Am Montag war die Stimmung im Weiterbildungsinstitut, in dem Lynn und Oskar arbeiteten, merklich ausgelassen. In zwei Tagen war Heiligabend und es gab kurz vor den Feiertagen nicht mehr viel zu tun. Weswegen die Geschäftsleitung offensichtlich auch ein Auge zudrückte, wenn hier und da zwischen den Kollegen auch längere Schwätzchen abgehalten wurden und das Thema Nummer eins selbstverständlich die abgehaltene Feier am vorherigen Freitag war.
Als Oskar in der Verwaltungsetage ankam, hörte er schon von Weitem leises Lachen und Gemurmel und aus offenen Türen drangen Gesprächsfetzen an sein Ohr. Doch gerade an diesem Morgen hatte er wenig Interesse am neuesten Klatsch und steuerte direkt auf sein Büro zu.
»Guten Morgen, Herr Weyland! Sind Sie und Frau Sambeck am Freitag gut nach Hause gekommen?«
Überrascht blieb Oskar stehen und sah in die Richtung, aus der die Frage gekommen war. Frau Lambert schaute ihn mit besorgter Miene an, weshalb er schnell mit einem beruhigenden Lächeln antwortete. Er wusste, dass die etwa ein Meter fünfundsechzig große Frau mit den kurz geschnittenen grauen Haaren dieses Jahr fünfzig geworden war. Doch wirkte sie in seinen Augen um einiges jünger.
»Guten Morgen! Ja, danke. Frau Sambeck hat gut auf mich aufgepasst«, antwortete er und der Blick auf ihn wurde sofort neugieriger.
Am Ende schenkte Frau Lambert ihm aber nur ebenfalls ein Lächeln und sagte: »Dann ist ja gut!« Sie lächelte erneut, ging dann in eines der nahegelegenen Büros und ließ Oskar im Gang stehen, der sich unbehaglich durch sein Haar fuhr. Es war also nicht nur Herrn Schlegl aufgefallen, dass er zu viel getrunken hatte. Und dass er mit Frau Sambeck zusammen nach Hause gefahren war, war den meisten demnach vermutlich auch nicht entgangen.
Oskar verdrehte innerlich die Augen und stöhnte leise. In Gedanken und während er zu seinem Arbeitsplatz stiefelte, fluchte er ein weiteres Mal darüber, dass er sich auf der Feier mit dem Trinken nicht zurückgehalten hatte. Im etwas nüchternen Zustand hätte er die Feier nämlich bestimmt nicht mit Frau Sambeck zusammen verlassen. Und es wäre nicht das passiert, was seine anderen Kollegen, Gott sei Dank, nicht mehr mitbekommen hatten.
Eine Weile brütete Oskar gedankenverloren und tatenlos vor sich hin, bis er schließlich aufsah und ihm erst in diesem Moment auffiel, dass der gegenüberstehende Schreibtisch noch immer unbesetzt war. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend schaltete er seinen Rechner an, holte sich einen Kaffee und widmete sich kurz darauf den Unterlagen, die bis zum Jahresende noch bearbeitet werden mussten. Als Lynn nach einer halben Stunde allerdings immer noch nicht auftauchte, erhob er sich erneut und fragte im Nebenbüro nach, ob jemand wusste, wo sie steckte.
»Oh, das habe ich ganz vergessen! Sie hat heute früh hier angerufen und sich kurzfristig für heute freigenommen«, bekam er als Antwort und Oskar runzelte die Stirn. Er konnte nicht anders, als sich vorzustellen, dass seine Kollegin seinetwegen nicht ins Büro gekommen war. Er bedankte sich für die Auskunft, begab sich wieder auf seinen Platz und gestand sich ein, dass ihn Frau Sambecks Abwesenheit ungewollt beunruhigte. Ob sie heute vielleicht zu Hause geblieben war, um ihm zumindest noch eine Weile aus dem Weg zu gehen?
Er fuhr sich wieder durch die Haare. Was war nur los mit ihm, dass er sich so den Kopf zerbrach? Frau Sambeck war eine erwachsene Frau und würde die Worte eines Betrunkenen schon nicht so ernst genommen haben. Und doch ließ ihm ihr heutiges Nichterscheinen einfach keine Ruhe. Weswegen er nach langem Hadern den Entschluss fasste, sie nach Feierabend zu besuchen.
