Lynn keuchte. Die Tür hinter sich zuwerfend zog sie ungeduldig ihre Stiefeletten aus und rannte schwer atmend in die Küche, um ihre Beruhigungstabletten zu suchen. Sie hatte schon lange keine mehr gebraucht, doch heute war ein Notfall. Nur mit Mühe hatte sie während der Fahrt ihren Atem unter Kontrolle gehalten und ihre zitternden Hände in ihren Manteltaschen versteckt.
Lynn schluckte, da sich ihre Kehle trocken anfühlte und dachte daran, wie gut es war, dass Herr Weyland abgelehnt hatte, noch mit reinzukommen. Leise seufzend wühlte sie weiter ungeduldig in einer der Schubladen, bis sie fand, was sie suchte und sich dabei fragte, wieso sie ihren Kollegen überhaupt danach gefragt hatte.
Schnaufend nahm sie eine Tablette in den Mund und schluckte sie mit viel Wasser hinunter. Atemlos und mit klopfendem Herzen stützte sie sich dann noch eine Weile mit geschlossenen Augen an der Arbeitsplatte ab und wartete, bis sich ihr Puls wieder etwas beruhigte. Nach ein paar tiefen Atemzügen öffnete sie ihre Lider wieder, löste sich von der Anrichte und trottete zurück in den Flur. Dort zog sie ihren Mantel aus, hing ihn an die Garderobe und schlüpfte in ein Paar Filzpantoffeln. Gleich danach schlurfte sie ins Wohnzimmer, ließ sich erschöpft auf das große Sofa fallen und rollte sich mit leicht angezogenen Beinen Richtung Couchpolster.
Gleich gehts dir wieder besser, redete sich die frierende Frau dabei immer wieder gut zu, griff zitternd nach der am Fußende befindlichen Wolldecke und schloss schließlich müde ihre Augen.
***
Am späten Nachmittag betraten Simon, seine Frau sowie seine Tochter das große Haus.
»Lynn, wir sind da!«
Die drei Erwachsenen waren zum gemeinsamen Kochen und Abendessen verabredet wobei Valerie, auf ihren Wunsch hin über Nacht bei ihrer Tante bleiben würde.
»Warum ist es hier so dunkel?«
Nachdem Sarah im großen Flur das Licht eingeschaltet hatte, half sie ihrer Tochter beim Ausziehen und hielt dabei Ausschau nach ihrer Schwägerin.
Achselzuckend befreite auch Simon sich von Jacke und Schuhen, ging schließlich zum Treppengeländer, hielt sich daran fest und blickte nach oben.
»Lynn? Bist du da?« Doch auf sein Rufen kam keine Antwort.
»Ich hol was zum Spielen!« Valerie rannte an ihrem Vater vorbei die Treppen hoch, der schnell noch ein »Vorsicht, junge Dame!« hinterherrief, während Sarah beunruhigt zu ihrem Mann blickte, der sich genau wie sie Sorgen zu machen schien.
»Lynn?«
Auch sie rief nun nach ihrer Schwägerin, als Simon einen plötzlichen Geistesblitz zu haben schien, da er sich schwungvoll vom Geländer löste, ins dunkle Wohnzimmer marschierte und eine der kleinen Stehlampen anknipste, die sich direkt an der Tür befand. Sein Blick glitt suchend über den Raum, bis er die gesuchte Person entdeckte und sogleich erleichtert ausatmete. Seine Schwester lag in eine bunte Wolldecke eingewickelt und zusammengerollt auf dem großen Sofa und schlief. Als Sarah bemerkte, dass ihr Mann im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen geblieben war und die Arme vor der Brust verschränkte, atmete sie ebenfalls auf.
»Schläft sie?«
»Ja.«
»Hm. Ungewöhnlich.«
»Ja.«
Sarah stellte sich neben Simon hin, lehnte sich an ihn und schaute ebenfalls in die Richtung, in die ihr Mann seinen Blick gerichtet hielt.
