Als Oskar seinen Wagen zu Hause abstellte, hatte der Nieselregen wieder aufgehört. Kurz entschlossen machte er sich deshalb zu Fuß auf den Weg zu Lynn Sambeck und blickte nach nur wenigen Gehminuten auf ein Reihenhaus mit kleinem Vorgarten. Nett, dachte er und ging die kleine Auffahrt hoch bis zum kleinen Treppenabsatz. An der Hauswand über der Klingel sprang ihm sofort das Schild mit dem Aufdruck »Familie Sambeck« entgegen, welches ihn eine Sekunde zögern ließ. Entschlossen drückte er aber dann auf den Klingelknopf.
Als hätte man nur darauf gewartet, wurde im nächsten Augenblick die Haustür aufgerissen und ihm strömte der Duft frisch gebackener Plätzchen entgegen. Ein Mann – Oskar schätzte ihn auf sein Alter – stand ihm gegenüber und schaute ihn aus braunen Augen prüfend, aber nicht unfreundlich an. Er trug dunkle Jeans sowie einen weinroten Pullover, dessen Ärmel hochgekrempelt und mit etwas Mehl bestäubt waren sowie eine bunte Schürze, die um seinen Hals hing und um seine Hüfte gebunden war. »Ja bitte?«, erkundigte sich der Fremde und schien sich seiner Aufmachung nicht im Geringsten verlegen zu sein.
»Äh, ja. Guten Abend! Mein Name ist Oskar Weyland und ...«
»Ah! Der neue Kollege!« Das Gesicht des anderen fing an zu strahlen, während er Oskar mit einem breiten Grinsen die Hand entgegenstreckte. »Simon Sambeck! Freut mich, Sie kennenzulernen!« Etwas umständlich nahm Oskar die Topfpflanze in eine Hand und erwiderte mit der anderen einen festen Händedruck. »Kommen Sie rein!« Simon machte eine einladende Handbewegung und Oskar war sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob es eine so gute Idee gewesen war, bei Frau Lambeck vorbeizuschauen. Bei genauerer Überlegung hätte er mit seiner Entschuldigung auch bis zum nächsten Morgen warten können.
»Oh, ich wollte gar nicht stören ...«
»Ach, was! Sie stören doch nicht! Immer rein in die gute Stube! Wenn Sie sich schon die Mühe gemacht haben, hierherzukommen.« Simon öffnete die Tür noch weiter und sah Oskar erwartungsvoll und auffordernd an. Wonach diesem kaum etwas anderes übrigblieb, als sich seinem Schicksal zu ergeben und ins Haus zu treten. »Ziehen Sie doch bitte Ihre Schuhe aus!«, bat Simon und Oskar tat auch das. Stattdessen schlüpfte er in ein Paar Pantoffeln, welches offensichtlich für Gäste bereitstand. Er wollte sich gerade nach seiner Kollegin erkundigen, als aus einem der Zimmer ein kleines Mädchen mit geröteten Wangen in den Flur gestürmt kam. Auch an dessen Oberteil befanden sich Mehlflecken, aber es klebten auch Teigreste daran. Ohne dem Besuch große Beachtung zu schenken, schlang die Kleine ihre Arme fest um Simons Hüfte und blickte sichtlich aufgeregt zu ihm auf.
»Papa, wir sind fertig!«
»Na, dann musst du jetzt noch beim Saubermachen helfen, Valerie.«
»Das hab' ich schon!«
Simon strich seiner Tochter liebevoll die Locken aus dem Gesicht. »Dann waschen wir uns jetzt nochmal das Gesicht und die Hände. Okay?«
Valerie nickte und strahlte ihren Vater an. Doch dann schaute sie, scheinbar doch etwas neugierig geworden, zu Oskar und schenkte ihm ein kurzes, schüchternes Lächeln. Ganz der Vater, schoss es diesem trotz seiner leichten Befangenheit sofort in den Kopf und zog ebenfalls die Mundwinkel nach oben. Er fand es zauberhaft, wie Valerie wieder zu ihrem Vater sah und ihm auffordernd am Arm zog, weshalb Oskar auch dann noch lächelte, als Herr Sambeck bereits durch den Flur geführt wurde.
