Oh Gott – ich befinde mich bei meinem Bodyguard im Haus. Mitten am Stand. Und das Haus ist atemberaubend! Aus Holz, eine riesige Terrasse, zwei Etagen, eine wundervolle Küche – spartanisch, aber funktional: Geschirrspüler, Kaffeevollautomat, Mikrowelle. Aber er scheint sein Geschirr eher mit der Hand zu spülen, wenn ich mir die Ablage neben der Spüle anschaue. Dort findet sich eine Kaffeetasse, welche umgedreht dort abgestellt wurde. Das internationale Zeichen für ‚ich spüle händisch‘. Schmunzelnd stehe ich am Barhocker, mit einer Hand auf dem kühlen Lederpolster, um mich weiter umzuschauen. Die Küche ist offen, vereinzelnd hängen Bilder an den Wänden. Menschen sind dort nicht abgebildet, sondern Tiere in der freien Natur, Seen und Wasserfälle. Calin scheint naturverbunden zu sein, denke ich mir überrascht.
Meinen Rucksack hat Calin sich geschnappt und mir erklärt, dass er oben das Gästezimmer fertig macht und meine Sachen dort unterbringt, während ich mich gern umschauen und mir etwas zu trinken nehmen kann. Kurz hatte er mir gezeigt, wo ich Gläser, Tassen und alles andere finde, was ich benötige. Durst habe ich aktuell aber keinen, weswegen ich die Tür zur Terrasse öffne und hinaustrete, um mich an die Balustrade zu lehnen und die angenehme Meeresbrise zu genießen, die mir ins Gesicht weht. Hier zu leben ist ein wahr gewordener Traum und ich stelle fest, dass ich Calin ein wenig beneide. In meinem kleinen Abstellzimmer bei May habe ich mich zwar irgendwie wohlgefühlt, aber es ist nichts gegen das Gefühl welches mich hier durchflutet. Irgendwann möchte ich auch in so einem Haus am Strand leben und jeden Morgen dem Rauschen der Wellen zuhören, während ich den neuen Tag lächelnd und mit innerem Frieden begrüße. Ja, ich bin eine verkappte Romantikerin – ich gebe es zu.
Immer wieder streiche ich mir meine im Wind flatternden Haare aus dem Gesicht und atme tief die salzige, warme Luft in meine Lungen. Den Blick lasse ich über die Wasseroberfläche wandern und betrachte den ein oder anderen Strandbesucher, der durchs Wasser watet und dann in den Wellen verschwindet. Wenn es nach mir geht, würde ich ewig hier stehen bleiben und die Menschen beobachten.
„Hier sind Sie“, höre ich Calin hinter mir leise brummen und drehe mich zu ihm um.
Mit der Schulter lehnt er lässig an der Türzarge, die Fußknöchel überkreuzt und schaut mich mit einem undurchsichtigen Blick an, wobei er die Arme wie so oft vor der Brust verschränkt hat. Mir fällt direkt auf das er sein übliches Outfit gewechselt hat und nun ein langärmliges Otis Leinenhemd in schwarz trägt, welches nachlässig zum Teil in der hellen Jeans geschoben wurde. Die oberen Knöpfe sind zum Teil nicht geschlossen, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgeschoben und seine gebräunte, glatte Haut seiner Brust springt mich geradezu an. Holy hell, er ist ein Bild von einem Mann. Seine Füße stecken in hellbraunen Sandalen und ich kann sehen, dass er von oben bis unten gepflegt ist. Innerlich seufze ich hingerissen und wende meine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gesicht. Sein linker Mundwinkel zuckt verdächtig und ich lasse meinen Blick zu seinen blauen Augen zucken. Diese blitzen mich amüsiert an. Er hat bemerkt, dass ich ihn anstarre. Wie peinlich! Aber: er lässt eine Gefühlsregung sehen; auch wenn es kein wirkliches Lächeln ist, welches ich unbedingt herauskitzeln möchte.
„Zufrieden mit dem was Sie sehen?“
„Ähm…“, beginne ich meine Antwort und weiß ehrlich gesagt nicht was ich sagen soll. „ Es überrascht mich nur ein wenig, Sie in anderer Kleidung als regulär zu sehen.“
„Aktuell befinde ich mich mehr oder weniger außer Dienst. Zumindest laufe ich Zuhause selten in Arbeitskleidung herum. Ein wenig Normalität sollte man sich ab und an gönnen“, erwidert er amüsiert und stößt sich leicht von der Türzarge ab, um neben mich an die Balustrade zu treten und mit der Hüfte anzulehnen.
