Endlich war der letzte Tag des Jahres gekommen. Da Oskar auch aufgrund von Faulheit niemanden mehr gefunden hatte, mit dem er den Silvesterabend verbringen konnte, entschied er, es sich zu Hause bei einem Film-Marathon und jeder Menge ungesundem Essen gemütlich zu machen. Dennoch ziemlich lustlos füllte er am frühen Nachmittag in der Filiale einer großen Supermarktkette seinen Einkaufswagen mit Süßigkeiten, Snacks und Bier auf und beendete seine Runde in der Tiefkühlabteilung, da es zur Feier des Tages Pizza geben sollte.
Dabei musste er unwillkürlich an seine Mutter denken, die wahrscheinlich entsetzt über seine heutige Ausbeute gewesen wäre und lächelte in sich hinein. Ab morgen achte ich wieder auf mein Cholesterin, versprochen, Mama. Dabei kam ihm wie von selbst als Nächstes in den Sinn, dass das ganze Convenience-Zeug und Nervenfutter gar nicht nötig gewesen wäre, wenn sein bester Freund ihn nicht allein und seinem Schicksal überlassen hätte, denn bei den Naubuschs gab es Silvester für gewöhnlich ein großes kaltes Buffet, das vielleicht nicht auch nur aus gesundem Essen bestanden, es aber zumindest eine kleine Auswahl gegeben hätte.
Außerdem wäre Oskar mit Richard am Neujahrstag zusammen Laufen gegangen, was nicht nur schon seit Jahren Tradition zwischen ihnen war, sondern auch dazu diente, die übermäßig zu sich genommenen Kalorien direkt wieder abzubauen und fit ins neue Jahr zu starten. Doch der Verräter war jetzt irgendwo an der Nordseeküste in einem Ferienpark und verbrachte dort ein paar schöne, erholsame Tage.
Oskar seufzte. Den ganzen Tag hatte es zwischendurch immer wieder geschneit, weshalb er überlegte, ob er am nächsten Morgen allein Joggen gehen oder besser zu Hause bleiben und dort ein kleines Workout-Programm starten sollte. Er war die letzten Wochen ziemlich faul gewesen und wollte seinem inneren Schweinehund auf keinen Fall die Oberhand überlassen.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, hing er gerade halb über einer der Tiefkühltruhen, als eine ihm mittlerweile bekannte Stimme seinen Namen rief. Erst überrascht und gleich darauf in Alarmbereitschaft versetzt, blickte er von unten zu seiner rechten Seite auf und konnte gerade noch ein genervtes Stöhnen unterdrücken.
»Oskar!«, meinte Simon Sambeck noch einmal, der direkt neben dem Vorgebeugten stand und mal wieder ein breites Grinsen auf dem Gesicht hatte. Er schien sich ehrlich über die zufällige Begegnung zu freuen, während der andere dachte, dass es davon in letzter Zeit eindeutig zu viele gegeben hatte. Langsam richtete sich Oskar auf und entgegnete trocken: »Herr Sambeck. Ich meine ... Simon.«
Es fiel ihm schwer, sich nicht anmerken zu lassen, wie genervt er war und wie schwer es ihm fiel, höflich zu bleiben. Direkt hatte er wieder daran denken müssen, dass der Mann, der neben ihm stand, scheinbar ohne jeden Skrupel seine Frau betrog. Noch immer mit seinen Gedanken beschäftigt, bemerkte Oskar erst nach einer Weile, dass der Inhalt seines Einkaufswagens inspiziert wurde.
