Als ich gesehen habe, wie Nazari Rilana bedrängt hat, wäre mir fast eine Sicherung durchgebrannt. Da ich diesen Widerling jedoch schnellstens loswerden und mich um sie kümmern wollte, habe ich mich zusammengerissen und ihn nur in den Schwitzkasten genommen, anstatt ihn zu Brei zu verarbeiten. Ich verwette alles drauf, dass er sie sogar vergewaltigt hätte, wenn ich nicht dazugestoßen wäre, um dieses zu verhindern. Solche Typen schrecken vor nichts zurück, wenn sie etwas – oder jemanden – besitzen wollen.
Mein Informant bei den Cops hat mich bereits in Kenntnis gesetzt, dass man Nazari gegen Kaution freigelassen hat, auch weil nichts weiter passiert ist, da ich rechtzeitig in den Übergriff rein geplatzt bin. So wird Rilana weiterhin auf seinem Radar stehen, mit höherer Priorität als sowieso schon, denn er hat gemerkt, dass sie beschützt wird. Ihm wird noch nicht klar sein, dass ich engagiert wurde und ein Personenschützer bin, aber das ist nur eine Frage der Zeit und mir vollkommen bewusst. Vorbereitet bin ich darauf. Auch habe ich ein paar Telefonate geführt und nun hat Rilana eine Beurlaubung. Arbeiten gehen ist in diesem Moment nicht das Gelbe vom Ei. Nachdem ich diese Tatsache mit Rilana besprochen habe, hat sie nur zögerlich genickt, in Gedanken sicherlich alle finanziellen Einbußen berechnend, falls die Beurlaubung ausläuft und sie unbezahlten Urlaub nehmen muss. Ihre Frage an mich ist direkt gewesen, ob sie ihren Nebenjob vorerst weiter ausüben würde können, was ich bejaht habe.
Das Smartphone lege ich auf die Küchenanrichte, während ich daran vorbei gehe, um auf die Terrasse zu treten, auf der Rilana sich aktuell aufhält. In der Hand hält sie mein Tablet, auf dem sie ein eBook zu lesen scheint, vollkommen versunken in die Welt der Fantasie. Innerlich seufzend lasse ich mich auf einen der Korbsessel sinken und schlage die ausgestreckten Beine übereinander, während ich die Unterarme auf den Lehnen ablege. Heute ist es nicht ganz so warm und eine angenehme Brise geht, die einen im Schatten fast schon frösteln lässt, weswegen Rilana sich eine leichte Decke über die Beine gelegt hat, welche sie bis über den Bauch gezogen hat. Sie trägt einen cremefarbenen dünnen Pullover, dessen Ärmel sie bis zu den Ellenbogen hochgeschoben hat und ihre Haare sind seitlich über die linke Schulter nach vorn drapiert. Bisher scheint sie mich noch gar nicht registriert zu haben und ich schmunzle. Meine kleine Schwester war zu Lebzeiten ein echter Bücherwurm und hätte nicht einmal mitbekommen, wenn man sie samt Sofa weggetragen hätte.
Innerlich seufzend lege ich meinen Kopf in den Nacken und schließe meine Augen, um dem Wellenrauschen und den Vögeln zuzuhören, dabei die Ruhe genießend. Vielleicht sollte ich das einfach öfter machen. Morgens befinde ich mich immer hier draußen, tagsüber jedoch nicht so oft. Dabei kann man hier unglaublich gut entspannen und die Seele baumeln lassen. Vielleicht werde ich langsam alt und brauche das.
„Calin?“, reißt mich Rilanas unsichere Stimme aus meinen Gedanken und ich öffne meine Augen.
„Hm“, brumme ich leise und wende ihr mein Gesicht fragend zu.
„Wärst du sehr sauer, wenn ich dir gestehe, dass ich dir einen Anruf von meinem Ex verschwiegen habe?“
„Du hast was?“ frage ich und setze mich abrupt aufrecht hin „Wann kam dieser Anruf und wieso hast du mir nichts erzählt?“
„Vorgestern, bevor ich zu dir in den Keller gekommen bin, um dir eine Flasche Wasser zu bringen. Er hat wieder mit unterdrückter Rufnummer angerufen und mir erzählt, dass er immer das bekommt was er will und er nicht locker lassen würde. Also an und für sich nichts neues...“, erwidert sie kleinlaut und kaut nervös auf ihrer vollen Unterlippe herum.
„Und warum genau hast du mir das verschwiegen?“
„Weil es nichts war, was wir nicht schon gewusst haben. Ich habe es unter ‚unwichtig‘ abgehakt und es dann irgendwie auch vergessen… oder verdrängt. Aber nicht absichtlich eigentlich.“
„Alles kann wichtig sein, Rilana. Er ist immerhin einen Tag später bei dir auf Arbeit aufgetaucht und hat dich bedrängt“, knurre ich und versuche meinen Zorn herunterzuschlucken, denn ich bin ich nicht auf sie, sondern ihren Ex wütend.
