Als Oskar in den Türrahmen der Küche trat, blieb ihm etwas Zeit, seine Kollegin zu betrachten, die am Spülbecken stand und ihm den Rücken zugedreht hielt. Sofort kam ihm in den Sinn, dass sie heute noch furchtbarer als sonst aussah: Sie trug eine viel zu große graue Jogginghose, die sich unten an den Knöcheln staute und ein ebenfalls graues und übergroßes langärmliges Sweatshirt. Ihre Haare waren wie üblich im Nacken zusammengebunden und wie immer hatten sich ein paar Haarsträhnen aus dem Zopf gelöst.
Lynn Sambeck fischte gerade eine größere Plastikschüssel aus dem Spülbecken, während sie sich leise stöhnend aus ihrer leicht vorgebeugten Haltung aufrichtete. »Simon? Wer ist es denn?«, rief sie plötzlich hörbar und sichtlich ungeduldig. Und noch bevor er es schaffte, seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen, drehte sie sich um. Sie gab einen erschrockenen Laut von sich und die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch nur einen Wimpernschlag später sah es so aus, als sei sie über seine Anwesenheit geradezu entsetzt. Wonach ihre Reaktion kaum abweisender sein konnte.
»Guten Abend!«, brachte er daraufhin nur mit Mühe hervor, während er sie nicht aus den Augen ließ.
»Was machen Sie denn hier?«, war ihre prompte Reaktion, die ihre Abwehrhaltung noch verdeutlichte. Sie war angespannt. Genau wie er. Doch war sie nicht einmal mehr in der Lage, Augenkontakt zu halten. Am Ende wandte sie sich sogar wieder von ihm ab. So, wie er es bereits von der Weihnachtsfeier kannte. Aber dieses Mal lasse ich mich nicht abwimmeln, dachte er entschlossen und ging auf sie zu.
Ihre verschränkten Arme, die finstere Miene und ihr gereizter Tonfall waren für ihn jedoch, zumindest anfangs, deutliche Signale, dass sie nicht gut auf ihn zu sprechen war. Allerdings glaubte er im Laufe der Zeit immer mehr, dass sie vor allem deshalb so abweisend war, weil er sie mit seinem Besuch überrumpelt hatte. Denn seine Entschuldigung nahm sie unumwunden an. Als wäre sie gar nicht nötig gewesen.
Trotzdem blieb eine gewisse Skepsis. Selbst nachdem er nochmal nachhakte und sie mit »Aber klar« antwortete. Er war einfach nicht überzeugt, dass sie auch meinte, was sie sagte. Dafür war sie seiner Meinung nach weiterhin viel zu angespannt und ihr Lächeln wirkte gequält.
Deshalb versuchte er ein letztes Mal, sie aus der Reserve zu locken, woraufhin sie ihn aber erneut kaum anschaute und wie ein schüchternes Mädchen ihren Kopf senkte. So hatte er erneut Gelegenheit, sie zu betrachten – und hielt plötzlich den Atem an. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte er einen Blick auf ihren zerzausten Schopf geworfen und es doch sofort entdeckt: Mehrere Fitzelchen Teig hatten sich in ihr Haar verirrt.
In Oskars Fingern kribbelte es. Ohne sich dessen bewusst zu sein, wurde die Distanz zwischen ihm und Lynn Sambeck immer geringer, während er unentwegt auf die kleinen, hellen Stellen schaute. Er registrierte, wie sie ihn kurz ansah und sich über das Gesicht fuhr. Danach schaute sie erneut nach unten und klemmte sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Und schon pflückte und zupfte er nach der bereits angetrockneten Masse.
»Sie haben da was ...«, murmelte er, weil er glaubte, etwas sagen zu müssen und leckte sich über die Lippen. Frau Sambeck sah man nicht nur an, dass sie Plätzchen gebacken hatte, sondern sie duftete auch danach. Ihr Geruch umhüllte ihn, während er die kleinen hervorblitzenden Krümel aus ihren Haaren zog und seine Finger nach weiteren suchten. Ihre Frisur, wenn man dies überhaupt so bezeichnen konnte, war wirklich ein heilloses Durcheinander, und er überlegte, ob er ein paar der wild abstehenden Strähnen etwas ordnen sollte. Doch noch bevor er dazu kam, seinen Plan in die Tat umzusetzen, wurde ihm plötzlich der Kopf entzogen. Irritiert ließ er seinen Blick nach unten schweifen und blickte in Augen, die in Grün und Goldbraun schimmerten, je nach Lichteinfall.
Wunderschön, dachte Oskar impulsiv und fühlte sich magisch von ihnen angezogen, bis ein leises Keuchen ihn zurück in die Gegenwart holte. Erst jetzt bemerkte er, dass Lynn Sambeck stocksteif vor ihm stand und schwer atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, während sie ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah. Es schien, als wollte sie im nächsten Moment losschreien und ihm wurde schlagartig bewusst, wie nahe er bei ihr stand und wie intim seine Berührung war.
»Es ... Es tut mir leid!«, verhedderte er sich beim Reden und zog blitzschnell seine Hand zurück. Über sich selbst erschrocken, wich er nach hinten, um schleunigst Abstand zu den glänzenden Augen und dem Kopf der Frau zu bekommen, die ihn noch immer wortlos anstarrte. Es blieb auch weiterhin still zwischen ihnen, sodass seine und ihre Atemgeräusche zu hören waren, während im Hintergrund weiterhin leise Weihnachtsmusik lief. Dabei wartete Oskar auf eine Antwort oder eine Reaktion. Darauf, dass Frau Sambeck wütend wurde oder ihm eine Ohrfeige verpasste. Doch nichts dergleichen geschah.
»Lynn, ich störe ja wirklich nur ungern, aber die Kleine ...«, erklang plötzlich Herr Sambecks Stimme, was Oskar aufschrecken ließ, ihn aber gleichzeitig erleichterte. Die herbeigeführte Unterbrechung bot die ideale Möglichkeit zur Flucht.
»Ich gehe dann mal wieder«, sagte Oskar so unaufgeregt wie möglich und stellte die Pflanze ab, die er noch immer im Arm hielt. Dann eilte er an Herrn Sambeck vorbei zurück in den Flur, während er es vermied, aufzuschauen. Er hörte Frau Sambeck auf dem Weg irgendetwas sagen, doch war sein Gehirn wie benebelt. Er wollte nur noch raus. Mit ein paar knappen Worten verabschiedete er sich von dem Ehepaar und verließ kurz darauf das Haus. Den Blick auf den Boden gerichtet, stopfte er seine Hände in seinen Mantel, zog seine Schultern hoch und ging schnurstracks los.
Nachdem er schon einige Häuser passiert hatte, blieb er allerdings kurz stehen, atmete tief durch und raufte sich energisch die Haare. Dann blickte er auf seine Hand, die sich wie von selbst auf Frau Sambeck zubewegt hatte und öffnete und schloss sie mehrmals. Bis das Kribbeln, welches sich wie gerufen wieder bemerkbar machte, verschwand. Zu Hause angekommen schaltete er zuerst seine Musikanlage an, drehte die Lautstärke auf und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Er warf sich ein T-Shirt über und schlüpfte in eine bequem sitzende Jogginghose. Anschließend kümmerte er sich um sein Abendessen und zappte beim Essen ein wenig im TV-Programm herum, bis er ins Bett ging.
Als sein Wecker am nächsten Morgen klingelte, hatte er allerdings das Gefühl, nicht eine Minute geschlafen zu haben. Und damit nicht genug. Das Erste, woran er beim Aufwachen dachte, war ausgerechnet ein Paar wunderschöner grünbrauner Augen.