»Meinst du, es ist was passiert?«
»Mhm.« Simon nickte leicht. »Wir fragen sie nachher. Weckst du sie? Ich schau mal nach Valerie.«
»Klar.«
Sie bekam einen Kuss auf die Wange und sie tätschelte die Schulter ihres Mannes. Dann löste er sich vom Türrahmen und machte sich auf ins Obergeschoss.
***
Es dauerte eine Weile, bis Lynn ihre Augen wieder aufschlug, nachdem sie sanft geweckt worden war. Sarah gab ihr die nötige Zeit, sich zu orientieren und wach zu werden und ging danach in die Küche, um alles rauszusuchen und bereitzustellen, was für das Zubereiten des Abendessens benötigt wurde. Lynn hingegen ging langsam die Treppen rauf, um ihren Bruder und ihre Nichte zu begrüßen und wich dabei gekonnt Simons fragenden Blicken aus. Sie ging schnell ins Bad, um sich frisch zu machen und war kurze Zeit später wieder unten, um in der Küche zu helfen. Sarah blickte bei ihrem Eintreten sofort auf, als hätte sie auf die Jüngere gewartet und dachte gar nicht daran, diese im Gegensatz zu ihrem Mann erst mal zu schonen.
»Also sag schon! Was ist passiert?«
Sie hatte in all den Jahren, in denen sie mit Simon zusammen war, ein ähnliches Gespür für Lynns Befinden entwickelt wie ihr Mann. Allerdings war es heute nicht mal zu übersehen, dass bei der 32-Jährigen etwas vorgefallen sein musste. Von sich aus würde sie allerdings nichts erzählt, was Sarah mittlerweile auch wusste. Lynn gehörte zu der Sorte Mensch, die sich nie über irgendetwas oder jemanden beschwerte und vor allem nicht über ihre Probleme sprach. Simons Schwester schien es immer allen recht machen zu wollen und Sarah hatte dabei schon öfter das Gefühl gehabt, dass ihre Schwägerin dabei immer ein Stück auf der Strecke blieb.
Die Frau mit den Locken hörte auf, die Salatgurke in ihrer Hand zu schälen und sah zu, wie die andere mit den feinen, verwuschelten ihre Kochschürze umband, auf der in fetten Lettern der Spruch stand: ICH bin hier der Mann im Haus. Scheinbar noch immer nicht ganz auf dem Damm, sah Letztere dabei zu Boden, und als sie wieder aufschaute, warf Sarah ihr einen auffordernden Blick zu.
»Also?«
Lynn seufzte. Sie hatte geahnt, dass sie nicht darum herumkommen würde, Fragen gestellt zu bekommen. Also fing sie langsam an, von ihrem Stadtbummel zu erzählen. Stockend berichtete sie davon, wie die vielen Menschen sie nervös gemacht hatten und erreichte schließlich die Stelle, als sie geglaubt hatte, angegriffen zu werden.
»... und dann hat sich der Typ auch noch vor mich gestellt. Und dann«, nun kam der heikelste Part und Lynn holte noch mal tief Luft. »Dann bin ich plötzlich ohnmächtig geworden.« Sie traute sich nicht, ihre Schwägerin anzuschauen. »Dabei war es die ganze Zeit nur Herr Weyland gewesen. Stell dir vor!«
Sie kicherte vor Nervosität und überlegte gerade, ob sie den letzten Teil der Geschichte nicht besser hätte auslassen sollen, als sie es laut klirren hörte. Erschrocken blickte sie vom Herd zu Sarah rüber, die offensichtlich den fertigen Salat in einer großen Glasschüssel hatte mischen wollen und nach Lynns letzten Sätzen das Salatbesteck hatte fallen lassen. Simons Frau wirkte sichtlich fassungslos und hakte mit bebender Stimme nach: »Du bist bitte was?«
Die eben noch Erzählende biss sich unbehaglich auf die linke Ecke ihrer Unterlippe und senkte beschämt den Blick.