»Wow! Das sieht schwer nach Party aus«, meinte der Typ mit dem Dauergrinsen im Gesicht auch gleich als Nächstes und Oskar überlegte, was wohl passieren würde, wenn er sein Gegenüber damit konfrontieren würde, was er während des Kinobesuchs gesehen hatte. Doch kam er nicht dazu, seinen Gedanken weiter auszubauen, da er stattdessen mit weiteren Fragen gelöchert wurde. »Gibt es denn auch was Ordentliches zu Essen bei dir?« Simon sah in das Kühlfach. »Oh! Pizza?« Er wirkte kurz verwirrt. »Wie viele Leute kommen denn zu deiner Party?« Er lachte kurz. »Oder bringt jeder sein eigenes Zeug mit?«
Oskar klingelten die Ohren. Machte der Mann auch mal einen Punkt? Das sorglose Geplapper nervte fast noch mehr als das sichtlich amüsierte Gesicht des anderen. »Niemand kommt zu einer Party, verdammt!« Der harsche Tonfall ließ Simon sofort verstummen und eine kleine Pause entstand, da auch Oskar merkte, dass seine Antwort etwas zu heftig ausgefallen war. Der Mann mit den braunen Augen hob entschuldigend beide Hände und klang etwas beleidigt, als er antwortete: »Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten!«
»Schon gut!«, entgegnete Oskar schnell, fuhr sich aufgebracht durch sein Haar und blickte im Anschluss wieder in das zerknirscht wirkende Gesicht seines Gegenübers.
»Heute also dinner for one?«, konnte es sich dieser dann aber scheinbar doch nicht verkneifen und Oskar stöhnte erneut innerlich auf. Als ob die Antwort nicht auf der Hand lag.
»Ja genau«, erwiderte er so ruhig wie möglich, während er nervös von einer Stelle auf die andere trat. Er wusste, dass er gerade ziemlich überreagiert hatte, vor allem, da Simon ihm seit der ersten Begegnung bis heute immer offen und freundlich gegenübergetreten war. Doch konnte Oskar nicht anders, da er ununterbrochen daran denken musste, dass Simon seiner Frau fremdging. Wofür Oskar den anderen allein bei dem Gedanken am liebsten erwürgen würde.
»Hey! Ich will dich nicht überreden, aber ... Hast du vielleicht Lust auf Gesellschaft? Wir sind eine kleine Runde von fünf Erwachsenen und meiner Frau macht es sicher nichts aus, wenn du auch dabei bist.« Simon sah ihn erwartungsvoll, geradezu bittend an.
Silvester mit seiner Kollegin verbringen? Das war überhaupt nicht das, was Oskar sich für diesen Abend vorgestellt hatte. »Hm, ich weiß nicht.«
»Also eine Party kannst du bei uns natürlich nicht erwarten. Es wird nur gegessen, getrunken und viel gequatscht. Wegen unserer Kleinen werden solche Ereignisse eher ruhig verbracht. Aber wenn das für dich okay ist?« Simon lachte fast entschuldigend und Oskar musste lächeln. Wenn er mit Richard und seiner Familie Silvester verbrachte, gab es immer einen Spieleabend, worauf sich der 37-Jährige dieses Jahr auch schon gefreut hatte. Vor allem, weil es jedes Mal köstlich war mitzubekommen, wie Florian sich aufregte, wenn er verlor und er trotzdem immer der Erste war, der noch eine weitere Runde spielen wollte.
»Ach, das klingt an sich gar nicht so schlecht und die Einladung ist echt nett. Ich möchte aber wirklich nicht stören.« Oskar erkannte sich in dem, was er sagte, kaum wieder.
»Ach was. Wie war das mit den neuen Bekanntschaften?« Simon deutete auf den Einkaufswagen und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Wenn du magst, kannst du das gern alles mitbringen.«
So langsam kam es Oskar peinlich vor, nur ungesunden Kram in seinem Wagen zu haben. »Bist du sicher, dass das für deine Frau okay ist?«, fiel es ihm mit einem Mal ein und war fast erleichtert, als Simon eine wegwerfende Handbewegung machte. »Klar! Und hey, wenn du magst, kann Lynn dich abholen und wieder nach Hause bringen. Sie trinkt eh nichts.«
Sofort schlich sich bei Oskar wieder ein mulmiges Gefühl ein. Lynn hatte demnach also nicht erzählt, dass sie quasi Nachbarn waren und er gut zu Fuß zum Haus der Familie laufen konnte.
