Lynn mochte den meist nasskalten Winter nicht, aber sie liebte Weihnachten. In dieser Zeit kam die ganze Familie zusammen und ihre Eltern blieben danach meistens noch ein paar Tage. So kam es Lynn jedes Mal so vor, als würden alle noch unter einem Dach wohnen.
Damit es vor allem Heiligabend entspannt blieb, hatte auch jeder seine feste Aufgabe: Ulla Sambeck schmückte mit Valerie den Tannenbaum und das Haus, Simon und Alexander Sambeck erledigten die letzten Einkäufe und Lynn bereitete das Essen vor. Normalerweise teilten sich die beiden Schwägerinnen Letzteres, doch da Sarah dieses Jahr bis zum Nachmittag arbeiten musste, kümmerte sich Lynn allein darum.
Zum Abendessen waren jedoch alle zusammen. Und obwohl Valerie die ganze Zeit über quengelte, gab es erst danach Bescherung. Es war ein schönes, friedliches Weihnachten und doch war Lynn etwas erleichtert, als danach wieder Ruhe ins Haus einkehrte. Während der Feiertage hatte sie viel mehr gegessen als sonst und dafür weniger geschlafen. Was vermutlich auch der Grund war, warum sie am ersten Morgen, an dem sie wieder allein war, erst gegen neun Uhr aufwachte.
Sie duschte ausgiebig, zog sich an und entschied spontan, den freien Tag für einen Bummel durch die Stadt zu nutzen. Das Wetter versprach, trocken zu bleiben, sodass Lynn beschloss, den Weg dorthin zu Fuß zu gehen, wofür sie etwa eine halbe Stunde benötigen würde. Zuerst frühstückte sie allerdings gemütlich, schaffte noch ein wenig Ordnung im Haus und machte sich schließlich zum Ausgehen fertig.
Sie zog zu ihren dunklen Jeans und einem hellblauen Sweatshirt ihren neuen hellrosa Wintermantel an, der ihr dieses Jahr von ihren Eltern geschenkt worden war. Denn ein »wir Erwachsenen schenken uns gegenseitig nichts« gab es bei den Sambecks nicht. Der Mantel hatte eine große weite Kapuze, war tailliert und ab der Hüfte leicht ausgestellt. Die Knöpfe waren im gleichen Ton gehalten wie der Stoff und der Mantel reichte fast bis zu den Knien. Kurz gesagt: Lynn liebte ihn.
»Wow! Lynn ist jetzt unser rosa Rotkäppchen!« Simon hatte selbst an Weihnachten nicht seine Klappe halten können und auf seine übliche Art gegrinst, als sie das Kleidungsstück stolz ihrer Familie präsentiert hatte. Sarah hatte ihren Mann daraufhin lachend angeschubst und Ulla Sambeck hatte ihr ermahnendes »Simon!« von sich gegeben. »Schon gut! War ja nicht böse gemeint. Er steht dir. Wirklich!«, hatte er gleich darauf eingelenkt.
Doch Lynn hatte sich ohnehin nicht für seine Meinung interessiert. Sie hatte ihr Geschenk schon zu ihrem neuen Lieblingskleiderstück auserkoren, als es noch auf der Kleiderstange in einer kleinen Boutique gehangen hatte. Ihr war damals beim Bummeln mit ihrer Mutter nur der Preis zu hoch gewesen, weshalb sie den Mantel nicht gekauft hatte. Er war somit etwas Besonderes und musste sorgsam gepflegt werden. Außerdem würde sie ihn nur zu bestimmten Anlässen tragen. So wie heute zum Beispiel.