»Simon? Kommst du mal bitte?«
Sarahs Stimme durchdrang die Küche, während sie die Frau am Herd weiter im Auge behielt, die sich schnell der Pfanne vor sich zuwandte und schwer beschäftigt die leicht köchelnde Tomatensoße mit Hackbällchen umrührte.
Nur wenige Augenblicke später kam Simon in die Küche und maulte: »Was gibts? Valerie wollte gerade ein Porträt von mir malen.«
Sarah achtete jedoch gar nicht auf das Vorwurfsvolle in seiner Stimme, sondern packte direkt aus: »Willst du wissen, was mit deiner Schwester los ist?« Sie hatte sichtlich Mühe, ruhig zu bleiben und wartete gar nicht darauf, dass man ihr antwortete. »Sie war heute in der Stadt. Aber das ist nicht alles. Sie hatte dabei einen Panikanfall und ist zusammengebrochen!« Endlich zeigte die Gesprochene, wie entsetzt sie über das Erzählte war und wirkte einen Moment als würde sie gleich anfangen zu weinen. Simon wiederum war irgendwann mitten im Raum stehengeblieben und starrte nun erst seine Frau und dann Lynn an.
»So ... So stimmt das nicht ganz!« Lynn legte hektisch den Kochlöffel ab, drehte sich um und hob abwehrend ihre Hände. »Es war kein richtiger Anfall.«
Sie hatte im leisen, aber nicht weniger eindringlichen Ton gesprochen, um ihren Bruder zu beruhigen. Dabei fiel ihr ein, dass sie vor ihrem Kollegen hingegen fast umgehend zugegeben hatte, dass sie eine Panikattacke erlitten hatte.
»Lüg doch nicht! Du hast sogar gedacht, dass du verfolgt wirst!« Sarah wirkte wütend.
»Er hat ja auch wirklich nach mir gegriffen und mich zur Seite gedrängt!«
Simon war sichtlich unter Strom und sah von einer Frau zur anderen. »Wer?«
»Herr Weyland!«, kam es wie aus einem Mund.
»Herr Weyland hat dich angegriffen?« Simons Augen weiteten sie sich.
»Verdammt nein!« Lynn hob nun doch verzweifelt die Stimme. »Er hat mich sogar aufgefangen!« Sie zögerte kurz. »Zumindest denke ich, dass er das war.« Sie biss sich wieder auf ihre Unterlippe. »Er war auf jeden Fall da, als ich wieder zu mir kam.«
Simon wirkte wie ein lauernder Tiger, als er sich auf einen der Küchenstühle setzte und seine Arme verschränkte. »Und dann?«
»Dann hat er mich nach Hause gefahren.«
Diese Kurzfassung reichte. Der Gedanke, dass Herr Weyland sie so erlebt hatte und Lynn seine Hilfe in Anspruch hatte nehmen müssen, lösten mit einem Mal Beklommenheit in ihr aus.
»Und dann ist er einfach gefahren und hat dich deinem Schicksal überlassen?«, bohrte Sarah weiter, die sich an der Pfeffermühle abreagierte.
»Ja.«
Lynn fühlte sich nicht wohl dabei, dass es so wirkte, als hätte ihr Kollege etwas falsch gemacht. Immerhin hatte sie ihn weggeschickt. Sie drehte sich erneut dem Herd zu und schaute in den großen, dampfenden Kochtopf nach den Nudeln, die jeden Augenblick gar sein würden.
»Er hat mich sicher zu Hause abgesetzt und jetzt geht es mir auch schon wieder viel besser. Viel hätte er eh nicht für mich tun können.«
Ihr Blick blieb auf die Nudeln gerichtet, die sie noch mal umrührte, bis sie mit einem Mal zitternd innehielt. Wie aus dem Nichts kam auf einmal die Emotion hoch, die sie die ganze Zeit seit der Begegnung mit ihrem Kollegen unterdrückt hatte, aber nun alles andere überrollte: das Gefühl von Scham.