»Lynn! Besuch für dich!«, rief Simon in die Richtung, aus der Valerie eben noch gekommen war und forderte Oskar fast im selben Atemzug auf: »Gehen Sie am besten einfach in die Küche!« Er machte breit lächelnd eine entsprechende Handbewegung, drehte sich dann um und verschwand mit dem Mädchen. Den beiden nachsehend, blieb Oskar allerdings noch weiter in der Diele stehen.
»Sie ist verheiratet«, murmelte er vor sich hin und fuhr sich durch das Haar. Wieso überrascht dich das so?, fragte er sich in Gedanken weiter, obwohl er die Antwort bereits kannte. Bis vor wenigen Minuten war er noch überzeugt gewesen, dass Lynn Sambeck Single war. »Wenn du allein gewesen wärst, hättest du mich bestimmt nicht ins Haus gelassen, stimmt's?«, fragte er leise weiter, seufzte tief und nickte zum Schluss, als stände sie neben ihm und hätte ihm gerade zugestimmt. »Siehst du? Darum ist nur dein Mann daran schuld, dass ich jetzt hier stehe«, führte er das imaginäre Gespräch mit Lynn fort und blickte in die Richtung, in die Simon und Valerie verschwunden waren. Bestimmt würden die beiden bald wieder auftauchen, sodass er sich beeilen musste, wenn er mit Frau Sambeck allein reden wollte. »Jetzt komm schon! Sie wird dich schon nicht beißen«, schloss er sein Selbstgespräch ab, straffte die Schultern und betrat kurz darauf die Küche.
*
Trotz des angelehnten Fensters war es in der Küche sehr warm. Im Hintergrund dudelte leise Weihnachtsmusik und das Klappern von Geschirr war zu hören. Auf dem Küchentisch verteilt standen offene Dosen, die teilweise schon mit Plätzchen gefüllt waren, sowie mehrere Gitter, auf denen Gebäck zum Auskühlen lag.
»Besuch für mich? Von wem denn?«, fragte Lynn in der gleichen Lautstärke, in der Simon sie gerufen hatte und richtete sich leise stöhnend aus ihrer gebeugten Haltung über dem Spülbecken auf. Ihr Gesicht glühte und ihr Kreuz schmerzte. Mit dem Handrücken strich sie sich eine vorwitzige Haarsträhne von der Stirn und streckte ihren schmerzenden Rücken durch.
Spontan hatte sie am Wochenende zugesagt, mit Simon und Valerie Weihnachtsleckereien herzustellen. Was viel Spaß gemacht hatte, aber auch anstrengend gewesen war, da sie gefühlt auf zwei Kinder hatte aufpassen müssen. Lauschend wartete sie auf Antwort, doch es kam keine. »Simon? Wer ist es denn?«, hakte sie ungeduldig nach, drehte ihren Kopf Richtung Küchentür und zog im nächsten Moment die Luft ein. Am anderen Ende des Raumes stand jemand, mit dem sie am wenigsten gerechnet hatte.
»Guten Abend!«, grüßte Oskar Weyland, der sie auf eine Weise ansah, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Hatte er etwa schon länger hinter ihr gestanden?
»Was machen Sie denn hier?«, platzte es aus ihr heraus, wobei ihr nicht entging, dass der Mann an der Tür nervös war. Sie wusste, dass Herr Weyland die Angewohnheit hatte, sich mit einer Hand durch sein Haar zu fahren, wenn er gestresst war. Und dies tat er gerade. Doch was zum Teufel hatte er hier zu suchen?
Um sich zu sammeln, drehte sie sich zurück Richtung Spülbecken und suchte beschäftigt nach einem Tuch, um ihre Hände abzutrocknen. Sie spürte noch immer ihren erhöhten Puls, doch hatte sie zumindest ihren Atem wieder einigermaßen unter Kontrolle.