„Ein wundervoller Ausblick. Ich würde jeden Morgen hier sitzen und den neuen Tag freudig begrüßen.“
„Das tue ich. Ob freudig, ist zwar immer so eine Sache – aber doch. Man findet mich jeden Morgen hier. Es sei denn, ich befinde mich jobtechnisch nicht vor Ort.“
„Kommt das oft vor?“, möchte ich interessiert wissen und schaue ihn aufmerksam an.
„Nicht wirklich. In der Regel bin ich in der Näheren Umgebung unterwegs und abends wieder Zuhause. Vor einiger Zeit habe ich mich für ein paar Monate in Irland aufgehalten“, erwidert er und zuckt leicht mit der rechten Schulter. „Von dort habe ich Fiona mitgebracht.“
„Oh. Sie lebt noch gar nicht so lang hier?“
„Nein. Gebürtig stammt sie tatsächlich aus Irland und hat dort auch bis vor einiger Zeit gelebt. Sie hatte einige Probleme und ich habe sie hier her begleitet. Aber das wird sie sicherlich erzählen, wenn Sie sie danach bei passender Gelegenheit fragen.“
Warum sollte ich sie danach fragen? Oder will er mir damit unterschwellig mitteilen das wir eine ähnliche Geschichte haben die uns verbindet? Dieser Mann ist wirklich ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Eine klare Aussage bekomme ich nur auf den Auftrag bezogen, ansonsten hält der Kerl sich bedeckt und äußert sich zu diversen Themen nur oberflächlich. Das reizt mich um so mehr, stelle ich belustigt fest. Mein Kampfgeist ist geweckt und ich nehme die Herausforderung erneut an. Ein Zucken um den Mund und ein Funkeln in den Augen habe ich bereits als erste Belohnung erhalten – da geht eindeutig noch mehr.
„Kann ich mir mein vorläufiges Zimmer anschauen? Nicht das ich neugierig wäre.“
„Sicher.“
Calin begibt sich ins Haus und ich folge ihm, die Tür hinter mir zuziehend, die Treppe hoch und schaue mich dabei immer wieder interessiert um. Der Boden ist scheinbar komplett mit Parkett ausgelegt. Diese sind etwas dunkler im Braunton und sehen aus wie Schiffsplanken. Interessanter Einrichtungsgeschmack. Gefällt mir jedoch sehr. Hier und da liegen bunte pastellfarbene Flickenteppiche, was mich heimlich grinsen lässt. Eigentlich hatte ich eher mit schwarzen Totenkopf-Teppichen gerechnet, als mit bunten, scheinbar handgeknüpften Teppichen. Die obere Etage hat einen langen, hellen Flur von dem links und rechts einige Türen in weitere Räumlichkeiten führen.
„Linksseitig liegt mein Schlafzimmer, nebst Bad, geradeaus zu befindet sich ein Gästebad. Rechtsseitig ist das Gästezimmer und die letzte Tür ist ein Vorratsraum“, erklärt er mir und deutet nach und nach auf die einzelnen Türen. „Im Vorratsraum befindet sich alles, was man so brauchen kann und für das man nicht extra noch einmal los möchte.“
„Okay. Das kann ich mir merken, denke ich. Unten finde ich vermutlich neben der Küche noch das Wohnzimmer?“
„Korrekt. Im Keller habe ich einen Trainingsraum eingerichtet. Dieser steht zur Nutzung frei zur Verfügung“, wendet er sich an mich und deutet die Treppe nach unten.
„Hier gibt es einen Keller?“, bin ich überrascht. „Das funktioniert?“
„Ich kenne einen fähigen Architekten.“
Gemeinsam begeben wir uns wieder in das untere Geschoss und er zeigt mir die Tür, welche ich unter der Treppe überhaupt nicht wahrgenommen habe.
„Diese Tür führt in den Keller, welcher voll ausgebaut ist. Trainingsbereich, Sauna, Pool und ein Schutzraum“, führt er aus und öffnet die Tür, um die Treppe herunterzusteigen.
„Schutzraum?“, wiederhole ich irritiert.