Lynn betrachtete sich prüfend im großen, neben der Garderobe hängenden Spiegel und strich sich eine Strähne ihres heute offen getragenen, etwas mehr als schulterlangen Haares hinter ihr Ohrläppchen. Sie trug außer Wimperntusche kein Make-up, wobei sie Letzteres im Allgemeinen sehr selten benutzte. Sie lächelte sich kurz zu, schlüpfte dann in ein Paar hellgraue Stiefeletten und wickelte einen überlangen, ebenfalls grauen Schal um den Hals. In ihrem kleinen Lederrucksack verstaute sie den üblichen Kram, den eine Frau so mit sich trug, griff nach ihrem Schlüssel und verließ das Haus.
Draußen war es trocken, aber kalt, weshalb Lynn gleich eine schnellere Gangart einschlug. Gut gelaunt genoss sie den kleinen Spaziergang, bis sie immer langsamer wurde. Je näher sie der Innenstadt kam, desto mehr Menschen und Autos drängten sich durch die Straßen. Und in der Fußgängerzone erschien das Getümmel sogar noch schlimmer. Schlimmer als in den Wochen vor den Feiertagen. Als liefe ein Wettrennen, wer am schnellsten seinen Gutschein einlöste oder sein Geschenk umtauschte.
Lynn stöhnte leise und widerstand dem Drang, wieder umzukehren, während sie innerlich mit sich selbst schimpfte. Sie hatte vollkommen vergessen, dass es nach den Feiertagen in der Stadt selbstverständlich voll sein würde und sie sich für einen gemütlichen Ausflug dorthin, vermutlich den schlechtesten Tag des Jahres ausgesucht hatte.
Ihr Herz pochte hart gegen ihre Brust, während sie mit hochgezogenen Schultern ihre Hände tief in die Manteltaschen vergrub. Sie ging möglichst nah an den Schaufenstern entlang und dachte daran, dass sie vor einigen Jahren bei diesem Tumult schon wieder auf dem Heimweg gewesen wäre. Doch heute wollte sie die Kontrolle behalten und sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen.
Kurz warf sie einen Blick auf einige der Leute, die an ihr vorbeieilten und stellte fest, dass fast jeder von ihnen gestresst wirkte. Sie waren allein unterwegs oder in Gruppen, hatten Einkaufstüten oder ihre Smartphones in den Händen und schoben Kinderwagen oder Gehhilfen vor sich her. Lynn hörte Kinder lachen und weinen, Geschimpfe und Geplapper der Passanten sowie Gitarrenmusik und den Gesang eines Straßenmusikers in der Ferne.
Du schaffst das, redete sie sich zu und rief sich angespannt ins Gedächtnis, dass das Schubsen und Drängen vollkommen normal waren. Genau wie die vielen Geräusche, die auf sie einprasselten. Nichts davon stellte eine drohende Gefahr dar und dennoch spürte Lynn, wie sie immer nervöser wurde.
Sie wagte es kaum, langsamer zu werden, geschweige denn anzuhalten, da sie allein bei dem Versuch, in die einzelnen Schaufenster zu schauen, von mehreren Seiten angerempelt wurde. Böse Blicke folgten. Darum gab sie es bald auf und ließ sich stattdessen vom Menschenstrom mitreißen. Wie in Trance bewegte sie sich vorwärts und wurde ein Teil der Masse, die sich durch die Hauptstraße der Fußgängerzone schob.
Im Vorbeigehen sah sie, wie die letzten Verkaufsbuden vom Weihnachtsmarkt abgebaut wurden, als hätten es die Schausteller eilig, jede Erinnerung an die Zeit der Ruhe und Besinnung auszulöschen. Es war ein beklemmender Gedanke, weshalb sie ihn schnell wieder wegschob. Stattdessen kämpfte sie sich schließlich doch zu einer der Seitengassen durch und bog dort ab. Sie ging ein kleines Stück und erreichte ein kleines Café, das noch nicht komplett von den Stadtbesuchern eingenommen worden war. Vermutlich, weil es von der Hauptverkaufsstraße aus nicht direkt ins Auge sprang.
