»Tut mir echt leid wegen Silvester, Mann.« Richard steckte sich Popcorn in den Mund, als er zu Oskar rüber sah, der mit ihm in der letzten Reihe des Kinosaals saß. Die anderen Besucher trudelten ebenfalls langsam ein und besetzten ihre Plätze.
»Hättest du mir das nicht schon früher sagen können?« Genervt griff Oskar in die große Tüte, die sein Freund in der Hand hielt und füllte seinen Mund ebenfalls mit aufgepopptem Mais.
»Du hast nicht gefragt! Und ich hatte bis Weihnachten echt viel um die Ohren. Da habe ich vergessen, dir Bescheid zu geben. Die Kinder freuen sich schon riesig auf den Ferienpark. Wir fahren morgen schon los.«
Wieder griff der muskulöse Mann in die Tüte und man hörte es zwischen seinen Zähnen knirschen.
»Ich bin Silvester immer bei euch!«
Die Stimmen der beiden Männer waren lauter geworden, sodass ihnen bereits Blicke zugeworfen wurden.
Richard seufzte. »Frag doch deine Mutter!«
Oskar, der gerade am Strohhalm seiner Cola sog, verschluckte sich fast und hustete. »Spinnst du? Ich verbringe Silvester doch nicht mit einer Horde Rentnerinnen.« Grimmig sah er zu seinem Sitznachbarn, der brummend lachte und den Kopf schüttelte.
»Ich kann da jetzt echt nichts mehr machen. Sprich doch mit den anderen Jungs!«
Nun war es Oskar, der den Kopf schüttelte und mit gereizter Stimme meinte: »Hab ich schon. Philipp und Alex sind mit ihren Mädels auf einer Party, und da hab ich echt gar keine Lust drauf.« Er war sichtlich sauer und Richard seufzte erneut.
»Hast du denn niemanden bei dir in der Nähe kennen gelernt, den du noch fragen könntest?« Er zwinkerte verschwörerisch. »Du bist doch so ein hübsches Kerlchen. Meinst du nicht, du könntest noch irgendwo unterkommen?«
Der Gefragte lehnte seinen Kopf gegen den Sitz und grummelte: »Das hübsche Kerlchen verpasst dir gleich eine.«
Wieder erklang die tiefe Lachstimme seines Kumpels, der jedoch gleich darauf tröstend erwiderte: »Du wirst dir schon was einfallen lassen.«
»Klar.« Der jüngere der beiden griff noch mal in die Popcorntüte, womit das Gespräch für ihn beendet war. Im nächsten Moment wurde auch schon das Licht gedimmt und der erste Werbespot lief ab. Gelangweilt schaute sich der eben noch Schimpfende im Saal um und bemerkte ein paar Nachzügler, die einige Reihen schräg vor ihm ihre Plätze aufsuchten. Er verfolgte, wie sie sich in Kolonne durch die Reihe drängten und runzelte die Stirn, als ihm einen Augenblick später in den Kopf kam, dass die vorneweg gehende Frau seiner Kollegin verdammt ähnlichsah.
Langsam richtete sich Oskar in seinem Sessel auf, streckte seinen Oberkörper, um besser sehen zu können, und war sich danach sicher: Vor ihm befand sich Frau Sambeck. Sie war in Begleitung ihres Mannes und einer weiteren weiblichen Person und der 37-Jährige fühlte, wie sein Herz mit einem Mal schneller anfing zu schlagen.
Verdammt, was war nur los mit ihm?
Aufgrund der Lichtverhältnisse konnte er die drei Leute, die schließlich Platz nahmen, nur schemenhaft erkennen, aber stierte er trotzdem weiter nach vorne und ertappte sich sogar dabei, wie er insgeheim hoffte, dass sich seine Kollegin umdrehen würde.
Bist du blöd? Wieso sollte sie das tun? Willst du ihr etwa wieder zuwinken?
Sich selbst verspottend, rutschte Oskar wieder tiefer in den Sessel und richtete seinen Blick auf die große Leinwand, da das Licht im Saal komplett erlosch und der Film startete. Die Vorstellung lief schon eine Weile, als der doch etwas neugierig Gewordene erneut in Frau Sambecks Richtung blickte und genau in diesem Augenblick sah, wie ihr Mann einen Arm hob. Er schlang ihn um den Hals der Person neben sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn - und diejenige war nicht Oskars Kollegin.
