Es war ein gewöhnlicher Donnerstagabend. Oskar saß mit seinen Eltern gemeinsam am Esstisch der großen Wohnküche und aß mit ihnen zu Abend. Wie so oft wurde während des Essens nicht viel geredet, sodass das Klappern von Besteck, das auf den Teller gelegt wurde, fast störend erschien. Otto Weyland, Oskars Vater, hatte sich eben noch das letzte Stück Schnitzel in den Mund gesteckt und war offensichtlich mit seiner Mahlzeit fertig. Noch immer blieb es still, bis man ihn tief Luft holen hörte und er schließlich sagte: »Ich weiß, dass das jetzt vielleicht überraschend kommt, aber ...« Die Pause war nicht lang, aber man merkte, dass er zögerte. »Ich will die Scheidung.«
Gisela Weyland sowie ihr Sohn sahen fast gleichzeitig bestürzt auf.
»Ich finde, wir haben einfach nichts Gemeinsames mehr.« Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau, die wie versteinert wirkte. »Und es bringt meiner Meinung nach auch nichts, da noch irgendetwas zu versuchen.«
Wie zur Entschuldigung zog Otto Weyland die Schultern leicht nach oben. Er nahm einen großen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor ihm stand und vermied es, ein weiteres Mal aufzublicken.
»Wir haben schon seit Ewigkeiten keine Themen mehr zu bereden, weil alles wie von selbst läuft. Den einzigen Berührungspunkt, den wir in den letzten Jahren noch hatten, war Oskar.« Er wagte es, in Richtung seines Sohnes zu sehen und lächelte ihn an, als würde er auf dessen Unterstützung hoffen. »Und du bist mittlerweile Gott sei Dank aus dem Gröbsten raus und alt genug, dass wir uns nicht mehr ständig Sorgen um dich machen müssen. Stimmt's, mein Junge?«
Sprachlos starrte Oskar seinen Vater an. Glaubte dieser etwa wirklich, dass man ab der Volljährigkeit seine Eltern nicht mehr braucht? Der junge Mann ballte seine Hand zur Faust und schaute stumm zu seiner Mutter. Für sie musste der Schock noch größer sein als für ihn, denn es hatte in Oskars Ohren danach geklungen, als würde sein Vater ihr die Schuld zuschieben wollen, um sich von ihr trennen zu können. Dabei war sie es all die Jahre gewesen, die die Familie zusammengehalten hatte. Und das fast zwanzig Jahre lang.
Sie war Köchin und Reinigungskraft, Organisatorin und Friedenstifterin, Geschichtenerzählerin und Zuhörerin. Kurz: Die beste Familienmanagerin, die Oskar kannte. Damals war es erst nur Otto Weylands Wunsch gewesen, dass sie nach ihrer Schwangerschaft weiter daheimblieb. Doch wusste Oskar, dass sie mittlerweile gern Hausfrau und Mutter war und sich bewusst dazu entschieden hatte, sich ganz ihrer Familie zu widmen und jederzeit für sie da zu sein.
Vielleicht hatte es auch deshalb nie zur Debatte gestanden, dass sie in ihren damaligen Beruf als Verkäuferin zurückkehren würde. Selbst nicht, als Oskar bereits alt genug gewesen wäre, ein paar Stunden allein zu Hause zu sein und obwohl sie ihre Arbeit damals sehr gemocht hatte. Und nun sollte all das falsch gewesen sein?
Oskar biss sich auf die Unterlippe und sah, wie seine Mutter blinzelte. Es schimmerte verdächtig in ihren Augen, aber sie hielt ihre Tränen tapfer zurück. Schließlich antwortete sie fast tonlos: »Ja, wenn du dir sicher bist, dass es wirklich keinen anderen Weg gibt ...« Ihr Blick war auf die Mitte des Tisches fixiert.
»Ich habe mir die Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht und lange darüber nachgedacht. Das musst du mir glauben.« Herr Weyland räusperte sich und stand geräuschvoll auf. »Aber so ist es das Beste. Für uns alle. Glaub mir.« Er schob seinen Stuhl an den Tisch zurück und beugte sich zu seiner Frau nach unten. Diese schloss die Augen und hielt still, als er sie aufs Haar küsste.
»Ich möchte nur, dass du glücklich bist.« Ihre Worte waren nicht mehr als ein Wispern.
