»... Ich liebe dich. Du mich doch auch, oder?«
Lynn drehte sich vom Beifahrersitz um Richtung Rückbank, während sich Oskar Weyland im selben Moment an den vorderen Sitzen festkrallte. Ächzend richtete er sich aus seiner halb liegenden Position mit halb geschlossenen Lidern auf.
»Oder?«, wiederholte er seine Frage diesmal dringlicher, während sein Gesicht ihrem noch näher kam. Sein leicht faulig riechender Atem sowie der Duft seines Aftershaves strömten ihr entgegen und ihr wurde übel.
»Ja, natürlich!«, antwortete sie schnell, wobei sie versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. Sie schaffte es sogar, seinem Blick aus seinen fast schwarz wirkenden Augen standzuhalten. Bis sich seine Lippen zu einem zufriedenen Lächeln formten, er sich wieder nach hinten lehnte und seine Augen endgültig schloss. Erleichtert ließ Lynn die Luft aus ihrer Lunge, die sie unbewusst angehalten hatte und nutzte den Moment, ihren Kollegen unbeobachtet zu mustern. Dabei schoss ihr als erster Gedanke durch den Kopf, dass attraktives Aussehen offensichtlich nicht davor schützte, sich wie ein Vollidiot aufzuführen. Ebenfalls müde drehte sie sich wieder nach vorne und ließ ihre Gedanken weiter schweifen.
Vor knapp drei Monaten hatte Herr Weyland den Aufgabenbereich ihrer Kollegin Fabienne übernommen, da sich diese seitdem in Elternzeit befand. Und als wäre es nicht genug, dass sich Lynn nach Jahren des Zusammenarbeitens an jemand Neues hatte gewöhnen müssen, war auch sonst nichts mehr wie zuvor. Auf einmal war es an manchen Tagen für sie kaum möglich, sich auf die Arbeit konzentrieren. Denn Oskar Weyland sorgte dafür, dass nun fast täglich Kolleginnen im gemeinsamen Büro auftauchten und ihn mit ihrem Geplapper beschlagnahmten. Als hätten sie nichts anderes zu tun und als wäre Lynn gar nicht anwesend. Weswegen wohl auch keiner auf die Idee kam, dass die Besuche sie stören könnten.
Leise seufzend richtete Lynn ihren Blick nach vorne. Sie war noch nie gut darin gewesen, sich durchzusetzen. Also lag der Fehler vermutlich bei ihr, da sie ihren Mund nicht aufbekam. Noch während sie darüber nachdachte, bemerkte sie, dass das Taxi die Zieladresse fast erreicht hatte. »Hier können Sie uns rauslassen«, wandte sie sich an den Fahrer und deutete ihm, bei der nächsten freien Einfahrt zu halten. Kurz danach bezahlte sie, weckte Oskar und hievte ihn aus dem Wagen. Taumelnd blieb sie mit ihm auf dem Gehweg stehen und sah nochmal zum Wagen, als sie hörte, wie auf der Beifahrerseite das Fenster einen Spalt geöffnet wurde.
»Sie kriegen das doch allein hin, oder?« Der Mann am Steuer sah sie mitleidig an und lächelte ihr aufmunternd zu.
Anstatt die bissige Antwort zu geben, die ihr auf den Lippen lag, lächelte Lynn überfreundlich zurück und meinte nur: »Aber klar!« Sie lächelte erneut, verabschiedete sich und sah dem davon fahrenden Taxi noch einen Augenblick nach. Dann schaute sie sich kurz um und schwankte auf den Hauseingang ihres Kollegen zu. Dabei schaffte sie es kaum, aufrecht zu gehen, da Herr Weylands Arm schwer um ihren Hals hing. Sie schwitzte bereits nach kurzer Zeit und obwohl es draußen eisig war. Weshalb sie erleichtert aufseufzte, als sie die Haustür erreichten. Denn zusätzlich schmerzten ihr Nacken und Rücken, trotz der nur kurzen Strecke, die sie zurückgelegt hatten.
»Schlüssel!«, presste sie flach atmend hervor und versuchte danach, ihr Keuchen zu unterdrücken. Doch es schien, als hätte Herr Weyland sie gehört. Er lockerte den Griff um ihren Hals und hielt sich stattdessen an ihrer Schulter fest. Mit der anderen Hand wühlte er gleichzeitig in einer seiner Manteltaschen, woraufhin Lynn erneut der Duft seines Rasierwassers und seine Alkoholfahne entgegenschlugen. Diesmal streifte aber auch sein warmer Atem flüchtig ihr Ohr und sie erschauderte.
Gleich ist es geschafft!, dachte sie mit zunehmender Unruhe und biss sich auf die Unterlippe. Sie musste warten. Warten, dass der Mann den Schlüsselbund und danach den richtigen Schlüssel fand. Warten, dass er endlich aufschloss, was eine Ewigkeit zu dauern schien. Bis jedoch das erlösende Klicken des Schlosses zu hören war.
Im nächsten Moment ertappte sich Lynn bei dem Gedanken, Oskar Weyland ins Haus zu schubsen, doch mahnte sie sich weiter zur Ruhe. Entschlossen packte sie stattdessen seinen Arm, um sich zumindest wieder von ihm zu befreien – und gab im nächsten Moment einen überraschten Laut von sich. Herr Weylands Arm, der eben noch locker um ihre Schulter gelegen hatte, hielt sie wieder fest umklammert. Als hätte nie ein Zweifel darin bestanden, dass sie mit hineinkommen würde.
Mit großen Augen sah Lynn auf die Haustür, die ungestüm aufgestoßen wurde und spürte, wie ihr Herzschlag erneut schneller wurde. Sie atmete ein, zweimal durch, drückte ihren Rücken durch und stolperte wenige Augenblicke später mit dem Mann im Schlepptau ins Haus.