»Ich gebe dir mal meine Nummer. Dann kann ich dir nachher die Adresse schicken, falls du doch selbst hinfahren willst«, meinte Simon weiter und zückte sein Smartphone. Es wurde also nicht bei den Sambecks gefeiert? In ein Haus wildfremder Leute eingeladen zu werden, hatte Oskar auch noch nicht erlebt und ließ die Sache immer bizarrer werden. »Und ich gebe dir gleich noch die von Lynn, damit du dich mit ihr absprechen kannst. Ich denke, soweit wart ihr noch nicht, hm?«
Wieder zwinkerte Simon und Oskar nickte automatisch, auch wenn ihn die Frage verwirrte. Nachdem beide ihre Daten ausgetauscht hatten, sah sich Simon offenbar nach seiner Frau suchend um, woraufhin auch Oskars Blick über die Regale schweifte. Als er sich vorstellte, dass Lynn im nächsten Moment aus einem der Gänge auftauchen könnte, spürte er, wie sein Atem augenblicklich flacher wurde und wie schon so oft in letzter Zeit sein Herz kräftiger anfing zu schlagen.
»Dann sehen wir uns also später.« Simon klopfte Oskar auf die Schulter und blickte sich anschließend noch mal um. »Ich muss jetzt mal nach meiner besseren Hälfte schauen.« Wieder lachte der Mann mit den braunen Augen und Oskar zog als Antwort nur die Mundwinkel leicht nach oben. Oh ja, das ist sie wahrscheinlich wirklich, dachte er bitter, während sich der andere bereits entfernte und offenbar plötzlich in Eile in einem der Gänge verschwand. Der Zurückgelassene sah noch einen Augenblick weiter in die Richtung, in die Simon verschwunden war, fuhr sich schließlich mit beiden Händen mehrmals hintereinander durch sein Haar und ließ gleichzeitig geräuschvoll die angestaute Luft aus seiner Lunge.
Oh man, was mache ich hier eigentlich? Oskar begutachtete seinen Einkauf, seufzte und schob den Wagen langsam Richtung Kasse. Was war nur aus seinen Prinzipien geworden, Arbeit und Privates zu trennen? Nur weil Silvester ist!, verteidigte er sich prompt vor sich selbst und führte seine innere Diskussion weiter. Wer verbringt diesen Abend denn auch schon alleine?
Wie von einer fremden Kraft getrieben sah er sich erneut um und musste zugeben, dass er etwas enttäuscht war, Lynn vor wenigen Minuten nicht auch angetroffen zu haben. Zu gerne hätte er gewusst, wie sie auf die Einladung ihres Mannes reagiert hätte. Vielleicht mal mit etwas mehr Emotionen? Oskar zog unbewusst seine Mundwinkel erneut nach oben. Die Vorstellung, dass sich das Ehepaar gerade vielleicht stritt, gefiel ihm irgendwie. Allerdings wäre es ihm noch lieber gewesen, in das Gesicht der Frau hätte sehen zu können, wenn diese erfuhr, dass er den heutigen Abend mit ihr und ihren Freunden verbringen würde.
Weiter in sich gekehrt, packte Oskar seinen Einkauf aufs Kassenband, während er sich eingestand, dass er sich auf ein Wiedersehen mit ihr freute. Ohne es genau erklären zu können, fand er es auf einmal spannend herauszufinden, wie das Privatleben von Lynn aussah. Wenn sie mich nicht dabeihaben will, hat sie ja jetzt meine Nummer. Oskars Lächeln wurde noch etwas breiter und seine schlechte Laune der letzten Tage schien mit einem Mal wie durch Zauberhand verschwunden. Bei der Kassiererin angekommen, räumte er seinen Einkauf zurück in den Wagen, bezahlte und machte sich anschließend auf den Heimweg.