»Ich weiß. Und darum weiß ich auch, dass du für mich Verständnis hast, mein Schatz. Ich habe schon ein paar Sachen gepackt und werde fürs Erste bei Wolfgang übernachten. Ich melde mich die Tage bei dir.«
Und mit diesen Worten verschwand er, seinem Sohn noch einmal zulächelnd, aus dem Raum.
Frau Weyland hielt ihre Augen geschlossen, bis man nach wenigen Minuten die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, und sackte erst dann in sich zusammen.
Hilflos sah Oskar, wie sie in lautes Schluchzen ausbrach und ihr Körper bebte, als sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Bis sie sich allerdings zu besinnen schien, das nicht vor ihrem Kind zu tun, hektisch aufstand und ins Elternschlafzimmer flüchtete.
Seit diesem Tag war es fast unheimlich still in der Wohnung, da niemand da war, der am Esstisch Geschichten von der Arbeit erzählte, vor dem Fernseher die Nachrichten kommentierte oder sich über Politiker aufregte. Und selbst nach Wochen konnte Oskar noch immer nicht begreifen, warum sein Vater ohne Vorwarnung und scheinbar auch ohne große Reue seine Mutter und ihn verlassen hatte.
Seines Wissens hatte es nicht mal Streit zwischen seinen Eltern gegeben. Genauso wie es für ihn nie danach ausgesehen hatte, als wäre in deren Beziehung etwas nicht in Ordnung gewesen. Ob die Offenbarung seines Vaters für seine Mutter jedoch wirklich überraschend gekommen war und sie vom Vorhaben ihres Mannes nichts geahnt hatte, konnte er natürlich sagen. Doch selbst wenn dem so gewesen sein sollte, war es offensichtlich, dass die Trennung sie mitnahm.
Abends konnte man die sonst so quirlige und fröhliche Frau im Schlafzimmer weinen und schluchzen hören. Worüber auch nicht ihre wie sonst heiter wirkende Stimmung hinwegtäuschen konnte. Zudem war sie nicht in der Lage, die roten Augen und die dunklen Schatten darunter zu verbergen und es zerriss Oskar fast das Herz, seine Mutter so zu sehen. Er wusste, dass sie sich sogar Mühe gab, nicht zu schwach zu wirken, da er sich gerade mitten in den Abiturvorbereitungen befand.
Doch mit der Zeit wurde sie immer zerstreuter und schien mit den einfachsten Dingen im Haushalt überfordert zu sein. Also versuchte er, zwischen seinen Freizeitaktivitäten, Lernen und Prüfungen bei den täglichen Aufgaben zu helfen und sie im Allgemeinen zu entlasten. Er spürte einfach, dass sie Unterstützung im Alltag brauchte, weshalb er damit begann, sich das Frühstück und Essen für die Schule selbst zu machen. Das hatte er bisher nie tun müssen, doch so konnte seine Mutter morgens länger liegen bleiben und sich von den schlaflosen Nächten erholen. Außerdem erledigte er so gut wie alles, wofür sonst sein Vater zuständig gewesen war. Was weniger war, als Oskar sich anfangs vorgestellt hatte.
So verging das Trennungsjahr des Ehepaars geradezu wie im Flug. Und zumindest oberflächlich betrachtet, verlief auch die anschließende Scheidung schnell, reibungslos und vor allem einvernehmlich. Was in Oskars Augen vor allem daran lag, dass seine Mutter alle zugesandten Formulare widerspruchslos ausfüllte, da Otto Weylands Anwalt offenbar an alles gedacht hatte: Sie konnte mit Oskar in der Eigentumswohnung bleiben und beide würden zumindest in den kommenden Jahren Unterhalt bekommen. Am Ende glaubte Gisela Weyland sogar, dankbar sein zu müssen, dass sich um alles gekümmert wurde. Was allerdings nur ihre Ansicht war.
Oskars Empörung hingegen wuchs sogar immer mehr über das für ihn unverständliche Verhalten seines Vaters. Was er gegenüber seiner Mutter auch nicht verheimlichte und ihr deutlich zu verstehen gab, dass er mit dem Mann nicht mehr reden, geschweige denn zu tun haben wollte. Vor allem, da Otto Weyland deutlich genug gezeigt hatte, dass er mit der Scheidung nicht nur die Beziehung zu seiner Frau beenden, sondern auch alles andere abkappen wollte, was mit seinem Leben davor zu tun hatte. Wozu offenbar auch sein Sohn gehörte.