„Feuerfest, mit eigener Sauerstoffzufuhr für den Notfall. Der Personenschutz ist nicht immer ungefährlich. Sollte ich wider Erwarten nicht zugegen sein, finden Sie dort Schutz, sollte Gefahr drohen.“
Eine Gänsehaut läuft mir unangenehm über die Haut und ich reibe mir kurz über die Arme, ihm dabei die Treppenstufen herab folgend. Ich hoffe, er wird niemals abwesend sein. Aus mehreren Gründen: ich möchte nicht allein in einen Schutzraum, in einer Gefahr will ich nicht schweben und ich genieße seine Nähe – auch, wenn er nicht gerade der geselligste Typ ist. Aber das werde ich ihm sicher nicht aufs Brot schmieren.
Der Trainingsbereich ist großzügig eingerichtet und man findet alles an Geräten, welche für die allgemeine Fitness wichtig sind. Das Laufband werde ich auf jeden Fall auch hin und wieder nutzen, denke ich erfreut. Dann brauche ich ihn nicht zu fragen, ob er Frühs um sechs mit mir Joggen gehen will. Ein bisschen Erholung gönne ich ihm dann doch. Schließlich bin ich vorübergehend bei ihm untergekommen und gehe ihm damit wahrscheinlich schon genug auf den Zeiger. Mir ist das mehr als unangenehm in seine Privatsphäre einzudringen und ich seufze innerlich tief.
Die Sauna kann ich von hier erkennen und nicht weit davon entfernt befindet sich eine dicke stählerne Tür mit einem riesigen Hebel, zum Öffnen und Schließen des Raums. Es sieht aus, als würde man dafür einiges an Kraft benutzen. Calin muss meinen zweifelnden Gesichtsausdruck gesehen haben und deutet auf den Mechanismus als er an der Tür angekommen ist.
„Leichtgängig wie eine normale Tür“, fordert er mich auf und tippt mit dem Zeigefinger kurz auf das Metall. „ Versuchen Sie es.“
Skeptisch trete ich neben ihn und lege meine Hände um den Griff. Nennt man das bei einem solchen Mechanismus überhaupt so? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Leise brumme ich, denn ich muss mich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, damit ich richtig ran komme, um es überhaupt versuchen zu können. Neben mir zieht Calin die Augenbrauen hoch und beobachtet mich dabei interessiert. In diesem Augenblick bin ich ganz froh, dass er nicht dazu neigt zu grinsen, oder gar zu lachen. Meine Größe ist mir des Öfteren ein Dorn im Auge. Gerade jetzt wünsche ich mir deutlich größer zu sein. Mit einem leichten Ruck gibt die Tür ein metallisch klingendes Geräusch von sich und ich gehe einige Schritte rückwärts, den Griff dabei loslassend. Ohne Schwierigkeiten gleitet die Tür auf und ich beuge mich ein Stück vor, um in den Raum zu schauen.
„Das ging wirklich überraschend einfach“, stelle ich verblüfft fest und sehe ihn dann über meine rechte Schulter hinweg an. „Und von innen funktioniert das genau so?“
„Richtig. Im Normalfall funktioniert das Öffnen und Schließen von innen heraus per Schalter. Sollte der Hauptstrom ausfallen, nutzt man den Hebel innen. Die Belüftung läuft über einen extra gesicherten Notstrom, der einiges Aushält. Es könnte quasi ein Krieg ausbrechen und hier ist man sicher wie im Fort Knox“, führt er aus und betritt den Raum mit ein paar erklärenden Handbewegungen. „Man hat ein Bett, einen kleinen Sanitärbereich der separat integriert ist, einen Kühlschrank und einen kleinen Vorratsbereich. Man würde theoretisch ein paar Wochen über die Runden kommen, sollte man hier wider Erwarten festsitzen.“
„Theoretisch? Und in der Praxis?“
„Gut aufgepasst. Es gibt einen Fluchtweg.“
Einen Fluchtweg? Der Mann hat wirklich an alles gedacht. Gibt es eigentlich ein Gebiet auf dem er nicht gut ist? Vielleicht finde ich das raus – hoffentlich aber auch nicht. Einen Schwachpunkt wird auch er besitzen, vermute ich. Dennoch möchte ich diesen nicht kennen. Sonst würde ich Angst bekommen, dass man genau diesen Schwachpunkt ausfindig macht und gegen ihn verwendet. Nein, er ist ganz einfach perfekt in meinen Augen. Obwohl… ein leichtes Manko zu finden, würde ihn menschlicher machen. Aktuell kommt er mir vor wie ein Halbgott. Unverwundbar und klug.