„Es tut mir wirklich leid, Calin. Zukünftig werde ich dir alles mitteilen“ verspricht sie mir und seufzt dann leise. „Und eigentlich...“
Ich hebe fragend eine Augenbraue, weil sie den Satz abbricht und die Decke zur Seite schlägt, wobei sie das Tablet neben sich auf der Liege ablegt, um dann aufzustehen und zu mir zu treten. Nach einem Griff in die Hosentasche ihrer Jeans hält sie mir ihr Smartphone entgegen und ich runzle irritiert meine Stirn, weil ich nicht weiß, warum sie es mir entgegenhält.
„Du kannst es nehmen. Ich habe meine Mum und meine Schwester informiert, dass ich über dich erreichbar bin und dir mein Smartphone aushändige, damit Wassib nicht mich, sondern dich erreicht, sollte er es erneut versuchen. Dann kann ich nichts falsch interpretieren, oder vergessen dir zu erzählen.“
Ob sie weiß, was das für ein Vertrauensbeweis mir gegenüber ist? Ich nehme ihr das Gerät ab und nicke knapp, bevor ich es in der Tasche meiner Shorts verschwinden lasse.
„Wenn das für dich in Ordnung ist, handhaben wir es gern so. Vielleicht kommst du dann ein wenig zur Ruhe“, erwidere ich und sie lächelt mich erleichtert an. „Ich bin dir nicht böse, falls du das denkst. Höchstens zornig auf Menschen wie Nazari. Ich werde heute Abend jemanden aus meiner Firma aufs Sofa setzen, weil ich noch einige Dinge erledigen muss. Allein lassen will ich dich in keinem Fall. Nazari weiß zwar nicht wo du dich derzeit aufhältst, aber ich will nichts riskieren.“
„Und ich kann nicht mit?“
„Ich bin mindestens die halbe Nacht unterwegs. Ein wenig Schlaf solltest du schon noch bekommen. Mein Körper ist mehrere Nächte ohne Schlaf gewöhnt“, zwinkere ich ihr zu und lehne mich wieder zurück. „Jared und Channing werden sich ins Wohnzimmer setzen und dir Gesellschaft leisten, bis du zu Bett gehst. Oder einfach nur anwesend sein – ganz wie es dir lieb ist. Sie kommen in einer Stunde und dann mache ich euch miteinander bekannt. Sie sind ganz umgänglich.“
„Gut… Ich gehe eine Runde aufs Laufband und danach duschen. Das sollte ich in einer Stunde hinbekommen.“
Eine Stunde später lasse ich meine beiden Mitarbeiter in mein Haus und biete ihnen was zu trinken an, während wir auf Rilana warten, welche aktuell unter die Dusche gesprungen ist. Vermutlich hat sie sich ausgepowert, um nicht allzu lang in der Nähe von den Jungs sein zu müssen, die sie noch gar nicht kennt, was ich durchaus verstehen kann. Nach dem Übergriff von ihrem Ex wird sie fremden Männern mit Vorsicht gegenübertreten.
„Hi“, grüßt sie Jared und Channing leicht lächelnd, als sie die Küche betritt und stellt sich neben mich hinter die Küchentheke.
Beide nicken ihr freundlich zu und ich werfe einen kurzen aber prüfenden Blick auf Rilana.
„Das sind Jared und Channing, zwei meiner Mitarbeiter. Sie sind kampftechnisch voll ausgebildet und werden ein Auge auf dich und die Umgebung haben, so lang ich unterwegs bin. Sollte irgendwas dringliches sein, was durch sie nicht geregelt werden kann, bin ich natürlich telefonisch jederzeit erreichbar“, informiere ich sie und lege ein Smartphone auf den Tresen vor ihr. „Das ist ein Gerät, welches auf meinen Namen läuft. Meine Nummer habe ich abgespeichert, ebenso die Nummern von Jared und Channing.“
Überrascht schaut sie mich an und ich verkneife mir ein Grinsen, weil sie aussieht wie ein Reh im Fernlicht, mitten auf einer abgelegenen Straße tief im Wald.
„Nazari wird sich nach weiteren Nummern erkundigen. Da die SIM-Karten auf deinen Namen laufen, war es ihm bislang schnell und ohne Mühe gelungen an deine Telefonnummern zu kommen. Auf meinen Namen wird er so schnell nicht stoßen. Und auch nicht auf die Tatsache, dass ich dir eine dieser Nummern zur Verfügung gestellt habe.“
„Oh. Das klingt schlüssig, ja. Vielen Dank.“
„Wann genau ich wieder hier sein werde, weiß ich noch nicht. Es gibt allerdings einiges zu regeln und diese Dinge erfordern zwingend meine Anwesenheit. Bis ich wieder zurück bin, werden die Zwei hier die Stellung halten.“
„Korrekt“, bestätigt Channing knapp und nickt bekräftigend dazu.
Ich verabschiede mich von dem Trio nachdem ich mich in meine Bikerkluft geschwungen und mir meinen Helm samt Handschuhe geschnappt habe, um dann auf meiner Harley in die anbrechende Dämmerung zu fahren. Das wird eine ordentliche Tour auf die ich richtig Lust habe, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Wobei ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend habe – nicht das ich meinen Männern nicht vertraue, aber ich würde lieber gern selbst zugegen sein.