Im ganzen Jahr hatte er es nur an zwei Tagen für nötig gehalten, sich zu melden: an Oskars Geburtstag und zu Jahresanfang. Nicht mal bei der Abiturabschlussfeier war er aufgetaucht, was Oskar maßlos enttäuscht, ihn aber gleichzeitig in seiner Theorie bestärkt hatte. Und obwohl das Verhältnis zueinander nie sonderlich herzlich gewesen war, hinterließ das unmissverständlich gewollte Abkapseln bei Oskar Frust, Ohnmacht und vor allem Wut. Weshalb er aus einer Laune heraus und weil er sich nicht anders zu helfen wusste, beschloss, nicht mehr der Erste zu sein, der Kontakt aufnahm – was damit endete, dass bald vollkommene Funkstille zwischen Vater und Sohn herrschte.
Währenddessen litt Gisela Weyland, zumindest für Oskar unübersehbar, sehr unter der Trennung. Genau genommen schien sie gar nicht wahrhaben zu wollen, dass ihr Mann die Familie, aber hauptsächlich sie verlassen hatte und es auch kein Zurück mehr gab. Denn selbst nach über einem Jahr hielt sie seine Entscheidung noch immer für eine Phase und glaubte fest daran, dass sie ihm nur etwas Zeit und Raum geben musste, bis er wieder nach Hause kam. Doch spätestens am Tag des Scheidungstermins wurde sie von der Realität eingeholt, da Otto Weyland ihr deutlich zu verstehen gab, dass sie ihn danach vermutlich nie wieder sehen würde. Was scheinbar ein erneuter Schlag für sie war und selbst Tage später immer noch ein trauriges, fast verzweifeltes »Warum?« in ihrem Gesicht geschrieben stand.
Oskar kannte die Antwort selbstverständlich nicht, doch hatte er auch nicht wie seine Mutter das Bedürfnis, diese Frage jemals beantwortet zu bekommen. Er empfand sogar Erleichterung, als die Scheidung vollzogen war.
Seine Wut gegen seinen Vater war mittlerweile zu einem inneren Groll geworden, mit dem er gut leben konnte. Und er glaubte fest daran, dass es seiner Mutter ebenfalls irgendwann besser gehen würde. Auch wenn es ihr jetzt noch schwerfiel, auf eigenen Beinen zu stehen und allein entscheiden zu müssen, wie ihre weitere Zukunft aussehen sollte.
Am Ende dauerte es sogar Monate, bis sie aufhörte, sich ständig im Schlafzimmer zu verkriechen. Und es brauchte noch länger, bis sie zögerlich damit anfing, von ihren neuen Wünschen und Träumen zu erzählen. Doch war es Oskar nicht wichtig, wie viel Zeit sie benötigt hatte, um wieder zu sich selbst zu finden. Ihm war es nur wichtig, dass sie überhaupt wieder auf die Beine kam.
Er merkte, dass sie ernsthaft versuchte, aus ihrem tiefen Loch herauszukommen. Weshalb er ihr aus einem Gefühl heraus vorschlug, alles aufzuschreiben, was sie ab sofort tun und erreichen wollte. Von den kleinen Dingen bis hin zu den großen. Damit sie vor Augen hatte, auf was sie sich alles freuen konnte, aber auch, um im Nachhinein zu sehen, was sie geschafft hatte. Und genau dieser Anreiz weckte scheinbar ihren Antrieb, sich Gedanken zu machen, wie und womit sie sich am besten etwas Gutes tun konnte. Was damit begann, dass sie auch mal allein ins Kino ging und damit endete, dass sie sich bei alten Bekannten und Freunden meldete, zu denen der Kontakt in den letzten Jahren eingeschlafen war.
Ihr mutigster Entschluss war jedoch, dass sie wieder ins Berufsleben zurückkehren wollte. Trotz der langen Pause und der fehlenden Erfahrung im Schreiben von Bewerbungen. Aber letztendlich gelang ihr auch das, nachdem sie an einigen Kursen bei der Volkshochschule teilnahm und sie nicht aufgab. Sie bekam die Chance, in einer kleinen Boutique in Teilzeit als Verkäuferin zu arbeiten und hatte am Ende nicht nur wieder einen Job, der ihr Spaß machte, sondern gewann auch einiges an Selbstvertrauen zurück.
