dabei ist im Endeffekt noch nichts dramatisches passiert. Dennoch ist ihre Welt vorhin im Büro mehr als erschüttert worden, was deutlich spürbar war. Mich machen solche Typen echt wütend. Ich bin kein Psychologe, aber man kann doch akzeptieren, wenn ein Mensch keine Beziehung mehr mit einem führen möchte. Irgendwas muss an den Synapsen derer geknallt haben und die gesunde und funktionierende Denkweise solch Psychopathen zerstört haben.
Prüfend schaue ich mich um und beobachte dann wie Rilana mir aus dem Bürokomplex folgt. Angespannt schaut sie sich in alle Richtungen um und umklammert ihre Handtasche, während sie neben mir her geht. In der Regel braucht sie sich keine Sorgen zu machen, denn selten agieren solche Psychopathen am helllichten Tag in einer belebten Gegend.
„Sind Sie mit dem Auto hier, Miss Myers?“
„Ich habe kein Auto, nein. Normalerweise gehe ich zu Fuß oder fahre mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.“
„Dann bringe ich Sie nach Hause“, entscheide ich.
„Aber Sie sind doch mit dem Motorrad hier? Und dann müssen Sie die ganze Strecke wieder zurück, um es zu holen“, erwidert sie mit einem Anflug mit schlechtem Gewissen.
„Das gehört zu meinem Job. Und es stellt kein Problem dar. Notfalls lasse ich mich mit einem Taxi zurückfahren.“
„Okay. Vielen Dank.“
Ein bisschen verwundert bin ich schon. Bisher haben sich meine Zielpersonen weniger Gedanken um mich, als um sich selbst gemacht. Ob und wie ich nach Hause gekommen bin, ist einerlei – Hauptsache, ich bin am darauffolgenden Tag wieder pünktlich im Einsatz. Den Gedanken beiseite wischend sondiere ich hinter meiner verspiegelten Sonnenbrille weiterhin die Umgebung und die Menschen. Meine Auftraggeberin hat mir vorab verschiedene Fotos von Wassib Nazari und ihrer Tochter zukommen lassen, damit ich ihn erkenne, wenn er vor uns steht.
_
„Wann verlassen Sie morgen früh das Haus?“, erkundige ich mich.
„Um sieben Uhr.“
„Dann hole ich Sie um sieben Uhr pünktlich ab. Sollte irgendetwas sein, melden Sie sich umgehend bei mir“, weise ich sie an und strecke meine Hand aus. „Ich benötige kurz Ihr Smartphone, um meine Nummer einzuspeichern, Miss Myers.“
„In Ordnung“, stimmt sie mir zu und fischt ihr Smartphone aus der Handtasche.
Entsperrt reicht sie es mir und ich tippe Namen und Telefonnummern ein. Danach gebe ich es ihr zurück und nicke ihr knapp zu.
„Bis morgen früh.“
„Ja. Bis morgen früh.“
Sie dreht sich zur Eingangstür um und schließt diese auf, um im Hausflur zu verschwinden. Nachdenklich schaue ich auf die nun geschlossene Tür und verlagere das Gewicht des Helms in die andere Hand, bevor ich die Umgebung mit den Augen noch einmal überprüfe. Uns ist niemand gefolgt und auch in der Nähe hält sich kein Nazari auf. Das Letzte was ich will: dass er weiß wo meine Zielperson sich derzeit aufhält. Wobei es sich nur um Tage handeln wird, bis er herausfindet das sie bei ihrer Freundin untergekommen ist. Bis dahin ist sie hier sicher. Ab Zeitpunkt des Bekanntwerdens muss ich sie anderweitig unterbringen. Aber darüber mache ich mir dann Gedanken.
Nachdem ich mir ein Taxi gerufen habe, lehne ich mich entspannt gegen die Hauswand neben der Eingangstür und warte auf den Fahrer. Ich werde weitere Informationen über den Stalker-Ex einholen und schauen das er sich meiner Zielperson nicht nähern wird. Da Rilana Myers humane Arbeitszeiten hat und augenscheinlich aktuell keine Freizeitbeschäftigungen ausführt, habe ich einen relativ entspannten Job. Sie selbst hat mir auf dem Weg hierher verraten, dass sie momentan keinen unnötigen Meter in der Öffentlichkeit macht, um nicht zufällig ihrem Ex in die Arme zu laufen. Ein kluges Köpfchen, wie mir scheint. Jedoch ist eine solche Einschränkung auch kein Dauerzustand. Sich durch die Stadt bewegen und sich ständig umsehen zu müssen ist keine Lebensqualität in meinen Augen.
Das Taxi fährt vor und ich steige auf der Beifahrerseite ein und schließe die Tür.