Was zum – ?
Oskars Oberkörper schnellte nach vorne.
»Alles okay bei dir?« brummte es leise an sein Ohr, da sich sein Freund ebenfalls vorgebeugt hatte.
»Ja klar«, erwiderte er flüsternd, lehnte sich rasch wieder zurück und wandte seinen Blick schnell vom Dreier-Gespann ab, da er sich ertappt fühlte. Dabei ging es ihn überhaupt nichts an, was da gerade vor sich ging.
Oskar versuchte, sich erneut auf den Film zu konzentrieren, der wirklich gut war, doch konnte er nicht anders, als irgendwann aufs Neue nach unten zu starren. Mittlerweile lehnte der Lockenkopf der fremden Frau an Herrn Sambecks Schulter, während seine Ehefrau offensichtlich völlig ahnungslos gespannt die nächste Actionszene verfolgte.
Der 37-Jährige spürte, wie eine bisher unbekannte Wut in ihm aufstieg, das Blut an seiner Schläfe pulsierte und sein Atem ebenfalls schneller ging. Und das, obwohl ihm klar war, dass ihn das Privatleben seiner Kollegin nicht zu kümmern hatte. Doch wuchs in ihm trotzdem das Verlangen, den Kerl zu ihrer Rechten aus seinem Sitz zu reißen und ihm die Faust ins Gesicht zu schlagen.
Oskar, der sonst überhaupt kein gewalttätiger Typ war, ballte eine Hand fest zusammen und presste sie gegen seine Brust, um sich wieder zu beruhigen.
***
Als der Film zu Ende war, war Oskar erleichtert. Er hatte den weiteren Verlauf gar nicht weiterverfolgen können, da sein Blick immer wieder abgeschweift war. Als der Abspann lief und wenig später das Licht anging, erhob er sich ruckartig, um besser sehen zu können, was in den unteren Rängen vor sich ging. Dabei wusste er schon, dass Herr Sambeck seinen Arm von der anderen Frau, die Oskar nicht kannte, schon eine ganze Weile zurückgezogen hatte und sah, dass alle drei auf ihren Plätzen sitzen blieben, während sich die anderen Zuschauer an ihnen vorbeidrängelten.
»Willst du hier festwachsen?«
Richard, der direkt nach seinem Freund aufgestanden war, schubste ihn an, um ihm zu deuten, dass die anderen Besucher auf ihn warteten, doch blieb der weiter stehen und reckte sein Kinn.
»Einen Moment noch.«
Er machte Platz, sodass man an ihm vorbeigehen konnte, hielt, als sein Blickfeld wieder frei war, erneut nach seiner Kollegin Ausschau und stellte mit stiller Erleichterung fest, dass sie noch immer auf ihrem Sessel saß. Sie unterhielt sich mit ihren Begleitern, sah dann aber scheinbar flüchtig in seine Richtung und als wäre das sein Zeichen gewesen, winkte er ihr nun doch wild gestikulierend zu. Ohne sich auch nur im Geringsten darum zu scheren, ob das in den Augen anderer albern aussah oder nicht.
Frau Sambeck wirkte erst etwas irritiert, schien ihn aber dann zu erkennen und hob sichtlich zögernd ebenfalls eine Hand, woraufhin Oskars Herz sofort ungewollt einen Sprung machte, auch wenn der Moment nur wenige Sekunden andauerte, da sie sich schon wieder wegdrehte. Allerdings schien ihre zaghafte Bewegung weder schnell noch versteckt genug gewesen zu sein. Denn sogleich blickte ihr Mann, wohl den Grund ihrer erhobenen Hand wissen wollend, ebenfalls in die oberen Ränge, wo sich die beiden Freunden befanden und setzte sogleich sein unverkennbares Grinsen auf, als er einen davon erkannte.
Dann winkte auch er Oskar zu, der im Gegensatz zu der Frau richtig begeistert wirkte den anderen zu sehen, was bei dem Zugewunkenen ein unangenehmes Gefühl hinterließ. Denn erneut spürte er, ohne etwas dagegen tun zu können, erneut wie die Wut in ihm hochkam. Schnell ließ der in den oberen Rängen Stehende seinen Arm sinken, den er ganz vergessen hatte, herunterzunehmen, und beobachtete, wie das Grüppchen als Nächstes wild miteinander zu diskutieren begann.