»Na ja, sie waren heute so überraschend nicht im Büro, dass ich mich gefragt habe, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist.« Die Stimme hinter ihr klang gedämpft und wurde zum Ende noch leiser. »Und da wir quasi Nachbarn sind ...« Er suchte scheinbar nach den richtigen Worten. »Also ich habe ich mir überlegt, dass nichts dagegenspricht, einfach mal bei Ihnen vorbeizuschauen. Vor allem, nachdem ich mich letzten Freitag so unmöglich benommen habe. Weshalb ich zugegebenermaßen hier bin. Ich wollte sichergehen, dass Sie nicht sauer auf mich sind und mir aus dem Weg gehen wollen.«
Lynn schwirrte der Kopf. Herr Weyland redete viel zu viel und zu schnell. Was bei ihr jedoch ankam, war, dass er am Freitagabend nicht so betrunken gewesen war, dass er sich an nichts mehr erinnerte. Sie klemmte sich ein paar störende Haarsträhnen hinter ihr Ohr, wandte sich ihm wieder zu und bemerkte, dass er sich vom Türrahmen gelöst und eine Schrittlänge auf sie zubewegt hatte. Er machte sie immer nervöser, weshalb sie sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte lehnte und ihre Arme schützend vor der Brust verschränkte. Sie bemühte sich, seinem Blick standzuhalten, was ihr schwerfiel.
Es lag eine fast spürbare Spannung im Raum und sie zog unwillkürlich die Schultern hoch. Gereizter als gewollt erwiderte sie schließlich: »Ich bin nicht sauer auf Sie.« Noch während sie die Worte aussprach, merkte sie selbst, wie unglaubwürdig diese geklungen hatten. Also ergänzte sie im wesentlich höflicheren Ton: »Ich hatte für dieses Jahr noch ein paar Urlaubstage übrig, das ist alles. Darum habe ich mich gestern Abend spontan dazu entschlossen, heute freizunehmen.«
Herr Weyland sah ihr noch immer entgegen, antwortete aber nicht sofort. Stattdessen ließ er nur hörbar die Luft aus seiner Lunge und wirkte mit einem Mal wesentlich entspannter. Er warf einen kurzen Blick Richtung Küchentür, als würde er dort jemanden erwarten und ging danach erneut auf sie zu. »Zwischen uns ist also alles okay?« Er sprach noch immer leise, was seine Stimme rauer und Lynns Kehle trocken machte. Sie schluckte und ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich ihr weiter näherte.
Aus heiterem Himmel zog ihr Gegenüber die Mundwinkel nach oben, wobei zwei tiefe Grübchen auf seinen Wangen zum Vorschein kamen, die ihr zuvor noch nie aufgefallen waren. Es dauerte, bis Lynn sich bewusst wurde, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, ob ihr Kollege die kleinen Einkerbungen schon immer gehabt hatte. Als sich ihre Augen trafen, bemerkte sie seinen fragenden Blick, woraufhin sie sich kurz räusperte. »Aber klar«, erwiderte sie schnell, lächelte ebenfalls und hoffte, dass man ihr die innere Anspannung nicht zu sehr ansah.
»Ich möchte mich dennoch bei Ihnen entschuldigen«, sprach er weiter, während er sich noch immer auf sie zubewegte, aber aufgehört hatte zu lächeln.
»Wofür?«, hakte sie nach, wobei ihr Herz wieder pochte, während sich die Lautstärke ihrer Stimme wie von selbst seiner leisen angepasst hatte. Unruhig fixierte sie sich auf den Blumentopf in seinen Händen und löste ihre verschränkten Arme, um sich stattdessen an der Arbeitsplatte festzuhalten.
»Sie wissen schon ...« Ein weiteres Mal zögerte er kurz, bevor er weitersprach. »Für das, was ich im Taxi gesagt habe.« Sie hörte, wie er tief durchatmete und mit etwas unsicherer Stimme fortfuhr. »Das war alles nicht so gemeint.« Das Wort alles betonte er besonders, doch sie hatte ihn auch so verstanden. Er war mittlerweile so nahe, dass sie den Duft seines Aftershaves wahrnehmen konnte, das ohne begleitenden Alkoholgeruch unheimlich gut roch. »Als Sie heute Morgen nicht aufgetaucht sind, habe ich mir ernsthaft Sorgen gemacht.« Der sonst so redegewandte Mann brach wieder kurz ab und fuhr erst fort, als sich ihre Augen erneut für einen Moment trafen. »Ich schätze Sie als Kollegin sehr, was Sie hoffentlich wissen. Und ich möchte nicht, dass etwas Negatives zwischen uns steht, nur wegen meines dummen Verhaltens.«
Lynn wusste, dass er auf eine Antwort von ihr wartete, doch sie kämpfte gerade mit sich selbst. Seine Nähe brachte sie völlig durcheinander und der seltsame Blick, den er ihr mit einem Mal zuwarf, schüchterte sie zusätzlich ein. Ob sie vielleicht etwas im Gesicht hatte, was nicht dort hingehörte?