Frau Weyland und ihr Sohn wurden im Laufe der weiteren Jahre ein eingespieltes Team. Weshalb Oskar nach dem Studium auch noch eine Weile bei seiner Mutter wohnen blieb. Als er allerdings seinen ersten festen Arbeitsvertrag in der nächstgrößeren Stadt bekam, suchte er sich schließlich doch eine neue Bleibe.
Nach längerer Suche fand er dann auch ein kleines Haus, das zum Verkauf angeboten wurde und wie auf ihn zugeschnitten schien. Allerdings plagte ihn anfangs noch das schlechte Gewissen, ausziehen zu wollen, da er seiner Mutter nicht das Gefühl geben wollte, nun endgültig von allen verlassen worden zu sein.
Doch anders als vermutet, schien sie ganz Feuer und Flamme von seinem neuen Zuhause zu sein. Am Tag des Umzugs half sie ihm im Rahmen ihrer Möglichkeiten sogar tatkräftig und gut gelaunt mit, sodass am Ende nur noch einige Kleinmöbel aufgebaut und Kartons ausgepackt werden mussten. Die anderen Umzugshelfer leisteten ebenfalls gute Arbeit und schneller als erwartet waren Gisela und Oskar Weyland bald die Einzigen, die noch im Haus verblieben. Mit einem Schlag war es ungewohnt still, nachdem es zuvor noch hektisch und laut zugegangen war. Und es schien, als wüsste keiner der beiden, was er als Nächstes sagen sollte. Es war zu spüren, dass ihnen klar war, dass sie sich ebenfalls voneinander verabschieden mussten, was jedoch einfacher klang als es war.
Nachdem jeder für eine Weile schweigend in die Gegend geschaut hatte, warf Oskar seiner Mutter schließlich einen verlegenen, fast betroffenen Blick zu, den sie mit einem liebevollen Lächeln erwiderte.
»Schau nicht so besorgt, Junge! Ich weiß, was du sagen willst. Aber glaub mir, ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.« Frau Weyland lächelte noch etwas wärmer, als ihr Sohn den Kopf kurz senkte. »Wir können schließlich nicht ewig aufeinander hocken. Also war deine Entscheidung völlig richtig. Das habe ich dir aber auch schon gesagt. Wenn du mich also wie versprochen regelmäßig anrufst und besuchst, reicht mir das vollkommen aus.« Sie streckte ihre Arme nach ihm aus, woraufhin er sie wortlos umarmte und mit geschlossenen Augen fest an sich drückte. »Du weißt, dass ich dich immer lieb haben und für dich da sein werde, nicht wahr?« Ihre Stimme klang etwas gedämpft. »Du kannst also jederzeit nach Hause kommen, wenn du mich brauchst.« Sie rieb ihm über den Rücken und er atmete ihren vertrauten Geruch ein.
»Ich weiß«, antwortete er, während er einen langgezogenen Seufzer ausstieß.
Er spürte, wie sie in seinen Armen leicht zitterte und genau wie er leise weinte. Doch trotz des emotionalen Abschieds wurde es Zeit für ihn, auf eigenen Beinen zu stehen. Und mehr Freiraum brauchte er auch, da er immer öfter nach seinen Frauenbekanntschaften gefragt wurde.
Er wusste, dass seine Mutter es nur tat, weil sie hoffte, dass er die Liebe seines Lebens fand und mit ihr glücklich werden würde. Sie wünschte sich zudem Enkelkinder, die sie, ihrer eigenen Aussage nach, noch mehr verwöhnen würde, als sie es jemals bei ihm getan hatte. Doch im Gegensatz zu ihr glaubte Oskar nicht, dass er jemanden an seiner Seite brauchte, um ein ausgefülltes Leben zu haben. Wozu auch? Er hatte einen Job gefunden, der ihm gefiel und viele, gute Freunde, die ihn schon seit Jahren begleiteten.
Wahrscheinlich wäre seine Mutter enttäuscht, wenn diese wüsste, dass ihre Vorstellung, was gut für ihn war, einfach nicht der seinen entsprach. Also war er froh über den räumlichen Abstand, um nicht täglich den Druck zu verspüren, den sie ihm vermutlich unbewusst auferlegte.