»Wer ist das?«
Richard hielt die leere Popcorntüte sowie seinen Trinkbecher vor sich und schaute seinen Freund fragend an.
»Das ist Frau Sambeck.«
»Hm. Eigentlich gar nicht dein Typ. Und ihr hast du gesagt, dass du sie liebst?«
»...«
»Am Ende zählen eben doch die inneren Werte, was?« Richard gackerte, schlug dem Mann neben sich auf die Schulter und zog einen Mundwinkel nach oben. »Was hat sie eigentlich zu deiner Entschuldigung gesagt?«
»Wir ... haben das geklärt.«
Just erinnerte sich Oskar daran, wie die eben noch Erwähnte vor wenigen Tagen ohnmächtig in seinen Armen gelegen hatte. Ihr Haar hatte nach Seife geduftet und ihr Körper hatte sich angenehm weich angefühlt, als er sie festgehalten hatte ...
Der Mann holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht war er wirklich verflucht, dass ihm neuerdings ständig solche Gedanken in den Kopf kamen, wenn er an seine Kollegin dachte. Sich schnell wieder auf das Gespräch konzentrierend, räusperte er sich kurz verhalten und warf seinem besten Freund einen entschlossenen Blick zu.
»Und ja. Sie ist wirklich nicht mein Typ.«
Seine Stimme klang nicht ganz so fest wie er es sich gewünscht hätte, weshalb er eine kurze Pause machte. Er spürte, wie sein Herz erneut unruhig flatterte, woraufhin er eine Hand auf seine Brust legte.
»Und außerdem ist sie verheiratet.«
Oskar stellte fest, dass der Saal mittlerweile fast leer war und sah, wie das Trio unter ihm aufstand, woraufhin er sich ebenfalls in Bewegung setzte.
»Ehrlich? Bist du sicher?«
»Ziemlich. Und sie hat eine Tochter.«
»Wow, das ist bitter.«
Ohne darauf einzugehen und nachzuhaken, was Richard damit meinte, wurde Oskar schneller. Er hatte weder Lust auf eine weitere Diskussion über dieses Thema, noch war sie gerade wichtig. Viel mehr drängte es ihn, sich zu beeilen und seine Kollegin nicht aus den Augen zu verlieren. Die schien ihm beim Gehen noch mal einen kurzen Blick zuzuwerfen, schaute dann aber wieder stur nach vorne und verschwand Sekunden später aus dem Kinosaal.
***
»Du kannst ihm zumindest kurz Hallo sagen!« Simon rieb Lynn beruhigend über den Rücken, der anzusehen war, wie sehr sie damit kämpfte, ruhig zu bleiben. Die vielen Stimmen um sie herum, kamen der jungen Frau ohrenbetäubend vor, denn wie vor wenigen Tagen prophezeit, ließ der Schwall an Menschen natürlich nicht nach. Während die einen das Kino verlassen wollten, stand schon der nächste Schwung an Leuten an den Kassen und vor den Kinosälen.
Halt suchend umklammerte die Leidende ihren Mantel, den sie sich über den Arm geworfen hatte, noch fester und spürte im nächsten Moment eine warme Hand, die nach ihr griff. Sarah lächelte ihrer Schwägerin aufmunternd zu und lotste sie durch das Labyrinth von Menschen. Lynn wurde zu einer Stelle geführt, wo man stehen bleiben konnte, ohne angerempelt zu werden und die Frau mit dem Lockenkopf drückte der anderen noch mal die Hand, bevor sie sie wieder losließ.
»Vielleicht war das doch keine so gute Idee von mir.« Besorgt sah Sarah auf die blasse Frau vor sich, die abwehrend mit dem Kopf schüttelte.
»Nein, nein. Alles ist gut. Der Film war echt super.«
Das Lächeln, das Lynn aufsetzen wollte, nachdem sie mit zitternder Stimme gesprochen hatte, misslang kläglich. Es sah eher so aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Simon zog seine Schwester daraufhin zu sich ran und tätschelte ihr erneut den Rücken.
