Schon zu Beginn erfuhr Oskar, dass er und Lynn Sambeck Nachbarn waren.
»Warum kommen Sie beide denn nicht mit einem Auto ins Büro? Sie wohnen doch so gut wie nebeneinander.«
Oskar versuchte, sich seine Überraschung nicht zu sehr anmerken zu lassen und sah Hilfe suchend zu seiner Kollegin, die genau wie er perplex und für einige Sekunden sogar entsetzt über die Frage schien. Kurz trafen sich ihre Blicke, doch senkte sie ihren Kopf schnell wieder. Vermutlich unbewusst zog sie gleich darauf die Schultern so schuldbewusst nach oben, dass Oskar klar wurde, dass er bis eben der Einzige gewesen war, der davon nicht den blassesten Schimmer gehabt hatte. Nur warum? Immerhin teilten sie sich das Büro schon eine ganze Weile, womit es demnach mehr als ein Mal die Möglichkeit gegeben hätte, darüber zu reden.
Doch bis heute hatte Frau Sambeck kein Sterbenswort darüber verloren. Und auch sonst hatte sie keinen einzigen Einblick in ihr Privatleben gewährt, was bei Oskar aus heiterem Himmel ein seltsames Gefühl hinterließ. Vor allem, da ihm bewusst wurde, dass er selbst über Fabienne Braun mehr wusste. Dabei hatte er sie erst kurz vor Beginn ihres Mutterschutzes kennengelernt. Dennoch hatte sie ihm anvertraut, dass sie und ihr Mann sich mehr als nur ein Kind wünschten und mit einem Augenzwinkern hinzugefügt, dass es deshalb sein konnte, dass ihre Babypause länger dauern würde. Von Frau Sambeck hatte er hingegen nichts erfahren. Er konnte noch nicht einmal sagen, ob sie allein lebte oder einen Freund hatte. Vielleicht war sie sogar verheiratet.
Angestrengt versuchte Oskar sich zu erinnern, ob er einen Ring an ihrer Hand gesehen hatte.
»Eine Fahrgemeinschaft ist in der heutigen Zeit doch viel ökonomischer und ökologischer«, wurde er aus seinen Überlegungen gerissen, woraufhin er automatisch wieder zu Lynn Sambeck schaute, die ihm zwei Sitzplätze weiter schräg gegenüber saß.
In dem großen Raum der Gaststätte waren mehrere lange Tische aufgestellt und Oskar saß an einem der Kopfenden. So konnte er von seiner Position aus gut sehen, wie sie steif auf ihrem Stuhl saß und sich eine imaginäre Strähne aus dem Gesicht strich. Sie wirkte so nervös, dass sie nicht mal in der Lage schien zu antworten und es machte den Anschein, als wolle sie sich am liebsten unsichtbar machen.
Um die erwartungsvolle Pause nicht zu lang werden zu lassen und die Aufmerksamkeit der Kollegen auf sich zu lenken, sagte er deshalb mit lauter Stimme: »Dass wir so nah beieinander wohnen, wusste ich gar nicht. Aber Frau Sambeck und ich können später bestimmt mal darüber reden.«
Er lächelte seine Kollegin offen an, als sich ihre Blicke erneut begegneten und er bemerkte, wie sich ihre Mundwinkel ebenfalls leicht nach oben zogen. Sie nickte etwas hölzern und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, wie ein Ausdruck von Panik über ihr Gesicht huschte.
Panik? Wieso Panik?
Noch bevor er seinen Gedanken vertiefen konnte, wandte sie sich von ihm ab und richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die Unterhaltung am anderen Ende des Tisches. Womit das Thema für sie wohl erst einmal erledigt schien. Oskar hingegen schaute irritiert weiter in ihre Richtung und hatte für einen Moment das Gefühl, aufs Abstellgleis abgestellt worden zu sein. Doch hatte er auch diesmal keine Gelegenheit, sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen, da er von anderen Kollegen in ein Gespräch verwickelt wurde und so schnell Ablenkung fand.
So verging einiges an Zeit. Und erst als es um ihn herum wieder etwas ruhiger wurde, kam ihm erneut der Gedanke, mit Lynn Sambeck ins Gespräch kommen zu wollen. Was sich allerdings schwieriger gestaltete als gedacht. Denn obwohl er immer mal wieder versuchte, ihren Blick einzufangen, wich sie ihm beharrlich aus. Als würde sie partout nicht mit ihm reden wollen. Weswegen er auch keinen Versuch unternahm, einen Sitzplatz neben ihr zu ergattern, um sie direkt anzusprechen.
Doch warum verhielt sie sich so abweisend? Waren sie denn bisher nicht gut miteinander ausgekommen?