Hektisch wischte sie sich mit dem Handrücken über ihre Wangen und versuchte anhand seiner Mimik zu erkennen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte. Doch er schaute sie weiter fast unverhohlen an, woraufhin sie es wagte, ihn ebenfalls direkt anzusehen. Ihr fiel sofort auf, dass seine Wangen leicht gerötet waren und seine blauen Augen glänzten. Wahrscheinlich war ihm warm, da er seinen dicken Wintermantel nicht mal geöffnet hatte. Zudem war die Luft in der Küche durch das Plätzchenbacken noch immer aufgeheizt.
»Ist schon gut. Ich habe doch gerade gesagt, dass alles in Ordnung ist«, erwiderte sie erneut schroffer als beabsichtigt und senkte verlegen ihren Kopf. Ihr fiel eine dicke Strähne ins Gesicht, die sie direkt wieder zurückschob und hielt im nächsten Augenblick den Atem an. Unvermittelt stand Herr Weyland direkt vor ihr, wonach er die letzten Schritte in Rekordzeit zurückgelegt haben musste.
Er streckte eine Hand nach ihr aus, woraufhin sie ihm am liebsten panisch ausgewichen wäre. Doch hatte sie durch ihre Position keine Möglichkeit dazu. Also zog sie nur ihren Kopf ein und ihre Schultern hoch und kniff reflexartig die Augen zusammen. Sie fühlte, wie etwas oder eher jemand an ihren Haaren zupfte, während sie sich zwang, Ruhe zu bewahren. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie in der Lage war, ihre Lider wieder aufzuschlagen und starrte den Übeltäter, der sich an ihrem Kopf zu schaffen machte, gleich darauf mit halb offenem Mund an. Ihr Herz klopfte wie wild und das Atmen fiel ihr schwer.
»Sie haben da was«, murmelte er scheinbar mehr zu sich selbst und pickte wieder etwas aus ihren Strähnen. Peinlich berührt und gleichzeitig unter Schock merkte sie, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss und atmete so ruhig wie möglich durch. Schließlich schaffte sie es, sich aus ihrer Starre zu befreien und zog mit einer schnellen Bewegung ihren Kopf weg. Offensichtlich noch völlig in Gedanken und weiterhin mit ihren Haaren beschäftigt, schweifte Herr Weylands Blick daraufhin zu ihrem Gesicht und schien ernsthaft verwundert. Sie hingegen starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen fassungslos an und eine Zeitlang rührte sich keiner von ihnen.
Plötzlich schien sich Oskar Weyland der Situation jedoch ebenfalls bewusst zu werden und zog seine Hand, als hätte er sich verbrannt, ruckartig zurück. »Es ... es tut mir leid«, stammelte er und machte zwei Schritte nach hinten. Scheinbar war er nicht weniger geschockt als sie es eben noch gewesen war. Lynns Atmung ging mittlerweile so schnell, dass sich ihr Brustkorb stark hob und senkte, während sie bewegungsunfähig in das entsetzte Gesicht des Mannes blickte.
»Lynn, ich störe wirklich nur ungern, aber die Kleine ...« Wie aus dem Nichts erklang Simons fröhliche Plauderstimme, die jedoch abrupt abbrach, als Lynn und ihr Gast synchron und sichtlich erschrocken zu ihm sahen, als er in die Küche trat. Irritiert wanderte sein Blick zu seiner Schwester, die sich ruckartig von der Anrichte löste, während ihr Besuch zeitgleich die Pflanze, die sich noch immer in einer seiner Hände befand, auf der Anrichte abstellte.
»Ich ... gehe dann mal wieder«, meinte Oskar Weyland in die entstandene Pause hinein, noch während er sich schnellen Schrittes in Richtung Küchentür bewegte.
Lynn rieb sich mehrmals unbehaglich über einen ihrer Oberarme und pflichtete mit gepresster Stimme bei: »Ja, es ist schon spät.« Sie hatte noch immer mit ihrem erhöhten Puls zu kämpfen und wich geschickt dem fragenden Blick ihres Bruders aus. An ihren Kollegen gerichtet meinte sie weiter: »Jedenfalls vielen Dank für Ihren Besuch. Ich bringe Sie noch nach draußen.« Dieser hatte schon fast den Türrahmen des Raumes erreicht, sodass sie ihm eilig folgte und Simon in der Küche zurückließ.