Direkt zu Beginn der Mittagspause wandte er sich deshalb vertrauensvoll an Herrn Schlegl, der gerade ein halbes gegrilltes Hähnchen auseinandernahm. Auf dessen Lippen glänzte das Fett, sodass sich Oskar automatisch über seine eigenen leckte. Er setzte sich auf die gegenüberliegende Seite des langen Tisches, beugte sich zu seinem Kollegen und lächelte ihm zu. »Mahlzeit, Herr Schlegl! Wie Sie wissen, hat Frau Sambeck sich für heute entschuldigen lassen. Ich würde ihr allerdings ganz gerne einen kleinen Besuch abstatten, nachdem sie sich am Freitag so gut um mich gekümmert hat. Wir sind an dem Abend nämlich beide bei mir ausgestiegen und ...«
»Ach ja?« Herr Schlegl schmatzte leicht und wischte sich mit einer dünnen Serviette über den Mund. Verschwörerisch zwinkerte er Oskar zu, woraufhin dieser sofort wusste, was der andere mutmaßte.
»Sie hat mich nur bis zur Haustür begleitet«, stellte er schnell klar, obwohl er überzeugt war, dass dies nicht stimmte. Allerdings konnte er sich, selbst mit viel Anstrengung, nicht mehr daran erinnern, wie er vom Taxi auf seine Couch gekommen war. Zumindest war er sich jedoch sicher, dass nicht er derjenige gewesen war, der seine Schuhe ordentlich neben das Sofa gestellt und sein Jackett über einen der Stühle am Esstisch gelegt hatte.
»Soso.« Die Augenbrauen von Herrn Schlegl zogen sich nach oben. Es war ihm anzusehen, wie sehr ihn das kleine Gespräch amüsierte, während sich Oskar immer unwohler fühlte. Scheinbar sorgte er mit jedem weiteren Satz nur für noch mehr Missverständnisse, obwohl er gar nicht vorgehabt hatte, irgendwelche Erklärungen abzugeben oder sich zu rechtfertigen.
»Haben Sie denn zufälligerweise ihre Adresse?«, fragte er höflich nach, obwohl er spürte, wie er langsam ungeduldig wurde.
»Hm, ich denke schon. Am besten kommen Sie nach der Pause kurz mit in mein Büro. Ich müsste mir Frau Sambecks Anschrift irgendwo notiert haben. Sie ist normalerweise nie krank, wissen Sie? Aber vielleicht gibt es ja einen anderen besonderen Grund, warum sie heute zu Hause geblieben ist?« Herr Schlegl warf Oskar einen erwartungsvollen Blick zu, den er nicht mal versuchte zu verbergen.
»Ja, wer weiß. Ich werde mich danach erkundigen. Auf jeden Fall schon mal vielen Dank.«
Ohne auf die Neugier des anderen einzugehen, lächelte Oskar seinem Gegenüber zu, der offensichtlich noch auf etwas zu warten schien. Nach wenigen Sekunden nickte Herr Schlegl aber schließlich nur und steckte sich eine Pommes mit Mayonnaise in den Mund. Was wohl hieß, dass alles Nötige gesagt worden war und Oskar alle weiteren Gedanken an seine Kollegin zumindest vorerst beiseiteschieben konnte.
Erleichtert packte er daraufhin sein mitgebrachtes Mittagessen aus und suchte die Mikrowelle auf, um es aufzuwärmen. Dabei dankte er insgeheim seiner Mutter, die bei ihren gegenseitigen Besuchen immer dafür sorgte, dass sein Gefrierschrank gefüllt blieb und seine Mahlzeit an diesem Tag wahrscheinlich um einiges gesünder war als die von manch anderen. Den Rest der Pause verbrachte er schließlich ebenfalls essend, unterhielt sich mit noch weiteren Kollegen und folgte Herrn Schlegl danach zu dessen Arbeitsplatz.
Es dauerte nicht lange, bis dieser Lynns Adresse fand, wobei Oskar mit leisem Schrecken feststellte, dass sie tatsächlich nur drei Parallelstraßen von ihm entfernt wohnte. Herrn Schlegl nochmal dankend ging er danach zurück in sein Büro, ließ sich auf seinen Stuhl fallen und seufzte laut. Erneut fragte er sich, wie es sein konnte, dass er bis letzte Woche scheinbar der Einzige gewesen war, der nicht gewusst hatte, dass seine Kollegin und er nicht nur Schreibtischnachbarn waren.