»Wir gehen ja gleich. Schau, da ist er schon.«
Lynn, die sich eben erst an ihren Bruder gelehnt hatte, hob ihren Kopf und sah dem Erwähnten sowie noch einen anderen Mann, der kräftiger und größer als ihr Kollege war, auf sie zukommen. Der Unbekannte, den sie vorhin schon gesehen hatte, ging lässig mit hochgezogenen Mundwinkeln neben Herrn Weyland her und hatte einen Arm um dessen Schulter gelegt. Und als beide bei dem Grüppchen ankamen und vor ihnen stehen blieben, wurde das Lächeln des Fremden sogar noch breiter.
Geistesgegenwärtig, aber auch befangen, löste sich die 32-Jährige schnell von Simon und wandte sich widerstrebend den beiden Männern zu. Dabei fiel ihr sofort auf, dass ein Paar blaue Augen sie zu durchbohren schien, was sie erst recht verunsicherte.
»Guten Abend, Herr Weyland!«
Ihr Bruder streckte dem bereits Kennenden die Hand entgegen, der daraufhin schnell seine Blickrichtung änderte und Lynns Bruder ansah.
»Guten Abend, Herr Sambeck.«
»Das ist aber eine Überraschung.«
»Ja, allerdings.«
Irgendetwas im Tonfall ihres Kollegen machte Lynn stutzig.
»Schön, Sie auch mal kennenzulernen! Ich habe schon viel von Ihnen gehört!«
Der breitschultrige Mann hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Er lächelte Lynn direkt an, was sie zögernd erwiderte, und machte einen Schritt auf sie zu. Er hatte schon viel von ihr gehört? Die Angesprochene wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Sie schaute erneut zu Herrn Weyland, der ihren Blick mit unergründlicher Miene erwiderte, und noch bevor sie den Mut aufbringen konnte, ihn zu fragen, was genau er erzählt hatte, wandte er sich wieder von ihr ab und seinem Freund zu. Der wiederum reichte ihr seine Hand, und obwohl diese eher einer Pranke glich, war der Händedruck angenehm.
»Ich bin übrigens Richard.« Sein Lächeln wandelte sich in ein offenes breites Grinsen. Er zwinkerte und beugte sich zu ihr vor. »Es ist doch okay, wenn wir uns duzen, oder?«
Unentschlossen sah sie zu ihrem Bruder, dann zu ihrem Kollegen, der, genau wie sie, vom Angebot des anderen Mannes überrumpelt zu sein schien, und dachte gerade, dass es wahrscheinlich keine so gute Idee war, das Angebot anzunehmen, als sich ihre Schwägerin nach vorne schob.
»Klar! Wieso nicht? Ich bin Sarah.«
Sie schüttelte erst Richard die Hand und anschließend Herrn Weyland, wobei es so schien, als hätte es dem sonst so gesprächigen Mann an diesem Abend wirklich die Sprache verschlagen. Während Lynn noch darüber nachgrübelte, was der Grund dafür sein könnte, grinste ihr Bruder in die Runde und folgte dem Beispiel seiner Frau. »Simon!«
Als sich alle mit ihren Vornamen vorgestellt hatten, hob Lynns Bruder eine Hand, als wolle er sich Gehör verschaffen, und fragte: »Wie wäre es, wenn wir alle zusammen noch irgendwo was trinken gehen?«
Erneut breit lächelnd stellte er sich zwischen die beiden Frauen und legte seine Arme um sie.
»Ich muss morgen arbeiten. Das wird mir zu spät«, wendete Sarah ein.
»Und ich möchte bitte nach Hause.« Lynn hatte bemerkt, dass sie von Oskar schon wieder angestarrt wurde. Als sie jedoch ihren Blick hob und sich ihre Augen trafen, schaute er schnell zur Seite.
»Schade. Ich hätte nichts dagegen gehabt.« Richard legte seine Hand wieder auf die Schultern seines Freundes ab und sah zu ihm rüber. »Ein paar neue Bekanntschaften zu machen ist doch prima.«
»Ja, das sehen wir genauso.« Lynn spürte, wie ihr Bruder sie leicht an sich drückte, wobei sie ihn am liebsten getreten hätte.
Konnte er nicht ein Mal seine Klappe halten?
»Wir wollen euch aber nicht weiter aufhalten.« Oskar schien endlich seine Stimme wieder gefunden zu haben. »Falls wir uns also nicht mehr sehen«, Lynn sah, wie er Simon einen längeren Blick zuwarf, der nicht gerade freundlich wirkte, »schon mal einen guten Rutsch ins neue Jahr.«
Herr Weyland – nein, Oskar – benahm sich wirklich merkwürdig. Er wirkte geradezu verärgert. Nur worüber?