»Es war wirklich nett, Sie kennengelernt zu haben, Herr Weyland!«, hörte sie ihn jedoch nur wenige Atemzüge später hinter sich sagen, während sie zur Haustür ging.
»Ja, hat mich auch gefreut«, war die schlichte Antwort.
Fröstelnd verschränkte Lynn die Arme, während sie versuchte, den Schwindel in ihrem Kopf zu ignorieren. Ihr Puls hatte sich zum Glück mittlerweile wieder etwas beruhigt, auch wenn sie noch immer deutlich wahrnahm, wie ihr Herz gegen ihre Brust schlug. Sie sah, wie Simon Herrn Weyland ein freundliches Lächeln schenkte, welches knapp erwidert wurde. Dann zog sich ihr Gast seine Schnürschuhe an und ging anschließend nochmal auf sie zu. Er streckte ihr die Hand zum Abschied hin, die sie zögernd ergriff, ohne ihm ins Gesicht zu schauen.
Sein Händedruck war kaum spürbar, doch wollte sie ihm ihre Hand am liebsten sofort wieder wegziehen. Aber da hatte er sie schon wieder losgelassen und verabschiedete sich von Simon ebenfalls per Handschlag. »Einen schönen Abend noch«, sagte Herr Weyland schließlich, während sie stumm die Haustür öffnete. Sie vermied es weiterhin, aufzuschauen und hörte ihn noch, wenn auch etwas leiser sagen: »Dann bis morgen.«
»Ja, bis morgen«, antwortete sie automatisch und sah erst wieder in seine Richtung, als er sich bereits vom Haus entfernte. Seine Hände hatte er in seine Manteltaschen gestopft und seine Schultern waren vermutlich aufgrund der Kälte nach oben gezogen. Er ging im schnellen Tempo den kleinen Weg zur Straße und bog rechts ab. Sie wartete, dass er außer Sichtweite war und trat erst dann zurück ins Warme.
*
Lynn schaute auf die geschlossene Haustür. Sie strich über die Stelle, an der Herr Weyland sie noch vor wenigen Minuten berührt hatte und spürte, wie ihre Wangen glühten. Ihr Puls hatte sich zwischenzeitlich wieder beruhigt, doch bemerkte sie, dass sie dafür nun leicht zitterte. Sich selbst ermahnend, endlich wieder runterzukommen, nahm sie einen kräftigen Atemzug, schloss kurz die Augen und seufzte laut. Bis ihr einfiel, dass sie nicht allein war. Schnell öffnete sie ihre Augen wieder, drehte sich hastig um und begegnete sofort dem Blick ihres Bruders, der sie zu durchbohren schien.
Simon lehnte lässig am Türrahmen, der zum Wohnzimmer führte, während er seine Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben hielt und sie herausfordernd anlächelte. »Na? Was habt ihr Turteltäubchen besprochen? Scheinbar habe ich euch gestört.«
»Halt die Klappe und lass mich mit diesem blöden Gerede in Ruhe!« Sie schaute ihn böse an, während sein immer breiter werdendes Grinsen verriet, dass ihre heftige Reaktion ihn nur neugieriger machte. Um ihm und seinen weiteren unangebrachten Fragen sowie Kommentaren auszuweichen, rauschte sie zurück in die Küche. Sie war insgeheim froh, dass Simon nicht schon früher aufgetaucht war, da sie ansonsten jetzt wahrscheinlich wirklich in Erklärungsnot wäre.
»Er hat dir sogar Blumen mitgebracht. Ich dachte, zwischen euch läuft nichts.«
Simon hatte offenbar entschieden, seiner Schwester nicht den Gefallen zu tun und sie in Frieden zu lassen. Stattdessen folgte er ihr gemächlich und wirkte äußerst amüsiert.
»Da läuft auch nichts!«, blaffte Lynn, stapfte zur Spüle und tauchte ihre Hände ins mittlerweile kalte Wasser, um nach dem Spüllappen zu fischen.
»Ach, komm schon. Du verheimlichst doch was.« Zu spät bemerkte sie, dass Simon sich an sie herangeschlichen hatte. Er griff ihr von hinten an die Taille und fing an, sie zu kitzeln, woraufhin sie zusammenzuckte und ungewollt laut aufquiekte.
