Bereits nach vier Stunden Schlaf bin ich wieder auf den Beinen und trinke meinen Kaffee, dabei nachdenklich in der Fallakte von Rilana blätternd. Hier und da habe ich einige Anmerkungen notiert, da durch die Unterhaltungen mit ihr einige Informationen hinzugekommen sind. Nichts weltbewegendes, aber manchmal sind es die winzigen und unscheinbaren Details welche fehlen und das Rätsel lösen. Lieber eine unwichtige Information zu viel, als das sie einem später das Genick bricht. Als mein Smartphone auf dem Tisch neben den Unterlagen vibriert schaue ich auf das Display.
Duncan: Hey Cal. Ich hab mal eine kurze Frage bezüglich Rilana, wenn es okay ist.
Verwundert runzle ich die Stirn. Eine Frage zu Rilana? Aus welchem Grund?
Ich: Dunc. Was für eine Frage?
Duncan: Hat Rilana aktuell einen Freund?
Was zur Hölle? Weshalb will er ihren Beziehungsstatus wissen? Er weiß, dass ihr Ex sie stalkt und das ich ihr Bodyguard bin – jedoch keine weiteren Details. Bisher hatte ihn das allerdings auch noch nie interessiert.
Ich: Frag sie doch selbst?
Duncan: Sie hat einen mehr als nervigen Ex-Kerl… Da will ich mit so einer Frage nicht unbedingt mit der Tür ins Haus fallen, Kumpel. Du solltest den Status X doch aber kennen, richtig?
Ich: Sicher. Aber mir steht es nicht zu, dir irgendwelche Informationen über sie zu geben. Es ist schon Grauzone genug das du überhaupt etwas zu diesem Auftrag weißt.
Duncan: Come on, Cal! Bitte – nur diese kleine Information!
Ich: Sorry, man. Keine Chance.
Damit lege ich mein Smartphone wieder auf den Tisch und lehne mich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Mir passt nicht, dass er sich tiefer gehend für Rilana zu interessieren scheint. Sonst hat er auch keinerlei Interesse für Personen aus meinem Personenschutzkreis. Warum plötzlich jetzt? In Gedanken vertieft starre ich auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand und seufze dann tief. Mein inneres Gefühl sagt mir, dass es hier noch Ärger geben wird. Duncan ist ein Aufreißer, der nichts festes sucht. Wenn, dann für ein, bis maximal zwei Nächte. Rilana ist in meinen Augen nicht der Typ Frau für solch lockere Bettgeschichten. Vermutlich will sie von der Männerwelt aktuell so oder so nichts wissen, was in Richtung ONS oder Beziehungen geht. Zumindest gehe ich stark davon aus.
In Gedanken vertieft schrecke ich fast schon zusammen als mein Smartphone klingelt. Ohne auf das Display zu schauen schnappe ich es mir und nehme den Anruf entgegen.
„Moldovan.“
„C-Calin?“, höre ich eine zittrige Stimme am anderen Ende und erstarre kurz.
„Miss Myers? Ist etwas passiert?“, bin ich sofort alarmiert.
„Können… können Sie herkommen?“
„Sind Sie Zuhause? Haben Sie Verletzungen?“
„Zuhause… ja. Nein... nein… unverletzt“, stammelt sie zusammenhanglos und ich bin bereits auf den Weg zu meiner Harley, um mich schnellst möglichst fortbewegen zu können.
„Bin in 10 Minuten da“, gebe ich Auskunft und lege auf.
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Wie der Henker bin ich durch die Straßen gefahren und habe jegliche Verkehrsregeln außer acht gelassen, damit ich auf direktem Weg bei Rilana ankomme. Kaum habe ich den Killschalter umgelegt, springe ich von meinem Bike und hänge den Helm achtlos an den Lenker. Während ich an der Tür schelle, gehe ich im Kopf alle möglichen Situationen durch in der sie gerade stecken könnte. Da sie sagte das sie unverletzt ist, hoffe ich das es sich um eine ungefährliche Möglichkeit handelt. Der Türsummer ertönt und ich drücke die Haustür auf, um die Stufen bis zu dem Apartment ihrer Freundin hoch zu laufen. An der Tür angekommen verziehe ich das Gesicht. Das helle Holz ist blutverschmiert – eine kopflose Ratte hängt mit einem Messer festgenagelt am Türblatt. Wirklich nicht gerade appetitlich, muss ich gestehen.