»Ja. Einen schönen Abend noch.«
Sie versuchte so gelassen wie möglich zu klingen, auch wenn es innerlich ganz anders bei ihr aussah. Sie löste sich aus Simons Umarmung, schüttelte zuerst Richard zum Abschied die Hand, der sie wieder anlächelte, und dann ihrem Kollegen. Dieser schien es fast noch eiliger zu haben als sie, den viel zu lauten Ort zu verlassen, denn er spähte bereits Richtung Ausgang. Er wich aus, als sie noch mal versuchte, ihm direkt in die Augen zu schauen, und blickte stattdessen stur auf ihre Hand, die er nur leicht drückte. Gleich im Anschluss zog sie ihren Mantel an, schlang ihren Schal um den Hals und ging vorneweg nach draußen, noch bevor sich auch die anderen voneinander verabschiedet hatten. Sie hatte das Gefühl zu ersticken, wenn sie noch eine Minute länger im viel zu stickigen und überfüllten Kino und vor allem mit ihrem Kollegen zusammengestanden hätte.
Nicht darauf achtend, ob die anderen ihr folgten, sog sie draußen angekommen sogleich die frische Luft ein und bemerkte erst durch die Kälte, wie heiß ihre Wangen waren. Draußen war der Asphalt mit einer dünnen, weißen Schicht bedeckt ,und es kamen immer noch kleine Schneeflocken von oben herunter, die vereinzelt auf Lynns Gesicht landeten, als sie es nach oben Richtung Himmel reckte. Sie stülpte sich die große Kapuze ihrer neuen Jacke über den Kopf, stopfte ihre Hände in die Manteltaschen und schloss ihre Augen.
Wieso nur hatte sie ausgerechnet heute schon wieder ihrem Kollegen über den Weg laufen müssen? Er hatte sich wirklich äußerst seltsam verhalten und den Eindruck gemacht, als wenn ihm die Begegnung mit ihr mehr als unangenehm gewesen war.
Wahrscheinlich hält er dich doch für eine Verrückte, nachdem was vor zwei Tagen passiert ist.
»... echt attraktiv.« Sie hörte Sarahs Stimme hinter sich und öffnete bei deren Worten sofort ihre Lider.
»Ah, da bist du ja.« Lynn drehte sich um und sah in Simons funkelnde Augen. »Der steht auf dich. Hundertpro.«
Die Angesprochene schnaubte und ballte ihre Hände in den Taschen zu Fäusten. Seine Neckereien waren so langsam echt nicht mehr lustig. Hatte er denn nicht mitbekommen, dass ihr Kollege – oder wie Simon sagen würde neuer Bekannter – sie heimlich angeschaut hatte, aber sie nicht ein Mal direkt hatte ansehen können? Dabei hatte sie nach ihrem Anfall und nach Simons beruhigenden Worten die schwache Hoffnung gehabt, dass ihr Kollege einfach so tun würde, als wäre nichts gewesen.
Doch dessen Zurückhaltung und das ihrer Meinung nach schon eher abweisende Benehmen vor wenigen Minuten hatten sie eines Besseren gelehrt. Wahrscheinlich war er sogar von seinem Freund überredet worden, noch etwas zu bleiben und miteinander zu reden, so wie es ihr mit ihrem Bruder ergangen war. Und auch wenn sie es gewohnt war, dass Leute Distanz zu ihr hielten, musste Lynn zugeben, dass Oskars Verhalten sie verletzt hatte und ihr gerade ziemlich zum Heulen zumute war.
Wie wohl nach Jahreswechsel das Zusammenarbeiten mit ihm sein würde? Würde er sie weiterhin meiden?
Sie schluckte hart und straffte ihre Schultern.
»Können wir das Thema endlich sein lassen? Er ist mein Kollege. Nichts weiter. Und jetzt will ich bitte nach Hause!«
Ihre Stimme klang fest und endgültig, während ihre Augen brannten. Sie wartete eine Antwort nicht ab, sondern stapfte über den schneebedeckten Boden in Richtung Parkhaus, ohne sich noch mal umzusehen.