»Lass das!« Sie versuchte auszuweichen und seine Hände wegzudrücken, doch er klammerte sich an sie und zwickte ihr erneut in die Hüfte. Sie lachte auf, kicherte und wand sich immer wieder zappelnd unter ihm. Obwohl sie wusste, dass sie bei dieser Art von Kampf keine Chance hatte. Was Simon scheinbar genauso sah und deshalb fies lachte. Er kitzelte sie nochmal und ermahnte sie noch währenddessen, ruhig zu sein. »Pssscht! Valerie ist gerade erst eingeschlafen. Also sei lieb und erzähl deinem großen Bruder, warum Herr Weyland dir heute einen Besuch abgestattet hat.«
Noch immer kichernd und schwer atmend versuchte sie weiter, sich zu befreien. »Da gibt es nichts zu erzählen. Also lass mich los!« Sie versetzte ihm, so gut es ging, mit ihrem Ellbogen einen Hieb in die Bauchgegend, doch beeindruckte ihn das offensichtlich wenig.
»Lüge«, enttarnte er sie sofort und kitzelte sie weiter. Dabei gab er immer wieder zischende Laute von sich, dass sie leiser sein sollte.
»Ist ja gut! Er hat sich einfach Sorgen gemacht, weil ich heute nicht im Büro erschienen bin«, erklärte sie ihm schließlich angestrengt keuchend, was sogar der Wahrheit entsprach. Trotzdem merkte sie, wie ihre Wangen erneut heiß wurden.
Simon hörte auf, sie von hinten zu kitzeln, hielt sie aber weiter fest umarmt und strich ihr über den Kopf. »Das ist ja richtig süß. Vielleicht steht er ja doch auf dich.«
Lynn schaffte es endlich, sich zu befreien, drehte sich zu ihm um und funkelte ihn an. »Du wieder! Willst du nicht langsam nach Hause? Deine Frau wartet bestimmt schon und dein Kind sollte im Bett schlafen und nicht auf dem Sofa.«
Als sei nichts gewesen, steuerte das größte Schleckermaul, welches sie kannte, zielgerichtet auf den Tisch mit den Keksen zu und steckte sich ein Butterplätzchen in den Mund. »Ist ja schon gut. Ich lass dich in Ruhe.« Er zwinkerte ihr aus sicherer Entfernung zu. »Aber nur fürs Erste.«
Sie seufzte laut. »Okay. Aber glaub mir, da ist nichts weiter.« Sie schaute ihn durchdringend an und Simon lächelte kurz.
»Wir werden ja sehen. Mein Gefühl sagt mir etwas anderes.« Ohne sich ihre Antwort darauf anzuhören, ging er durch die Küchentür, sammelte im Flur Valeries Schuhe und Jacke ein und zog beides seiner im Wohnzimmer schlafenden Tochter an. Während er sich wenig später im Flur selbst ankleidete, legte Lynn die Ärmchen ihrer Nichte um ihren Hals. Sie hielt die Kleine fest und hob sie mit einem leisen Stöhnen vom Sofa.
»Hmmmmm!«, gab Valerie unwillig von sich und lehnte ihren Kopf müde an den Hals ihrer Tante.
»Du bist ganz schön schwer geworden«, wisperte diese unter Anstrengung und überreichte Valerie ihrem Vater, der schon bereitstand und die Arme nach dem Mädchen ausstreckte.
»Bestell Sarah einen lieben Gruß. Und fahr vorsichtig.«
»Immer. Bis übermorgen.«
Lynn winkte zum Abschied. »Hab' dich lieb!«
»Ich dich auch. Und jetzt geh rein. Es ist kalt.«
Die Befehle ihres Bruders wie immer ignorierend sah sie ihm weiter nach, bis er, wie zuvor Oskar Weyland, nicht mehr zu sehen war. Erst dann schloss sie die Haustür – und war wieder allein. Allein in dem großen Haus mit dem großen Flur, in dem es plötzlich ganz still war. Frierend zog Lynn die Schultern nach oben, rieb sich über die Oberarme, um sich aufzuwärmen und ging währenddessen ein letztes Mal in die Küche. Dort drehte sie das Radio etwas lauter und räumte in Ruhe zu Ende auf.