Sie ergatterte sogar einen Fensterplatz und bestellte einen Milchkaffee. Erschöpft schloss sie die Augen und blickte danach auf ihr Smartphone. Sie hatte weder eine neue Nachricht noch einen Anruf verpasst, womit sie auch nicht gerechnet hatte. Simon war mit Sarah und Valerie bei den Schwiegereltern und Ulla und Alexander Sambeck hatten sich mit Freunden zum Frühstück verabredet. Es war allerdings schon nach elf Uhr, wonach ihre Eltern mittlerweile vielleicht ebenfalls in der Stadt waren und sich durch die Straßen und Geschäfte drängelten. Lynn erschauerte, wenn sie daran dachte, sich gleich auch wieder in das Gewusel hineinbegeben zu müssen.
Eine sichtlich gestresste Angestellte stellte ihr die große Tasse Milchkaffee hin, an der sie sogleich nippte und sich fast die Lippe verbrannte. Sich mit der Zunge darüber fahrend, seufzte sie leise und sah sich um. Nicht nur draußen herrschte reges Treiben, sondern auch drinnen. Während sie die Leute beobachtete und darauf wartete, dass ihr Kaffee abkühlte, beschloss sie, zurück nach Hause zu gehen.
Nachdem sie ihn in einem Zug austrinken konnte, bezahlte sie, trat dick eingepackt wieder ins Freie und fädelte sich mit zusammengepressten Lippen erneut in den Menschenstrom ein. Sie merkte allerdings schon nach wenigen Schritten, wie ihre Beine immer schwerer wurden und sich ihre Hände verschwitzt anfühlten. Oh mein Gott. Bitte halt durch!, sprach sie sich mit starkem Herzklopfen zu, während sie nach Luft rang. Du schaffst das. Du schaffst das!
Doch ihr Körper hatte sein Limit erreicht. In ihren Ohren rauschte es und ein beklemmendes Gefühl setzte sich auf ihre Brust. Es kostete sie immer mehr Anstrengung, weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen und sie nahm ihre Umgebung kaum noch wahr. Verbissen konzentrierte sie sich auf den Boden, während sie sich krampfhaft an den Tragegurten ihres Rucksacks festhielt.
Lynn merkte, wie ihr Tränen aufstiegen, die sie mit aller Kraft zurückdrängte. Sie wollte hier weg. Nein, sie musste hier weg. Und zwar sofort. Ihr Puls schlug ihr bis zum Hals und ihre Atmung machte lauter kleine Aussetzer, dass sie glaubte, gleich zu ersticken. Und als wäre das nicht schlimm genug, packte plötzlich jemand ihren Arm und drängte sie Richtung Schaufenster.
Panisch schnappte sie daraufhin erst recht nach Luft und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Sie drehte sich von ihrem Angreifer weg und zog ihren Arm an ihren Körper. Doch das half nicht viel. Die Hand ließ ihren Arm zwar los, griff aber dafür nach ihrer Schulter und drückte diese leicht.
Lynn war fast blind vor Angst und aus ihrer Kehle kam ein hohes Fiepen. In ihren Ohren dröhnte es und sie spürte erst jetzt, dass sie auch an Nacken und Rücken heftig schwitzte. Plötzlich hielt sie inne, da sie glaubte, aus weiter Ferne ihren Namen gehört zu haben. Oder fing sie etwa an, Stimmen zu hören? Mit einem Ruck schaffte sie es, sich von ihrem Angreifer loszureißen. Sie stolperte schnaufend auf die gläserne Wand zu, um den Abstand zu ihrem Gegner zu vergrößern und drehte sich leicht torkelnd wieder um. Bitte, jemand muss mir helfen ...!