Jetzt öffnet sich die besudelte Tür zögerlich und Rilana tritt einige Schritte in die Wohnung zurück, den Kopf dabei von dem Blutbad abgewandt. Sie ist weiß wie eine mit Alpina gestrichene Wand und zittert wie Espenlaub. Mit entschlossenen Schritten betrete ich den Eingangsbereich und schließe die Tür hinter mir, damit der Geruch ausgesperrt wird. Appetitlich ist der nämlich ganz und gar nicht – das muss selbst ich zugeben. Sie schlingt ihre Arme um ihren Oberkörper und ich sehe wie sie schluckt.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundige ich mich bei ihr und schaue prüfend an ihrem Körper entlang.
Ein knappes Nicken signalisiert mir das sie unverletzt ist. Einen Schock wird sie dennoch haben, vermute ich innerlich seufzend. Also wird Nazari sie gefunden haben. Das es dazu kommen wird, habe ich bereits gewusst. Nun war sie hier vor seinen möglichen Übergriffen nicht mehr sicher.
Verflucht.
Entschlossen trete ich noch näher an sie heran und lege behutsam eine Hand auf ihre Schulter, damit sie mich anschaut und ihre volle Aufmerksamkeit bekomme.
„Packen Sie ein paar Sachen ein, hier können sie aktuell nicht mehr bleiben.“
Mit großen Augen schaut sie mich irritiert an und ich sehe, dass Tränen in ihnen schwimmen. Sie blinzelt kurz und seufzt dann leise.
„War… war das Wassib?“
„Die Vermutung liegt nahe. Sie oder Ihre Freundin haben sicherlich keine Feinde?“
„Nein… Nicht das ich wüsste, zumindest.“
Resigniert reibt sie sich über ihre Oberarme und dreht sich dann in Richtung der Zimmertür hinter sich, um sie zu öffnen. Die Wohnung besteht aus einem Eingangs- und Wohnbereich, einer offenen Küche und einem Bad. Und hinter der besagten Tür scheint es noch einen Raum zu geben, in dem Rilana ihre persönlichen Sachen verstaut. Sie betritt den Raum und ich folge ihr bis zum Türrahmen, um dann in den Schuhkarton von einem Zimmer zu starren. Hier lebt sie derzeit? Man konnte sich in der Mitte des Raums stehend einmal drehen und hat dann alles gesehen. Zum Schlafen mag es ausreichen, aber… Himmel. Mit Mühe unterdrücke ich ein Grollen, da sie in diese Wohnsituation quasi gedrängt wurde. Dieser Nazari kann sich warm anziehen, sollte er mir jemals zwischen die Finger kommen.
„Ich entferne die Sauerei an der Tür. Gibt es in der Küche schwarze Säcke oder irgendein Behältnis, was ich dafür nutzen könnte?“
„Ja. In der linken Schublade befindet sich eine Rolle mit solchen Säcken“, erwidert sie und packt bereits einige Kleidungsstücke in einen großen Rucksack.
Mit schnellen Schritten begebe ich mich zur besagten Schublade und nehme einen der Müllsäcke, dabei schnappe ich mir einen Schwamm und fülle den Eimer mit Wasser, den ich unter der Spüle finde. Der Kerl scheint vollkommen geisteskrank zu sein, aber vermutlich hat er diese Sauerei nicht selbst fabriziert, sondern jemanden dafür angeheuert. Um seiner Ex-Freundin Angst zu machen. Damit sie wieder zu ihm zurückkehrt, weil sie es psychisch nicht aushält. Stattdessen hat sie mich kontaktiert und um Hilfe gebeten. Er scheint von mir noch nichts zu wissen, sonst hätte er diesen Schritt nicht gemacht. Er hätte gewusst, dass sie mich alarmiert und sie nicht wieder zu ihm kommen wird wie nun erwartet. Hätte ich nicht den Personenschutz übernommen, hätte sie niemanden mehr zu dem sie gehen könnte. Ihre Familie wird sie niemals in Gefahr bringen und hält sich deshalb von ihnen fern.
Während ich überlege, wo ich sie nun unterbringe, habe ich die Spuren dieser widerlichen Tat entfernt und verknote gerade den Müllsack, als Rilana mit dem Rucksack in der Hand in den Wohnbereich tritt. Sie hat ihre kurze Hose gegen eine dunkelblaue Leggins getauscht und über das schwarze Top eine Tunika geworfen. An den Füßen trägt sie dunkle Turnschuhe. Nervös schaut sie mich an, nestelt dabei mit der linken Hand an ihrem Oberteil herum.
„Ich habe ein paar Sachen eingepackt. Aber… Wo soll ich hin? Ich habe sonst niemanden. Meine Familie kommt nicht in Frage – er kennt die Adresse leider. Und...“, erklärt sie sich leise und bricht dann bedrückt ab zu sprechen.
„Sie kommen mit zu mir.“