»Meint ihr, er denkt jetzt, ich bin verrückt? Ich meine, immerhin hat er mich in diesem Zustand gesehen.«
Lynn entglitt ein ersticktes Schluchzen. Und als wäre genau das ein Signal, brachen als Nächstes sämtliche Dämme bei ihr. Ihr Oberkörper fing an zu beben, die Hände zitterten und das, was aus ihrer Kehle kam, ähnelte am ehesten dem Jaulen eines verletzten Tieres. Dabei registrierte sie gar nicht, dass ihr der metallene Deckel aus der Hand glitt und mit einem lauten Scheppern auf dem Topf landete.
»Oh nein!«
Das Ehepaar stand fast gleichzeitig auf. Entschlossen zog Simon seine Schwester von der Kochstelle und an sich, während Sarah die Herdplatten ausschaltete. Völlig aufgelöst und laut weinend klammerte sich die Schluchzende sogleich an ihren Bruder, der sie stumm tröstend umarmte und ihren Rücken tätschelte.
»Ich kümmere mich ums Essen.«
Sarah deutete ihrem Mann, aus der Küche zu verschwinden und lächelte ihm verstehend zu, denn der war schon immer Lynns einziger Freund gewesen.
Ein lautloses »Danke!« kam von dessen Lippen und er führte die weinende Frau an seiner Seite nach oben.
***
Es dauerte eine Weile, bis Lynn sich wieder beruhigte. Als sie und ihr Bruder nach geraumer Zeit im Wohnzimmer auftauchten, hatte sie daher auch immer noch rote Augen und ein aufgequollenes, ebenfalls rotes Gesicht. Doch immerhin hatte sie sich wieder so weit gefangen, dass sie nicht alle drei Sekunden erneut in Tränen ausbrach. Sich sichtlich zusammenreißend setzte sie sich zu Sarah und ihrer Tochter an den großen Esstisch, die dort scheinbar schon eine Weile saßen und mit Essen fast fertig waren.
»Gehts wieder?«
»Mhm.«
Lynn nickte leicht und lächelte vorsichtig. Sie ließ es zu, dass Simon ein paar Nudeln und Soße auf den Teller packte, der vor ihr auf dem Tisch stand, stocherte letztendlich aber nur darin rum.
»Das ist voll lecker!«, durchbrach Valerie die etwas angespannte Stimmung und blickte die vergnügt zu ihrer Tante. Ihr Mund war rot umrandet und etwas Tomatensoße klebte an Kinn und Wange. »Mein Lieblingsessen!« Sie grinste breit und beugte sich wieder nach unten, um die letzte Ladung Nudeln in den Mund zu stopfen.
»Ich weiß.« Lynn zog bei dem Anblick ihrer Nichte ihre Mundwinkel erneut nach oben. Dabei griff sie nach der großen Salatschüssel, füllte etwas in eine kleinere Schale ab und fing schließlich ohne echten Appetit an zu essen.
»Simon und ich wollen übermorgen ins Kino. Du kommst doch mit, oder?«
Sarah sah mit bittender Miene zu ihrer Schwägerin, die daraufhin ihr Gesicht verzog, aber nicht antwortete.
»Ich will auch mit!« Das Mädchen am Tisch fing mit der Gabel in der Hand auf ihrem Stuhl an zu zappeln und blickte bettelnd zu ihrer Mutter. »Bitte, bitte!« Den perfekten Augenaufschlag hatte sie schon drauf.
»Das ist kein Film für dich.« Sarah strich ihrer Tochter über ihren Lockenkopf, die die Hand sofort trotzig abschüttelte.
»Nie darf ich mitkommen!« Wütend zog die 8-Jährige die Stirn zusammen, machte einen Schmollmund und zappelte noch mal.
»Hm. Wie wäre es, wenn Papa, du und ich nach Silvester zusammen einen Film anschauen?«
Noch immer war Sarah ruhig, was Lynn ziemlich beeindruckte. Und das Kind, das seine Gabel in der kleinen Faust hielt, wirkte einen Moment tatsächlich unentschlossen, ob es weiter trotzen sollte.