»Lynn. Lynn!« Da war es wieder. Jemand hatte eindeutig nach ihr gerufen! Hektisch sah sie von links nach rechts, um denjenigen ausfindig zu machen, doch war vor ihren Augen alles verschwommen. Schließlich starrte sie nach unten auf die Schuhe der hohen Gestalt vor sich, bei der sie sich sicher war, dass es sich um einen Mann handelte. Sie wartete mit weichen Knien, was dieser als Nächstes vorhatte und hob schwer atmend ihre Arme vor die Brust. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und presste mit finsterer Miene ihre Lippen aufeinander. Wenn der Typ es auch nur wagen sollte, sie nochmal anzufassen, würde sie sich diesmal mit Händen und Füßen wehren. Und sie würde schreien!
Vage konnte sie erkennen, wie ihr Gegenüber langsam eine Hand nach ihr ausstreckte. »Frau Sambeck.« Ihr Name erklang diesmal glasklar. Von einer Stimme, die ihr vertraut vorkam. Doch Lynn konnte nichts sagen, geschweige denn sich vom Fleck bewegen. »Lynn!« Es war eindeutig die Person vor ihr, die zu ihr sprach und sie spürte, wie ihre Beine drohten, nachzugeben. Langsam glitt ihr Blick nach oben. »Lynn?« Sie sah in blaue, besorgte Augen. »Frau Sambeck, beruhigen Sie sich.«
Und dann wurde alles schwarz.
*
Nach den Feiertagen war Oskar wieder wohlbehalten und mit jeder Menge neuem Vorrat nach Hause zurückgekehrt. Um die letzten noch freien Tage auszunutzen, hatte er gestern mit Richard telefoniert und sie hatten ausgemacht, sich zusammen den gerade angelaufenen Actionfilm im Kino anzusehen. Den nächsten gemeinsamen Termin im Fitnessstudio verlegten sie auf das neue Jahr.
»Aber du kaufst die Karten«, war Richards Forderung gewesen. »Und sorge gefälligst für ordentliche Plätze!« Weshalb Oskar an diesem Morgen unterwegs war.
Nach dem Aufstehen ging er zuerst joggen, gönnte sich danach eine heiße Dusche und saß wenig später in einem der Cafés in der Innenstadt. Wach und erfrischt, aber auch hungrig frühstückte er ausgiebig und beobachtete, wie sich die Straßen und Passagen mehr und mehr mit Menschen füllten.
Als er das Café verließ und vor dem Kino stand, drängten sich die Leute bereits Seite an Seite durch die Fußgängerzone, was ihn aber nicht störte. Er hatte immerhin nicht vor, sich lange an dem völlig überfüllten Ort aufzuhalten. Natürlich hätte er die Tickets auch online buchen können, doch hatte er ohnehin Zeit, was sonst nicht so häufig vorkam. Die Karten oldschoolmäßig am Schalter des Kinos zu kaufen, hatte daher fast etwas von Luxus. Als er die Tickets in der Tasche hatte, folgte er gut gelaunt und leichtfüßig dem Menschenstrom. Es war ein gutes Gefühl, schon wieder auf dem Weg zu seinem Wagen zu sein, während die anderen ihre Erledigungen noch vor sich hatten.
Und da bemerkte er sie: Frau Sambeck, wie sie aus einer der Nebenstraßen trat. Sie schaute sich kurz um, woraufhin er automatisch den Arm hob und lächelte. Als er allerdings bemerkte, dass sie sich schon wieder umdrehte und sich wie die anderen nach vorn schob, ließ er den Arm schnell wieder sinken.
Oskar seufzte. Was hatte er sich denn erhofft, wenn sie ihn entdeckt hätte? Mit ihr einen kleinen Plausch abzuhalten? Schon der Gedanke daran kam ihm abstrus vor und ließ ihn erneut lächeln. Trotzdem schaute er wieder zu der Frau im hellen Mantel, die in der Masse der vielen eher dunkel gekleideten Menschen gut herausstach. Er sah, wie sie den Kopf gesenkt hielt und, als ob plötzlich jemand hinter ihr her wäre, ihren Gang beschleunigte. Sich umschauend, konnte Oskar jedoch nichts Verdächtiges feststellen.