*
»Aufstehen! Papa hat gesagt, du sollst aufstehen!«
Lynn war bereits durch Stimmengewirr, gedämpftem Lachen und dem Klappern von Geschirr halb wach, als jemand quengelnd an ihrer Bettdecke zog. Sie hatte in der Nacht nicht gut geschlafen und tierische Kopfschmerzen quälten sie. Sie kniff die Lider zusammen und gab ein Laut des Unmuts von sich.
»Papa meint, wenn du nicht aufstehst, isst er den ganzen Speck allein auf!«
Lynn murrte bei dem letzten Satz laut auf und spürte, wie sich im nächsten Moment etwas Warmes an sie schmiegte und einen feuchten Kuss auf ihrer Wange hinterließ. Mit müdem Blick blinzelte sie und blickte in große, haselnussbraune Augen, die sie erwartungsvoll ansahen.
»Ich komme gleich.« Träge rappelte sie sich im Bett auf und wurde sogleich von zwei Kinderarmen beschlagnahmt, die sich um ihren Hals klammerten.
Das achtjährige Mädchen mit den dunkelbraunen Locken presste ihre Wange an die von Lynn und verharrte so. »Du musst dich beeilen! Oma und Opa sind auch schon da!«
Lynn hielt ihre Nichte Valerie kurz an sich gedrückt, gab ihr dann ebenfalls einen Kuss auf die Wange und löste sich aus der Umarmung. »Ist ja gut. Sag deinem Papa, ich brauche noch fünf Minuten, okay?«
Lynns Eltern Ulla und Alexander Sambeck hatten sich vor zwei Jahren dazu entschlossen, sich einer Senioren-WG anzuschließen. Da das Reihenhaus jedoch nicht verkauft werden sollte, hatte Lynn sich breitschlagen lassen, aus ihrer kleinen Wohnung am Rande der Stadt aus und ins Elternhaus zurück zu ziehen. Das war allen als die einfachste und beste Lösung erschienen, da zu diesem Zeitpunkt Lynns sechs Jahre älterer Bruder Simon mit seiner Frau Sarah bereits sein eigenes Grundstück mit Haus erworben hatte.
Damit sich Lynn in ihren alten und gleichzeitig neuen vier Wänden allerdings auf Dauer nicht zu einsam fühlte, wurde abgemacht, sich einmal im Monat im Hause Sambeck zu versammeln und an einem der Samstage gemeinsam zu frühstücken. Was für Lynn mittlerweile zur Lieblingstradition geworden war. Sie beeilte sich daher, sich frisch zu machen und anzuziehen und lächelte voller Vorfreude, als sie ins große Wohnzimmer trat. Am großen Esstisch saßen bereits ihre Eltern sowie ihre Nichte und unterhielten sich angeregt.
»Da ist ja unsere Schlafmütze!«, erklang es aus der Ecke, in der ihr Vater saß, woraufhin sich alle Augen auf sie richteten. Lynn warf einen schnellen Blick auf die große Digitaluhr an der Wand, nach der es erst kurz nach neun Uhr war.
»Lass sie doch! Nur weil du morgens schon um sechs aufstehst, müssen das deine Kinder am Wochenende nicht auch tun.« Ulla Sambeck sah ihren Mann strafend an. Sie war ehemalige Schulsekretärin und seit knapp drei Jahren im Ruhestand. »Außerdem hatte Lynn gestern ihre Weihnachtsfeier. Da ist es sicher etwas später geworden. Nicht wahr, Liebes?« Sie streckte ihrer Tochter die Arme entgegen, die sich daraufhin zärtlich an sie drückte und sie küsste. Auf die gleiche Weise begrüßte Lynn auch ihren Vater und lächelte ihn danach verschmitzt an. Er gab ihr einen weiteren kleinen Kuss auf die Wange und zwinkerte ihr zu. Beide wussten, dass seine Bemerkung nicht böse gemeint war.
»Und? Wie war's?« Lynn blickte zu ihrem Bruder, der mit zwei dampfenden Schüsseln in den Händen den Raum betrat. Er grinste sie schelmisch an. »Hat sich dein neuer Kollege an dich heran geschmissen?«
Lynn runzelte die Stirn. »Warum sollte er?«
Simon stellte die Schüsseln in die Mitte des Tisches und hob theatralisch die Schultern nach oben. »Stimmt. Wieso sollte er?« Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Simon!«
Dem mahnenden Blick seiner Mutter ausweichend setzte er sich noch immer feixend zwischen seine Tochter und seinem Vater, einem pensionierten Deutsch- und Erdkundelehrer.