_
Mit einer dampfenden Tasse Kaffee drucke ich mir die eingeholten Informationen über Wassib Nazari aus und lege die Füße auf der Schreibtischplatte ab. Er ist der Sohn eines arabischen Scheichs und denkt ihm gehöre die ganze Welt. Zumindest wird das zwischen den Zeilen sehr deutlich. Meine Kontakte zu Privatermittlern und auch der Polizei helfen mir in meinen Aufträgen ungemein weiter. Abhörsichere Leitungen, doppelt gesichertes Mobilfunknetz, Akteneinsicht bis zu einem gewissen Grad und schnelles Eingreifen, wenn nötig. Der Sohn eines Scheichs also. Dann hat er hundertprozentig Kontakte in verschiedenen Teilen der Welt und genügend Geld, um sich diverse Aktionen leisten zu können. Und vermutlich mehr als eine Frau im Auge. In der Regel führen solche Männer ein ganzer Harem und zeugen zig Nachkommen mit ihnen.
Kopfschüttelnd lege ich die Unterlagen beiseite und nehme einen Schluck des schwarzen Goldes. Ob Rilana Myers bewusst ist, auf wen sie sich damals eingelassen hat? Wusste sie von Anfang an, wen sie sich da an Land gezogen hat? Oder ist ihr dieses erst im Verlauf der Beziehung bekannt geworden? Ich werde sie fragen müssen – diese Information konnte ihre Mutter mir nicht geben. Nazari ist sechsundzwanzig Jahre alt, geht keinem regulärem Beruf nach und scheint sich somit ganz auf Daddys Kohle auszuruhen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Er wohnt ebenfalls in Miami, aber Gott sei Dank weit genug von seiner Ex entfernt.
Gerade als ich meine Kaffeetasse spüle, klopft es zaghaft an der Tür und ich schaue verwundert über meine Schulter hinweg zur Eingangstür. Wer will denn nach zwanzig Uhr noch was von mir? Hoffentlich nicht meine Nachbarin Elena. Auf die Person habe ich grade überhaupt keine Lust muss ich zugeben. Ich möchte meine Ruhe vor ihr. Kein Interesse – nicht mein Typ. Überhaupt möchte ich von weiblichen Wesen auf sexuelle oder romantische Art nichts wissen. Ohne Frauen lebt es sich weitaus entspannter habe ich festgestellt.
Mit wenigen Schritten bin ich an der Tür und öffne sie mit einem fragenden Blick. Vor mir steht eine unbekannte junge Frau: brünett, braune Augen und ein wenig kurviger als die Frauen, welche üblicherweise in Miami herumlaufen. Sie trägt eine Brille und hat die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, während sie mich schüchtern anschaut.
„Mr. Moldovan?“, fragt sie zögerlich.
„Der bin ich, ja. Wie kann ich Ihnen helfen, Miss…?“
„Kapoor. Kirana Kapoor. Ich bin die jüngere Schwester von Rilana. Entschuldigen Sie bitte das ich um diese Uhrzeit noch störe, aber...“
„Ist etwas vorgefallen?“, unterbreche ich sie alarmiert.
„Ich… noch nicht. Aber ich denke, Sie sollten vielleicht eine Information bekommen, die Ihnen meine Schwester ganz sicher nicht verraten hat und… nun...“, druckst sie herum und ich ziehe meine Augenbraue hoch. „Meine Schwester hat noch einen Nebenjob, den sie ausübt, weil sie uns – unsere Mutter und mich – finanziell unterstützt. Ich studiere Kunst und kann mir die Gebühren allein nicht leisten. Unsere Mom ist krank und kann nicht mehr arbeiten gehen seit einigen Jahren. Deshalb arbeitet sie in zwei Jobs.“
Ich knurre innerlich. Das darf jetzt echt nicht wahr sein. Warum wird mir dieses wichtige Detail von niemandem mitgeteilt? Da meine Zielperson sich bis zum späten Nachmittag im Büro aufhält, kann es sich bei dem Nebenjob lediglich um eine Tätigkeit handeln, welche abends oder am Wochenende ausgeführt wird. Mir schwant böses und blicke die kleine Schwester direkt an.
„Was für einer Nebentätigkeit übt Ihre Schwester aus?“, verlange ich zu wissen.
Sie schluckt nervös und knetet ihre Finger mit deutlichem Unwohlsein, während sie meinem Blick ausweicht.