Das Verhalten seiner Kollegin beunruhigte ihn zunehmend. Weshalb er ebenfalls einen Schritt zulegte, um näher an sie heranzukommen. Er drängelte sich an einigen Leuten vorbei, sodass er nur noch etwa eine Armlänge von Frau Sambeck entfernt war und rief schließlich ihren Namen. Doch sie schien ihn nicht zu hören. Während er weiterlief, musste er sich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Wobei ihm auffiel, wie anders Frau Sambeck heute aussah. Ihre offenen Haare, ihre geröteten Wangen und ihr leicht geöffneter Mund …
Wie hübsch, kam es ihm in den Sinn. Wobei ihm allerdings auch nicht entging, dass ihre Augen auf den Boden geheftet waren und ihr das Atmen offenbar schwerfiel. Ihr Körper war leicht nach vorn gebeugt und die Schultern waren hochgezogen. Wonach definitiv etwas nicht in Ordnung war. Dennoch überlegte er, wie nett es wäre, wenn Frau Sambeck ihre Haare im Büro ab und zu wie heute tragen würde und zog gleich darauf die Augenbrauen zusammen. Wieso hatte er ausgerechnet jetzt diese schrägen Gedanken?
Wieso denn nicht?, fragte das kleine Teufelchen auf seiner linken Schulter. Was ist denn schon dabei? Woraufhin das Gegenstück entgegnete: Weil sie verheiratet ist, du Blödmann! Was Oskar wieder zur Besinnung rief, dass es im Augenblick andere Dinge gab, die ihn beschäftigen sollten, wie zum Beispiel Frau Sambecks seltsames Verhalten. Weswegen er sich ihr schließlich weiter näherte, bis er knapp neben ihr stand. Noch einmal, nun etwas lauter, rief er ihren Namen, doch sie ignorierte ihn erneut. Aus einem Impuls heraus griff er nach ihrem Arm und wurde im selben Moment von einem Passanten angerempelt. Ungewollt wurde Oskar an sie gedrückt und schob sie mit zur Seite.
Blitzschnell, als habe er sie mit Absicht bedrängt, zog sie ihren Arm weg und drehte sich von ihm ab. Er sah, wie ihr die Panik ins Gesicht geschrieben stand, während sie einen hohen piepsenden Ton von sich gab. Geschockt und hilflos zugleich, dass sie so heftig auf seine versehentliche Annäherung reagierte, starrte er sie einen Moment an. Am Ende fiel ihm trotzdem nichts Anderes ein, als ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen und sie erneut anzusprechen.
Da bemerkte er, dass sie zitterte. Doch noch bevor er ihr deutlich machen konnte, dass sein Bedrängen keine Absicht gewesen war, riss sie sich erneut von ihm los. Sie stolperte nach vorn Richtung Schaufenster und drehte sich gleich wieder zu ihm um. Sichtlich verstört ruckte ihr Kopf hin und her. Sie ballte ihre Hände vor ihrer Brust zu kleinen Fäusten und ihr Blick sowie ihre Haltung verrieten, wie bedroht sie sich fühlte.
Oskar hielt den Abstand zwischen ihnen deshalb weiter und streckte vorsichtig eine Hand nach ihr aus. »Frau Sambeck!«, versuchte er zu ihr durchzudringen, während sie auf seinen Arm starrte. »Lynn!« Ihr Blick glitt höher und erreichte seine Brust, während sie gefährlich schwankte. »Lynn?« Er wurde unbewusst immer lauter. So ruhig wie möglich, aber innerlich zum Bersten gespannt, ging er wieder auf sie zu. Bis sie ihm endlich ins Gesicht sah. »Frau Sambeck, beruhigen Sie sich.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, sah Oskar, wie ihre Knie nachgaben und sie ohnmächtig wurde. Er konnte gerade noch zu ihr springen und zupacken, damit sie nicht zu Boden fiel. Vereinzeltes Raunen und erschrockene Laute waren aus der Menge herauszuhören und er schaute auf. Er erwartete, dass ihm jemand zu Hilfe kam, doch trotz der starrenden Blicke blieb keiner der vorbeilaufenden Menschen stehen.