»Okay, okay. Ist ja schon gut. Aber habt ihr wenigstens miteinander angestoßen?«
»Hat sich nicht ergeben«, erwiderte Lynn knapp, während sich ihre Miene verdüsterte. Seitdem sie erwähnt hatte, dass sie nun einen Mann als direkten Kollegen hatte, zog ihr Bruder sie bei jeder Gelegenheit damit auf. Denn dummerweise hatte sie damals auf die Frage, ob dieser gut aussehen würde, mit Ja geantwortet.
Urplötzlich flackerte vor Lynns inneren Auge das Gesicht von Oskar Weyland auf, wie er sie gestern aus halb geschlossenen Lidern angesehen und sich aus den gegebenen Umständen heraus an sie geklammert hatte. Sie hatte seinen Atem an Gesicht und Ohr gespürt. Und genau wie jetzt hatten sich dabei sämtliche Nackenhaare bei ihr aufgerichtet ...
Schnell brach sie ihre Gedankengänge ab, da sie genau das nicht tun wollte: sich an das erinnern, was am Vorabend zwischen ihr und ihrem Kollegen vorgefallen war. Darum würde sie auch nicht davon erzählen. Vor allem, weil sie wusste, dass sie von Simon dann erst recht aufgezogen werden würde.
Lynn merkte, wie ihre Wangen warm wurden und es wieder schmerzhaft gegen ihre Schläfe pochte. Ob sie sich vielleicht eine Erkältung eingefangen hatte? Eilig nahm sie auf dem freien Stuhl neben ihrer Nichte Platz und zog die Schüssel mit Speck zu sich. Dabei warf sie ihrem Bruder einen eindringlichen Blick zu, um deutlich zu machen, dass sie keine Lust hatte, weiter über Herrn Weyland zu reden.
Simon war jedoch sichtlich unbeeindruckt von ihrer Mimik und meinte stattdessen weiter: »Komischer Kollege.« Er schaufelte sich seelenruhig Rührei auf den Teller und fragte noch: »Ist wohl sehr beschäftigt gewesen, was?«
Lynn stöhnte leise auf. »Ja, wie das auf so einer Feier nun mal sein kann«, schloss sie die Diskussion ab und stopfte sich betont gelangweilt einen Speckstreifen in den Mund. Sie hatte gehofft, dass ihre Mutter die Weihnachtsfeier nicht erwähnen würde, doch sie hätte es besser wissen müssen. »Wo ist eigentlich Sarah?« Sie wechselte übergangslos das Thema.
»Sie hat die nächsten Tage Dienst, aber Heiligabend hat sie immerhin ab dem Nachmittag freibekommen.«
Ihre Schwägerin arbeitete als Sozialpädagogin in einem Jugendwohnheim. Simon war ebenfalls Sozialpädagoge, aber als Fachberater bei der Stadt angestellt. Er und seine Frau hatten sich während des Studiums kennengelernt.
»Wir kaufen heute einen Tannenbaum!«, rief Valerie aufgeregt dazwischen und griff nach Lynns Arm. »Kommst du mit?« Ihr Mund war leicht umrandet mit Nussnougatcreme und ihre dazu passenden Augen strahlten. Diese hatte ihr eindeutig Simon vererbt, während für die Haarpracht des Mädchens Sarahs Gene verantwortlich waren.
»Klar, das hatte ich doch versprochen.«
Die Gespräche am Frühstückstisch plätscherten daraufhin noch eine Weile dahin, bis alle gesättigt waren. Schließlich erhoben sich die Großeltern zuerst, verabschiedeten sich von ihren Kindern und küssten und drückten noch einmal ihre Enkeltochter, die ganz offensichtlich die Zuneigung der beiden genoss. Gleich im Anschluss räumten Lynn und Simon mit Valeries Hilfe den Essbereich und die Küche auf, redeten über die letzten Schultage und was die Familie in den Schulferien geplant hatte und machten sich kurze Zeit später auf den Weg, um einen Baum für das Weihnachtsfest zu besorgen.