Oskar verstand die Welt nicht mehr und er merkte, dass er anfing, sich über seine Kollegin zu ärgern. Er warf ihr einen nicht gerade netten Blick zu und bestellte kurzerhand ein Bier. Und bald darauf noch eins. Und noch eins.
Er zählte nicht mit. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, sich immer mehr aufzuregen. Darüber, dass sie ihm nichts von ihrer bestehenden Nachbarschaft erzählt hatte. Und noch mehr, dass sie darüber auch jetzt nicht mit ihm sprechen wollte.
Oskar warf einen Blick zu Lynn hinüber, die gerade an einem Glas Wasser nippte. Sie hörte den Kollegen am anderen Ende des Tisches offenbar aufmerksam beim Reden zu, was ihn noch mehr aufregte.
Um sich abzulenken, richtete er seine Aufmerksamkeit daher auf eine andere Unterhaltung. Und da es ihm bereits schwerfiel, sich überhaupt auf etwas zu konzentrieren, nahm er keine weitere Notiz mehr von Lynn.
*
Oskar schrak auf, als ihm jemand von hinten an die Schulter griff und schaute mit leicht verschleiertem Blick auf. Ein Mann um die fünfzig mit Halbglatze, runder Brille und noch runderem Bauch lächelte ihn freundlich an und beugte sich zu ihm nach unten.
»Ich glaube, wir rufen Ihnen besser mal ein Taxi, hm?« Herr Schlegl, genau wie Oskar Fachbereichsleiter, hatte offensichtlich bemerkt, dass der sonst so gesprächige und gut gelaunte Mann schon eine ganze Weile teilnahmslos vor sich hingesehen hatte und dabei sein Bierglas fest umklammert hielt.
»Das wäre nett. Danke!«, erwiderte Oskar sofort und zog seine Mundwinkel ebenfalls leicht nach oben.
»Kein Problem. Oder wie wäre es ...« Herr Schlegl schaute kurz in eine andere Richtung. »Ich habe mitbekommen, dass Frau Sambeck bereits eines bestellt hat. Ich könnte sie fragen, ob sie dieses mit Ihnen teilen will. Wäre das auch in Ordnung für Sie?«
»Ja, sicher.« Ohne nachzudenken, hatte Oskar zugestimmt. In einem Zug trank er den letzten Inhalt seines Glases aus und sah mit schweren Lidern zu, wie Herr Schlegl sich an den Stühlen entlang zwängte. Er rückte zu der Person vor, die steif und sichtlich unbehaglich auf ihrem Platz saß und so aussah, als würde sie nur auf den richtigen Moment warten, flüchten zu können. Auch ihr wurde auf die Schulter geklopft, und als sie daraufhin sichtlich zusammenzuckte, verkniff sich Oskar ein Grinsen. Er beobachtete, wie sie zu ihrem älteren Kollegen aufschaute und hörte noch, wie Herr Schlegl sagte: »Frau Sambeck, Herr Weyland ist zufälligerweise auch im Begriff zu gehen. Und da habe ich mich gefragt, ob Sie Ihr Taxi vielleicht mit ihm teilen würden.«
Ohne die Antwort abzuwarten, stand Oskar langsam auf und schlängelte sich unsicheren Schrittes bis zur Garderobe vor. Er suchte nach seinem Wintermantel und stand keine zwei Minuten später im Freien. Dort stellte er sich unter eine der schwach leuchtenden Lampen, die am Eingang angebracht waren und atmete tief durch. Es war eiskalt, doch die frische Luft tat gut. Mit hochgezogenen Schultern vergrub er seine Hände tief in seine Manteltaschen und spürte erst jetzt, wie schwindelig ihm war und dass sich seine Ohren dumpf anfühlten. Innerlich stöhnend gab er zu, dass Herr Schlegl ihm somit einen Gefallen getan hatte, ihn nach Hause zu schicken. Vor allem, da ihm nun auch bewusst wurde, wie müde er war und wie schwer es ihm fiel, sich auf den Beinen zu halten.
»Geht es Ihnen gut?«
Vor Schreck geriet Oskar ins Wanken, als Lynn Sambeck wie aus dem Nichts neben ihm stand. Ihr langer Schal verdeckte ihr halbes Gesicht, doch ihre zusammengezogenen Augenbrauen waren gut zu erkennen. Einzelne Haarsträhnen standen in alle Richtungen ihres Kopfes ab, dass es Oskar impulsiv in den Fingern juckte, ihr die Haare glattzustreichen.
Verärgert über seinen Wunsch, aber noch mehr über sie, blickte er kurz in ihre Augen, deren Farbe er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Was er allerdings sah, war, dass sie ihn misstrauisch musterte. Als sei sie böse auf ihn und nicht um ihn besorgt.