Wie von selbst sah er erneut zum gegenüberstehenden Schreibtisch und stellte nicht zum ersten Mal an diesem Tag fest, dass es sich merkwürdig anfühlte, dass sie nicht da war. Es war ungewohnt still, da das regelmäßige Klappern ihrer Tastatur fehlte und ihre leise Stimme, wenn sie telefonierte.
Oskar seufzte erneut. Seine Stimmung war seltsam gedrückt. Und selbst als sich wenig später zwei etwa gleichaltrige und sehr nette Kolleginnen für eine Weile mit ihm unterhielten und herumalberten, wurde seine Laune nur kurzfristig besser. Denn gedanklich landete er danach sofort wieder wie bei einer Endlosschleife bei den Ereignissen des vergangenen Freitags und somit auch wieder bei Frau Sambeck.
Er erinnerte sich, wie sie ihm ohne viel Aufhebens erst vor der Gaststätte und später auf dem Weg zu seinem Haus eine Stütze gewesen war, ihn aber weder auf der Feier noch im Taxi beachtet hatte. Von Anfang bis Ende hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt, allerdings auch nicht mit den anderen Kollegen, soweit er dies hatte beobachten können.
Unvermittelt hörte Oskar auf, mit dem Kugelschreiber zu spielen, den er eben noch gedankenverloren zwischen seinen Fingern balanciert hatte. Es fiel ihm plötzlich und wie Schuppen von den Augen, dass es gar nichts Neues war, dass Frau Sambeck nichts mit ihren Kollegen zu tun haben wollte, wenn es nicht in direkter Verbindung mit der Arbeit stand. Weshalb sie ihm vermutlich auch nichts von der Nachbarschaft erzählt und etwas zum Thema Fahrgemeinschaft gesagt hatte. Je länger er darüber nachdachte, umso logischer und plausibler erklärte sich damit auch Frau Sambecks Verhalten. Welches Oskar nun sogar ansatzweise nachvollziehen konnte, da auch er nicht viel davon hielt, im Büro private Bekanntschaften zu schließen. Nur wusste er sich offensichtlich auf andere Weise zu helfen, um die gewünschte Distanz zu seinen Kollegen halten.
Den Blick starr auf die Hand gerichtet, mit der er den Kugelschreiber fest umklammert hielt, ließ er die Luft geräuschvoll aus seinen Lungen. Er konnte noch immer kaum fassen, wie unreif und vor allem unfair er Frau Sambeck gegenüber gewesen war, nur weil er sich persönlich angegriffen gefühlt hatte. Und am Ende hatte er völlig den Verstand verloren, indem er ihr mal eben so seine Liebe gestanden hatte. Ausgerechnet ihr. Der Frau, die er zuvor noch beleidigt hatte.
Er lockerte den Griff um den Stift und runzelte die Stirn. Sein Bedürfnis, mit Lynn Sambeck zu reden, wurde immer größer und dringender. Nicht nur, weil er ihr eine Entschuldigung schuldig war, sondern auch, damit sie ihm endlich wieder aus dem Kopf ging. Dabei kamen ihm auf einmal seine Eltern in den Sinn, vermutlich weil sie für ihn ein Paradebeispiel dafür waren, was passieren konnte, wenn man nicht vernünftig miteinander kommunizierte.
Nachdem, was er mittlerweile wusste, hatten diese sich im Laufe der Jahre vor allem emotional immer weiter voneinander entfernt. Bis jeder am Ende nur noch in seiner eigenen, kleinen Blase gelebt hatte. Als wäre es völlig abwegig, sich nach über zwei Jahrzehnten Ehe noch gegenseitig von ihren Bedürfnissen und Träumen, aber auch Sorgen und Zweifeln zu erzählen. Doch genau dieser Trugschluss hatte offenbar dazu geführt, dass sich Oskars Vater ab einem gewissen Punkt dafür entschieden hatte, seinen Lebensweg allein weitergehen zu wollen.