Na großartig, ihr Helden, dachte er grimmig und presste Lynn noch etwas fester an sich, damit sie nicht weiter nach unten glitt. Gleichzeitig wollte er sie vor Gaffern schützen, wenn schon keiner half. Allerdings war ihm klar, dass er Frau Sambeck nicht davontragen konnte. Oder sollte er versuchen, sie huckepack zu nehmen? Oskar verzog das Gesicht. Nein, das würde nur erst recht für Tumult und ungewollte Blicke sorgen. Also musste er warten, bis sie wieder zu sich kam. Sie standen, Gott sei Dank, direkt vor einem der Schaufenster, sodass es für die nächsten Passanten aussehen würde, als umarme ein Mann eine Frau. Was Oskar an Herrn Sambeck erinnerte. »Dein Mann wird sicherlich verstehen, dass ich dir nur helfen wollte, oder?«, murmelte er der Ohnmächtigen zu, deren Fäuste auf seiner Brust ruhten. Ihr Gewicht lag schwer auf seinem Oberkörper, sodass er langsam ins Schwitzen geriet. Doch er harrte in seiner Position aus.
Erst nach einer Weile wagte er es, sich etwas zu bewegen und schaute sorgenvoll nach unten. Er bemerkte, dass sich Frau Sambecks feinen Haare an seinen Mantel geheftet hatten und ließ seine Augen weiter nach unten gleiten. Zu ihrer Stirn, ihren Wimpern und ihrer Nase. Bis sie an einer großen Strähne hängenblieben, die das weitere Gesicht verdeckte. Und wieder juckte es in Oskars Fingern. Diesmal, weil es ihn drängte, das vorwitzige Stück Haar zur Seite schieben, um auch den Rest betrachten zu können. Doch seine innere, warnende Stimme hielt ihn erneut zurück. Gleichzeitig merkte er, wie seine Ohren heiß wurden, als sei er gerade tatsächlich bei etwas ertappt worden und blickte daraufhin wieder zu Lynn Sambeck, wenn auch mit einer gewissen Anspannung.
Er erinnerte sich daran, wie weich sich ihre Haarsträhnen angefühlt hatten, als er diese beim letzten Mal berührt hatte und sog die Luft durch die Nase ein. An seinem Besuch hatte sie unheimlich gut nach Keksen geduftet. Und dann war da noch ihre besondere Augenfarbe, die ihm zuvor nie aufgefallen war und die er eigentlich hatte vergessen wollen.
Oskar atmete laut aus. Wäre er ihr in der Küche nur nicht so nahegekommen! Als ob sein Fauxpas im Taxi nicht gereicht hatte, brauchte er mittlerweile offenbar nur in ihrer Nähe zu sein, um sofort wieder an die Geschehnisse, aber vor allem über sie nachzudenken.
Er ließ seinen Blick noch einmal über sie gleiten und beugte sich dann leicht zur ihr hinunter. »Lynn!«, sprach er leise in ihr Ohr und rückte sie in seinen Armen zurecht. »Hey, aufwachen!« Er fühlte sich seltsam atemlos und seine Stimme klang ungewöhnlich rau. Er befürchtete schon, sich etwas lauter wiederholen zu müssen, als Frau Sambecks Wimpern unruhig zu flattern anfingen. »Aufwachen!«, flüsterte er nochmal und bemerkte erleichtert, dass sie sich regte.
Sie drehte ihr Gesicht so weit, bis ihre Stirn gegen seine Brust lehnte und harrte für einen Moment aus. Als wäre es ein Kraftakt, sich zu bewegen. Ihre Fäuste drückten sich zittrig und kraftlos gegen seinen Körper. Weshalb er zwar den Griff um sie lockerte, sie aber weiter festhielt. Ihre Arme glitten nach unten, bis ihre Hände seine Hüfte erreichten, sich an seinem Mantel festhielten und sie erneut innehielt.