„Soviel ich weiß, arbeitet sie in einer Tanzbar. Ich kann Ihnen allerdings nicht genau sagen welche Position sie dort inne hat. Das hat sie mir nie verraten. Und… ich habe eher zufällig heraus bekommen, dass sie noch einen weiteren Job hat und wo sie arbeitet. Durch eine Studienkollegin, welche Rilana auf einem Foto auf meinem Handy gesehen hat.“
„In einer Tanzbar.“
„In einer Tanzbar, ja. Ich kann Ihnen die Adresse geben?“, wiederholt sie leise und bietet mir ihre Hilfe an. „Sie müsste heute Dienst haben, soweit meine Informationen reichen.“
„Auch das noch. In Ordnung. Kommen Sie rein, ich gebe Ihnen etwas zum Notieren und ziehe mich rasch um. Sollte sie wirklich in der Bar sein, muss ich sicherstellen, dass sie von ihrem Ex-Freund nicht belästigt wird. Ich nehme an, dieser weiß nichts von dem Job?“
Ich öffne die Tür vollständig und bitte sie mit einer Handbewegung in mein Haus, damit ich die Tür hinter uns schließen kann. Danach folgt sie mir in die offene Küche und setzt sich auf meine Aufforderung hin auf einen der Barhocker an den Tresen. Innerlich fluchend lege ich ihr einen Notizblock nebst Kugelschreiber vor die Nase und schaue sie erwartungsvoll an.
„Ich denke nicht, nein. Sonst würde sie diesen Job nicht mehr ausführen. Immerhin hat sie sich auch keine eigene Wohnung gemietet, sondern ist bei Sarah eingezogen übergangsweise. Sie wollte nicht allein sein und hat Angst von Wassib allein erwischt zu werden. Er kann… sehr bestimmend sein in seiner Art und Weise. Ich mochte ihn noch nie – aber das hat Rilana leider nie interessiert. Dieser Kerl ist schmierig und arrogant. Denkt, er könne mit seinem Geld alles erkaufen und hat auch mein Studium bis zur Trennung gezahlt, damit er Ri unter seiner Kontrolle hält“, erzählt sie mir niedergeschlagen und schreibt mir den Namen und die Adresse besagter Bar auf.
„Verstehe. Emotionale Erpressung also. Vielen Dank, dass sie mir die Information gegeben haben. Vermutlich helfen Sie Ihrer Schwester damit mehr als Sie annehmen. Ich gehe mich umziehen und fahre Sie heim, bevor ich in die Bar fahre.“
Nach diesen Worten verlasse ich meine Küche und begebe mich in die obere Etage, in der sich unter anderem auch mein Schlafzimmer befindet. Shorts, Shirt und Sandalen werden gegen meine übliche Kluft gewechselt und ich ziehe mir die Lederjacke über, dabei die Treppe ins Erdgeschoss nehmend. Ich greife meine Schlüssel und bedeute Miss Kapoor mir zu folgen.
„Wo wohnen Sie?“, hake ich nach während wir in meinen schwarzen Camaro ZL1 steigen.
Sie lotst mich durch die Straßen und ich ärgere mich innerlich noch immer über diese unterschlagene Information seitens meiner Zielperson. Ist ihr der Nebenjob unangenehm? Oder hat sie mir aus anderen Gründen verschwiegen, das sie noch einen weiteren Job hat? Wie soll ich sie schützen, wenn sie mir solch essenzielle Dinge nicht erzählt? Und warum muss ihre kleine Schwester nachts den Personenschützer aufsuchen und ihm die Mitteilung überbringen?
„Unsere Mom weiß nichts von dem Zweitjob meiner Schwester, Mr. Moldovan. Sonst hätte Sie ihnen davon berichtet. Sie hat mir beim Abendessen erzählt Sie engagiert zu haben. Und das Wassib penetrant versucht Ri zurück zu ‚erobern‘. Da ich meine Schwester sehr gut kenne war mir klar, dass sie Ihnen von dem Job in der Bar nichts erzählen wird“, durchbricht Kirana Kapoor die Stille im Cockpit des Wagens leise. „Nehmen Sie es Rilana bitte nicht übel. Sie kümmert sich um uns und hat es sicher nicht mit böswilliger Absicht getan.“
„Mhm. Wir werden sehen, ob das Verschweigen Konsequenzen hat. Was ich natürlich nicht hoffe. Es ist auf jeden Fall gut, dass Sie zu mir gekommen und mir diese Information gegeben haben.“
Ich halte in dem Wohngebiet, welches ziemlich heruntergekommen aussieht und stöhne innerlich auf. Mein Magen zieht sich unwillkürlich zusammen, denn in dieser Gegend würde ich nicht einmal meinen Hund – hätte ich einen – begraben.
„Vielen Dank fürs nach Hause bringen, Mr. Moldovan. Ich wohne direkt im Hauseingang gegenüber. Den Rest schaffe ich allein. Grüßen Sie Ri von mir, ja?“, lächelt sie mich an und öffnet die Beifahrertür.
„Das mache ich. Sollte Ihnen sonst etwas auffallen, melden Sie sich jederzeit bei mir“, biete ich ihr an und reiche ihr meine Visitenkarte, welche ich aus der Mittelkonsole nehme. „Ich werde mich umgehend in die Bar begeben und schauen ob alles in Ordnung ist“, versichere ich ihr Ernst und sie schließt die Tür.
Nachdem sie im Hauseingang verschwunden ist, gebe ich Gas und fahre aus der schäbigen Wohngegend heraus damit ich meiner Zielperson die Leviten lesen kann.