Vielleicht stimmte es sogar, dass er geglaubt hatte, dass die Trennung sowohl für ihn als auch seine Frau das Beste war. Allerdings hatte Otto Weyland, wie Oskar später von seiner Mutter erfahren hatte, zuvor nicht einmal versucht, aus dem festgefahrenen Trott herauszukommen und als Paar wieder zueinanderzufinden. In all der Zeit, in der dieser also unzufrieden gewesen war, hatte er nicht ein offenes Gespräch mit der Frau gesucht, die er angeblich so sehr geliebt hatte. Und genau das war der Grund, warum Oskar auch heute noch leisen Groll gegen seinen Vater verspürte, wenn er an ihn dachte.
Aber immerhin habe ich etwas daraus gelernt, dachte Oskar und unterdrückte ein gequältes Lachen. Ihm war nur zu deutlich vor Augen geführt worden, dass zwischenmenschliche Probleme nicht dadurch gelöst wurden, dass man sie aussitzt oder im Alleingang versucht, damit klarzukommen. Das Wichtigste in jeder Art von Beziehung war, miteinander zu reden und sich zuzuhören. Zu versuchen, seinen Mitmenschen möglichst ehrlich und direkt gegenüberzutreten und Dinge, die nicht richtig liefen, anzusprechen. Genau genommen sollten insbesondere unangenehme Themen oder Situationen schnell geklärt werden und es möglich sein, seine Meinung zu vertreten, ohne ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Was Oskar wieder zu Lynn Sambeck brachte.
Es war ihm bewusst, dass das, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, absolut nichts mit dem Äußern einer Meinung gemein hatte. Er war, ohne Sinn und Verstand, seinen Impulsen nachgegangen. Was ihm – selbst im betrunkenen Zustand – zuvor noch nie passiert war. Ausgerechnet von ihr hatte er sich provoziert gefühlt, was er sich noch immer nicht erklären konnte und wieder für ein flaues Gefühl im Magen sorgte.
Entnervt schmiss er den Kugelschreiber auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Dass ihm nur wegen eines Abends nachträglich noch so viel durch den Kopf schwirrte, machte ihn langsam wahnsinnig. Sein Blick fiel auf die im Laufe des Vormittags immer mehr gewordenen, wild verstreuten Papiere, die ihn daran erinnerten, dass er die letzten Stunden viel zu lange getrödelt hatte. Entschlossen, seine Arbeit nicht noch weiter zu vernachlässigen, fing er an, die Unterlagen durchzusehen und zu sortieren. Im Anschluss tätigte er ein paar Anrufe und hatte erst wieder ein paar ruhige Minuten, als es bereits früher Nachmittag war.
Zwischendurch und als hätten sich seine Kollegen untereinander abgesprochen, steckte allerdings immer mal wieder einer von ihnen den Kopf ins Büro, um sich sichtlich belustigt nach seinem Befinden zu erkundigen und ob er am Freitag gut zu Hause angekommen sei. Womit sehr deutlich wurde, dass Oskar einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte und dass er diesen mit großer Wahrscheinlichkeit so schnell auch nicht wieder loswerden würde. Er hatte die Neckereien vermutlich verdient, weshalb er innerlich zwar mit den Augen rollte, diese aber über sich ergehen ließ und diese immer nur mit der gleichen Antwort und einem Lächeln quittierte.
Was ihn hingegen frustrierte, war, dass jedes Mal auch Lynn Sambeck erwähnt wurde. Und das, nachdem er so lange gebraucht hatte, sie endlich aus seinen Gedanken zu verbannen. Letztendlich blieb ihm aber nichts anderes übrig als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Und am Ende seines restlichen und ansonsten ruhigen Arbeitstages verabschiedete er sich beim Hinausgehen freundlich wie immer bei denjenigen, die ihm beim Verlassen des Gebäudes begegneten.
Draußen angekommen stellte er fest, dass es nicht nur dunkel war, sondern auch noch leicht nieselte, woraufhin er mürrisch seine Arme um seinen Oberkörper schlang und beim Laufen durch den leichten Regen seinen Kopf gesenkt hielt. Sein Ziel, der nächste Blumenladen, war Gott sei Dank nur wenige Gehminuten entfernt, da sich das Institut nicht weit von der Fußgängerzone entfernt befand. Im Geschäft entschied er sich nach einem schnellen Blick durch den Laden für eine blühende Winterpflanze im Topf, die sehr nett aussah und seiner Meinung nach viel besser war als ein Blumenstrauß. Zufrieden mit seiner Auswahl eilte er wenig später zu seinem Wagen, verstaute sein Geschenk und fuhr los.