Oskars Herz schlug schneller, was Frau Sambeck vermutlich mitbekam. Doch hatte er trotzdem nicht vor, sie loszulassen. Er hörte, wie sie laut ausatmete und stützte sie, als sie sich ein zweites Mal von ihm weg drückte, während sie sich aufrichtete. Diesmal löste sie sich tatsächlich von ihm und machte einen unsicheren Schritt nach hinten, bis sie mit ihrem Rucksack gegen die Schaufensterscheibe lehnte. Sofort verflog die Wärme, die Oskar eben noch verspürt hatte, und er wünschte sich für eine Sekunde, dass sich Lynn Sambeck noch etwas länger an ihm festgehalten hätte.
Sie hielt ihre Augen noch immer geschlossen, ihre Lippen waren wieder leicht geöffnet und ihre Wangen hatten einen leichten Rosaton angenommen. Ihre Gesichtszüge waren entspannt und ließen sie so verletzlich erscheinen, dass Oskar nicht anders konnte als sie weiter anzuschauen. Erst als sie nochmal einen tiefen Atemzug nahm und an der großen Glasscheibe hoch rutschte, rührte auch er sich. »Geht es wieder?«, erkundigte er sich und merkte, noch während er die Frage stellte, wie dämlich sie klang.
Doch es schien, als hätte er Frau Sambeck damit darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht allein war. Sie öffnete langsam ihre Lider und blinzelte ein paar Mal. Ihr Gesicht verriet Erschöpfung und als sich ihre Augen trafen, wirkte es, als würde sie einen Moment brauchen, um zu erkennen, wer vor ihr stand. Langsam und mit einem unsicheren Gesichtsausdruck, drückte sie sich vom Schaufenster ab und griff nach den Tragegurten ihres Rucksacks. »Herr Weyland ... Ja, alles in Ordnung. Tut mir leid!«, hauchte sie stockend, während sie seinen Augen auswich und ihren Blick stattdessen auf seine Brust heftete, »wegen der Unannehmlichkeiten.« Ihre Lippen zitterten leicht.
»Schon gut. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« Obwohl er die Ursache ihres Zusammenbruchs nicht kannte, hätte Oskar sie am liebsten umarmt. »Sie haben mich vorhin wohl nicht erkannt. Dass ich so eine umwerfende Wirkung auf Sie habe, hätte ich allerdings nicht gedacht.« Er lächelte sie an und hoffte, die Spannung mit seinem schlechten Witz etwas gelockert zu haben.
Offensichtlich strengte sie sich auch an, sein Lächeln zu erwidern, was jedoch kläglich misslang. »Es tut mir wirklich leid. Normalerweise bin ich gar nicht so … schreckhaft.« Frau Sambeck merkte offenbar selbst, wie untertrieben der letzte Ausdruck gewesen war und sah zur Seite. »Ich war gerade auf dem Nachhauseweg und hatte wohl eine kleine Panikattacke.« Ihre Stimme war mit jedem Wort immer leiser geworden und Oskar musste sich ernsthaft zusammenreißen, das Häufchen Elend nicht wieder an sich zu ziehen. Stattdessen steckte er seine Hände schnell in seinen Mantel, während er sich fragte, was wohl mit ihr passiert wäre, wenn er nicht zufällig in der Nähe gewesen wäre.
»Das ist mir schon etwas peinlich.« Frau Sambecks Lächeln wurde immer gequälter und auch der Rest ihres Gesichts verriet, wie unglücklich sie war. Sie versuchte, dies vor ihm zu verbergen, indem sie den Kopf abwandte, aber er hatte das Glitzern in ihren Augen bereits gesehen. Das Zittern in ihrer Stimme hatte ebenfalls verraten, dass sie kurz davor war, zu weinen.