***
»Hast du sie noch alle?«, brüllte Lynn in ihr Smartphone, das sie zwischen Ohr und Schulter gepresst hielt, während sie mit nassen Haaren, die an ihrem Nacken klebten und einem großen Handtuch, das sie um ihren Körper gewickelt hatte, vor einer der Kommoden im Schlafzimmer stand. Wütend wühlte sie in einer der Schubladen, fischte frische Unterwäsche heraus und warf sie aufs Bett. »Wie kommst du dazu, ausgerechnet für Herrn Weyland den barmherzigen Samariter spielen zu wollen und ihn für heute einzuladen?«
»Oskar, er heißt Oskar! Lynn, jetzt beruhig dich doch mal!« Simon versuchte beschwichtigend auf seine Schwester einzureden, die heftiger reagierte, als er vermutet hatte. »Man verbringt Silvester doch nicht allein auf der Couch und pfeift sich 'ne Tiefkühlpizza und Bier rein, wenn man mit Freunden feiern kann.«
»Wir sind keine Freunde!«, fauchte Lynn weiter, wobei sie gar nicht sagen konnte, weshalb sie so heftig reagierte. Sie wusste nur, dass sie mit Oskar nichts zu tun haben wollte. Nicht, nachdem er sich bei der letzten Begegnung so abweisend verhalten hatte und sie jetzt schon spürte, wie ihr Herz nur bei dem Gedanken, ihm später zu begegnen, schneller anfing zu schlagen. Auf der Arbeit würde sie damit klarkommen, wenn er sie ignorieren würde, doch nun sollte sie das auch noch privat ertragen? So würde sie diesen Abend doch niemals genießen und entspannen können!
»Lynn, jetzt reiß dich mal zusammen! Er ist unser Gast, okay?« Die Lautstärke von Simons Stimme hatte sich nicht verändert, aber der Ärger darin war nicht zu überhören. Lynn stellte auf Freisprecher, schmiss ihr Handy ebenfalls auf die Matratze und rieb ihren Unterleib trocken. Als sie sich nach vorne beugte, um ihren Slip zu schnappen, erschauerte sie kurz und hielt inne. Kleine Wasserbäche rannen von ihren Schultern über ihren Rücken nach unten und es tropfte von ihren Haaren auf die Bettdecke.
»Meinst du nicht, du hättest mich trotzdem vorher fragen sollen?« Zügig nahm sie noch mal das große Handtuch und rubbelte über ihren Kopf.
»Wieso denn? Oskar scheint ein echt netter Kerl zu sein. Was ist also so schlimm daran, sich auch privat etwas näher kennenzulernen? Hör zu, ich habe ihm gesagt, dass du ihn abholen und wieder nach Hause bringen würdest.«
»Wow! Jetzt darf ich auch noch den Fahrdienst spielen!« Sie stritten eine Weile, während sich die frisch Geduschte eincremte und weiter anzog. Dann nahm sie das Telefon wieder in die Hand und ging zurück ins Bad. Sie war aufgewühlt, aber sie wusste auch, dass sie gegen Simons Entscheidung nichts tun konnte. »Okay, okay. Aber ich werde nicht für seine Bespaßung sorgen!«
»Ich denke auch nicht, dass er das von dir erwartet.« Womit Simon vermutlich recht hatte. »Wir anderen sind ja auch noch da.«
Lynn seufzte, während sie ihre Haare kämmte, und blickte im Badezimmerspiegel auf ihr rotes, erhitztes Gesicht. »Also schön! Wann sollen wir also da sein?«
***
Oskars Telefon vibrierte. Er hatte schon eine Weile auf dem Sofa gesessen und rieb sich nervös seine Hände an der dunkelgrauen Jeans ab, bevor er nach dem Smartphone griff. Er entsperrte das Display und las sogleich die knappe Nachricht, die ihm schon als Vorschau angezeigt wurde.
Lynn Sambeck
[Ich warte draußen.]
Ruckartig stand er auf, stopfte sein Mobiltelefon in die Hosentasche und eilte schnellen Schrittes Richtung Flur. Dort angekommen schnappte er sich seinen Mantel von der Garderobe, schlüpfte hinein und griff nach einem Stoffbeutel, in dem er all die ungesunden Snacks gepackt hatte, die er am Nachmittag eingekauft hatte. Zum Schluss stopfte er sich noch Portemonnaie und Schlüssel in seine Manteltasche und trat nach draußen.
Zwar hatte er am Morgen schon den Weg von seiner Haustür zur Straße freigeschaufelt, doch war dieser schon wieder weiß zugepudert. Allerdings machte der Schneefall gerade eine Pause.