Schnell schluckte er die spöttischen Worte, die ihm auf der Zunge lagen, hinunter und nickte leicht. Statt einer Antwort gab er einen brummenden Laut von sich, während er merkte, wie er erneut schwankte.
Es dauerte eine Weile, bis er wieder festen Stand fand, woraufhin er die Stirn runzelte. Er überlegte gerade, doch etwas zu sagen, als er im selben Moment am Arm gepackt wurde. Überrascht schaute er zur Seite und auf Frau Sambeck, die ihn mit beiden Händen festhielt, während sie weiter auf die Straße sah. Es war ihr anzumerken, wie angespannt sie war, doch sie schien auch entschlossen, ihn nicht wieder loszulassen. Sich erst nicht sicher, ob es einen guten Eindruck machte, sich von einer Frau unter die Arme greifen zu lassen, dankte er ihr jedoch nur eine Sekunde später im Stillen dafür. Denn das Bedürfnis, sich irgendwo hinlegen zu wollen, wurde allmählich immer größer. Als wenig später das bestellte Fahrzeug vor ihnen stand, schaffte er es auch nur mit ihrer Hilfe, sich auf die Rückbank zu begeben und anzuschnallen.
»Wir fahren am besten zu Ihrer Adresse. In Ordnung, Herr Weyland?«, erklang es kurz danach vom Beifahrersitz. Woraufhin Oskar, kurzfristig etwas orientierungslos, aufsah. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sich Frau Sambeck nach vorne gesetzt hatte.
»Von mir aus«, murrte er erneut gereizt und rutschte noch etwas tiefer in den Rücksitz. Müde schloss er seine Augen und bekam noch mit, wie dem Fahrer die Zieladresse mitgeteilt wurde. Dann döste er eine Zeitlang vor sich hin. Als er seine Lider wenig später wieder aufschlug, richtete er sich jedoch langsam wieder auf. Es war seltsam ruhig im Wagen, da nicht einmal das Radio lief, sodass Oskar automatisch zu seiner Kollegin sah.
»Hören Sie mal ...« sprach er Frau Sambeck plötzlich mit schwerer Zunge an und hielt sofort wieder inne. Was genau wollte er ihr eigentlich sagen? »Ich hoffe, es ist wirklich okay, dass wir uns ein Taxi teilen.« Er wusste, dass die Worte sinnlos waren, da sie schließlich bereits zusammen im Wagen saßen. Dennoch wartete Oskar auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb. »Wo wohnen Sie denn eigentlich?«, fragte er daraufhin weiter, da ihm nichts Besseres einfiel, und erneut bekam er keine Antwort. Er hörte sie allerdings laut ausatmen, als sei sie von ihm genervt, woraufhin es aus ihm heraussprudelte.
»Dein Verhalten ist echt zum Kotzen, weißt du das? Erst behältst du es monatelang für dich, dass wir in der gleichen Nachbarschaft wohnen, dann ignorierst du mich den ganzen Abend und jetzt willst du mir noch nicht mal diese eine Frage beantworten!« Obwohl Oskar das Bedürfnis hatte, zu schreien, klang seine Stimme heiser. »Wir hätten uns vorhin einfach nett unterhalten können, aber nein ...« Mit glühenden Wangen holte er tief Luft. »Weißt du überhaupt, was es heißt, mit anderen Leuten Spaß zu haben? Ich glaube nicht! Heute hattest du – zumindest für mich offensichtlich – keinen!«
Nach seinem kleinen Ausbruch fühlte Oskar sich erleichtert, aber auch erschöpft. Daher rutschte er mit seinem Körper erneut leicht schräg nach unten, schloss die Augen und verschränkte diesmal noch die Arme vor seine Brust. Ihm war schlecht und er hatte das Bedürfnis nach frischer Luft. Außerdem spürte er, wie sein Herz schneller schlug, weil er sich so aufgeregt hatte.
Als er nach einer Weile seine Lider öffnete, bemerkte er, dass Frau Sambeck ihren Blick zur Seite gewandt hielt und aus dem Fenster sah. Und sofort verrauchte seine eben noch empfundene Wut. Stattdessen machte sich in seiner Brustgegend ein unangenehmes Gefühl Platz, das er nicht zuordnen konnte.
»T-tut mir leid. Das war nicht so gemeint. Das weißt du doch, oder?« Die Worte kamen wie von selbst aus seinem Mund. Und er sagte noch mehr Dinge, die ausdrücken sollten, wie leid es ihm tat. Und dann sprach er das aus, woran er sich am nächsten Tag am meisten erinnern sollte: »Ich liebe dich. Du mich doch auch, oder?«