Stumm und hilflos zog Oskar seine Schultern nach oben und sah zur Seite. Er konnte sich vorstellen, dass seiner Kollegin die momentane Situation sehr unangenehm war. Aus ihrer Richtung erklang plötzlich ein leises Lachen, sodass sich seine Nackenhaare aufrichteten. »Und jetzt haben wir uns auch noch wieder außerhalb der Arbeit getroffen«, meinte sie weiter, woraufhin er überrascht wieder zu ihr sah.
»Das kommt schon mal vor, wenn man aus der gleichen Nachbarschaft kommt«, entgegnete er und gab sich Mühe, entspannt zu wirken, indem er sie anlächelte. »Wo steht denn Ihr Wagen? Ich begleite Sie gern bis dorthin.«
»Oh, nicht nötig. Ich bin zu Fuß unterwegs.«
»Wirklich?« Oskar zögerte keine Sekunde. »Dann kann ich Sie mitnehmen, wenn Sie möchten. Ich war ohnehin unterwegs Richtung Parkhaus.«
Frau Sambeck sah ihn das erste Mal direkt an. »Das wäre … sehr nett.« Ihr Lächeln wirkte diesmal echt, wenn auch verlegen.
»Kein Problem«, erwiderte er, während sich seine Mundwinkel noch etwas mehr nach oben zogen.
Beide setzten sich fast gleichzeitig in Bewegung und durchquerten schweigend die überfüllte Fußgängerzone, blieben aber, soweit es möglich war, in der Nähe der Schaufenster. Oskar warf immer wieder einen Blick zur Seite, ob sie mit ihm Schritt halten konnte und ihr Gesichtsausdruck verriet, wie angespannt sie war. Doch je näher sie dem großen, grauen Gebäude des Parkhauses kamen, desto gelöster wirkte sie. Und Oskar kam ein Verdacht. Aber wenn dem so war, wie er es vermutete, warum war sie dann überhaupt und ausgerechnet heute in der Stadt unterwegs?
Keine fünf Minuten später erreichten sie seinen Wagen und erreichten nach kurzer Fahrzeit Lynn Sambecks Haus, vor dessen Einfahrt er anhielt. »Da wären wir«, meinte er überflüssigerweise und lächelte Richtung Beifahrersitz. Frau Sambecks Blick war jedoch auf ihren Sicherheitsgurt gerichtet, den sie im selben Moment so schnell zurückschnappen ließ, dass Oskar glaubte, sie würde als Nächstes aus dem Fahrzeug springen.
»Danke!«, antwortete sie dann aber nur und griff nach ihrem Rucksack, den sie im Fußbereich verstaut hatte. Sie presste ihn eng an sich, schaute einen Augenblick zum Seitenfenster und wandte ihm schließlich ihr Gesicht zu. »Wollen Sie vielleicht noch mit hereinkommen?«
Fast hätte Oskar aus einem Impuls heraus Ja gesagt. Doch dann fiel ihm ein, dass sie ihn vermutlich nur aus Höflichkeit gefragt hatte. »Nein. Aber danke für das Angebot«, erwiderte er deshalb und lächelte nochmal. Er war sich sicher, wieder Tränen in den Augen seiner Kollegin schimmern zu sehen, während sie ihre Mundwinkel mechanisch nach oben zog.
»Na gut, dann sehen wir uns also im neuen Jahr wieder«, sagte sie und griff nach der Beifahrertür, die sie wenige Sekunden später hinter sich schloss. Schnell lief sie auf ihr Haus zu, während er ihr verblüfft nachschaute. Eine Weile hantierte sie an der Tür und schaute kurz nochmal in seine Richtung, als hätte sie gewusst, dass er sie weiter beobachtet hatte. Sie hob zum Abschied eine Hand und ging dann, ohne auf seine Reaktion zu warten, hinein.