Oskar ließ seinen Blick zur Straße schweifen, entdeckte dort einen dunklen Kleinwagen, dessen Motor lief und vermutete sofort, dass Simon demnach das Familienauto fuhr. Bedächtig schritt der Mann, die Tasche leicht an sich gedrückt, gleich darauf bedächtig auf das Fahrzeug zu, öffnete wenig später die Beifahrertür und lugte sogleich mit gebeugtem Oberkörper hinein. »Guten Abend!«, grüßte er Lynn direkt im Anschluss, die ihm schon entgegensah und sein anschließendes breites Lächeln, so wie er es kannte, nur ganz schwach erwiderte.
»Guten Abend«, erwiderte sie trocken, fast kühl und wartete offensichtlich ungeduldig darauf, dass er einstieg, was er auch gleich tat. Als sie kurz darauf losfuhren, lief im Hintergrund leise das Radio, doch blieb es ansonsten still im Wagen. Dabei hatte Oskar sich fest vorgenommen zu fragen, ob Lynn vielleicht wirklich etwas gegen sein heutiges Dabeisein hatte. Doch wagte er es am Ende während der Fahrt nicht mal in ihre Richtung zu schauen, nachdem er bemerkte, dass sie das Lenkrad fest umklammerte und ihre Augen konzentriert auf die Straße gerichtet waren.
Keine zwanzig Minuten später waren sie dann offensichtlich auch schon am Ziel angekommen, da der Wagen langsamer wurde, bis er ganz zum Stehen kam, woraufhin Oskar es endlich wieder wagte, seinen Kopf zu drehen und seine Sitznachbarin in Augenschein zu nehmen, der anzusehen war, wie angespannt sie war. Er hörte sie leise seufzen, als sie den Rückwärtsgang einlegte und ließ sie weiter nicht aus den Augen, während sie sich als Nächstes leicht zu ihm beugte, um durch die Sitze nach hinten blicken zu können. Sofort spürte Oskar, wie sein Herz für eine Sekunde aussetzte, bis es gleich im Anschluss schnell anfing zu schlagen, während Lynns Kopf und Oberkörper immer wieder näher kamen, während sie rückwärts in die Parklücke fuhr.
Unbewusst neigte sich Oskar dabei immer weiter zu ihr, bis er den frischen, sauberen Duft ihres Shampoos wahrnehmen konnte und außerdem feststellte, dass sie auch heute kein Parfum trug. Als Lynn nur wenige Sekunden später ihren Körper wieder in seine Ausgangsposition brachte, kreuzten sich wie von selbst ihre Blicke und Oskar hielt unwillkürlich den Atem an, da es ihn im nächsten Moment wie ein Blitz traf: Lynns grünbraune Augen hatten das gelbliche Licht der Straßenlaternen, das durch den Wagen drang, eingefangen, sodass nun vor allem das Bernsteinfarbene in ihrer Iris hervortrat und regelrecht leuchtete.
Völlig davon eingenommen, musste Oskar Lynn daraufhin einfach anstarren, bis sein Gegenüber plötzlich die Stirn runzelte und er schnell seinen Kopf wegdrehte, sich wieder zurücklehnte und mit erhöhtem Puls seine Lider senkte. So verging eine gefühlte Ewigkeit, in denen keiner der beiden sich rührte und außer dem leisen Motorengeräusch nur noch das fröhliche Geplänkel des Radiomoderators zu hören war, bis Lynn mit einem Mal die Handbremse mit einem knarzenden Geräusch anzog.
Wie von selbst schaute Oskar sofort wieder zu ihr herüber und konnte so zusehen, wie am Zündschloss gedreht und der Schlüssel gleich darauf herausgezogen wurde. Sofort wurde es im Kleinwagen noch stiller und das Zurückschnappen von Lynns Anschnallgurt kam Oskar fast ohrenbetäubend laut vor.
»Wir sind da!« Lynns schroff herausgebrachter Satz wirkte sogar noch störender, fast wie eine Drohung, wobei sie seinen starrenden Blick völlig unerwartet erwiderte und dabei ihre Lider leicht zusammenkniff. Sie schien etwas sagen zu wollen, schien es sich dann aber doch anders zu überlegen und griff stattdessen mit einem hörbaren Schnauben nach der Wagentür, aus der sie wenige Sekunden später ausstieg. Schwungvoll und mit einem lauten Knall schlug sie sie gleich darauf wieder zu und entfernte sich mit sichtbar geballten Fäusten vom Wagen, ohne sich offenbar darum zu kümmern, was der noch darin Sitzende tat.
Schnell griff Oskar deshalb nach seinem Beutel, stieg ebenfalls aus und sah sich kurz um. Die Siedlung schien neu zu sein, da es zwar auch schon ein paar hübsche neue, aber auch unfertige Häuser und Gärten sowie einige freie Flächen drumherum gab. Außerdem waren manche Wege noch provisorisch und nur aus Schotter.
Noch während er sich einen Überblick verschaffte, erklang wie aus dem Nichts das Geräusch der Zentralverriegelung, sodass der 37-Jährige schnell nach seiner Begleitung Ausschau hielt, die, wie er feststellen musste, schon ein paar Meter vorangegangen war, anstatt auf ihn zu warten. Sie ging zielstrebig weiter auf eines der Gebäude zu, was zu einem der Häuser gehörte, die schon komplett hergerichtet waren und klingelte, sodass er sich beeilte, sie einzuholen. Fast im gleichen Moment wurde aber auch schon die Haustür aufgerissen und Sarah stand im Türrahmen, als hätte sie auf das Schellen an der Klingel regelrecht gewartet, woraufhin Oskar seine Gangart augenblicklich verlangsamte und die letzten Schritte auf das Haus zutrottete, als wäre sein Trödeln schuld am Abstand zwischen ihm und seiner Kollegin.
Er bemerkte, dass Sarah nach ihm Ausschau hielt, sich letztendlich aber Lynn zuwandte und so laut rief, sodass auch er es hören konnte: »Da seid ihr ja! Ihr seid ja alle echt überpünktlich. Kommt doch rein!«
Überschwänglich wurde zuerst die Frau, die bereits an der Türschwelle stand, in den Arm genommen, und als Oskar endlich auch am Haus ankam, streckte Sarah auch ihm die Arme entgegen. Der so Begrüßte rührte sich allerdings nicht, sodass sie ihre Arme wieder herunternahm und ihm, als hätte sie ihn verstanden, stattdessen lächelnd eine Hand zum Gruß anbot, die er dann auch kurz drückte.
Das war also Sarahs Haus. Simon ging also nicht nur mit seiner Frau und seiner Geliebten gleichzeitig ins Kino, sondern verbrachte auch Silvester gleich mit beiden zusammen. Wie praktisch, schoss es Oskar sogleich durch den Kopf. Das kann man wohl Fremdgehen auf ganz hohem Niveau nennen, überlegte er weiter und bemerkte im selben Moment, wie ein kleiner Schauer seinen Nacken herunterlief.
Er fuhr sich angespannt durch das Haar, als er an der Gastgeberin vorbeiging, bekam seinen Mantel abgenommen und wurde wenig später Richtung Wohnzimmer geführt. Wie von selbst sah er sich sofort wieder nach Lynn um, die schneller als er gewesen war, sich von Mantel sowie ihrer Schuhe zu befreien, und ihm noch immer keine weitere Beachtung schenkte. Als wollte sie ihm am liebsten aus dem Weg gehen.
Wie zur Bestätigung bog sie dann auch – weiterhin, ohne sich nach ihm umzusehen – in einen anderen Raum ab und ließ ihn mit Sarah allein, was ihm überhaupt nicht gefiel. Unruhig sah er Lynn deshalb mit einem seltsamen Gefühl in der Brustgegend nach, doch blieb ihm nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, ob er im Wagen vielleicht doch ein paar Worte zu ihr hätte sagen sollen, da Simon plötzlich vor ihm stand und ihm wie zuvor Sarah mit offenen Armen entgegenkam und strahlend zurief: »Da ist ja unser Ehrengast!«
Der Mann mit dem unverkennbaren Grinsen zwinkerte und drückte sein Gegenüber, noch bevor dieser sich wieder dagegen wehren konnte, kameradschaftlich an sich, woraufhin Oskar innerlich aufstöhnte. Noch bevor er den anderen Gästen vorgestellt wurde und er darüber aufgeklärt werden würde, was er an diesem Abend alles zu erwarten hatte, wusste er so schon, dass dieses Silvester für ihn unvergesslich werden würde.