»Versprochen?«
Simon beugte sich zu seiner Tochter vor, fuhr ihr ebenfalls kurz durch das Haar, was aber auch einfach zu einladend war, und raunte ihr vertraulich zu: »Versprochen.«
Man sah förmlich, wie Valerie erneut nachdachte. Sie rutschte ein letztes Mal auf ihrem Stuhl hin und her, schob dann demonstrativ ihren Teller in die Tischmitte und legte ihre Gabel ab. Dann kreuzte sie die Arme vor ihre Brust und zog noch mal eine kleine Schnute.
»Na gut.«
Lynn, die während der Eltern-Kind-Diskussion weiterhin kaum etwas von ihrem Essen angerührt hatte, nutzte die Gelegenheit, dass immerhin Valerie damit fertig zu sein schien, und rückte vom Tisch ab.
»Komm mein Engel, wir waschen uns eben Mund und Hände und spielen oben noch ein bisschen, bevor es ins Bett geht. Okay?«
Ihre Nichte nickte und strahlte, als wäre nichts gewesen, während sich die beiden Frauen ansahen. Dabei fiel der Blick der älteren kurz auf den Teller der anderen, deren Teller und Salatschälchen noch halb voll waren. Es schien, als wollte Sarah dazu etwas sagen, lächelte ihrer Schwägerin dann aber nur zu, wandte sich dann an ihre Tochter und strich dieser liebevoll ein paar Locken nach hinten, die sich diesmal nicht dagegen wehrte.
»Okay, du kannst aufstehen. Aber bitte geh langsam die Treppe rauf.«
Noch bevor ihre Mutter zu Ende gesprochen hatte, rutschte Valerie vom Stuhl und schob ihn geräuschvoll nach hinten. Dann griff sie nach der Hand ihrer Tante, die Sarah als Antwort ein kurzes, fast entschuldigendes Lächeln zurückwarf, und zog sie mit sich.
***
Valerie war bereits im Bett, als Sarah streng zu Lynn hinübersah, die mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen im Schneidersitz auf der großen Couch hockte, während das Ehepaar auf einem der 2er-Sofas saß, das einem weiteren Zweisitzer gegenüberstand und mit der großen 4er-Couch ein U bildete.
»Keine Widerrede, du kommst mit! Ich habe mich so auf einen Erwachsenenabend und den Film gefreut.«
Simon beugte sich daraufhin zu seiner Schwester vor und drängte weiter: »Komm schon! Du musst unter Menschen! Es ist so wie beim Reiten. Wenn du vom Pferd gestürzt bist, musst du direkt wieder aufsitzen.«
»Ich mag aber keine Pferde!«
»Du weißt, was ich meine!«
»Ihr seid nicht meine Therapeuten, okay?«
»Nein, aber wir wissen, was dir dein Therapeut raten würde!«
Sarah sah zwischen den Streitenden hin und her und hob beide Hände. »Hey! In diesem Haus wird nicht gestritten!« Sie wusste, dass dieser Satz bei den Geschwistern wirkte. Sie wartete, bis sich beide an ihren Plätzen wieder nach hinten lehnten und schaute dann zu ihrer Schwägerin.
»Ich frage mich ja immer noch, wie du es auf der Weihnachtsfeier ausgehalten hast. Da wird doch auch einiges los gewesen sein.«
»Sie hat bestimmt die ganze Zeit im Kopf ihr Mantra runtergerattert und sich an keiner Unterhaltung beteiligt. Stimmts?« Simon sah am Gesichtsausdruck seiner Schwester, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »Deshalb auch kein Flirt mit dem Kollegen.« Er grinste und fing sich sofort den nächsten bösen Blick ein.
Sarah erhob erneut ihre Hände und warf sich mit diesmal lauterer Stimme zwischen die heute offensichtlich Kampfeslustigen.
»Okay okay! Um wieder auf das Thema Kino zurückzukommen! Wie wäre es dann damit? Damit du keinen Anfall bekommst, werden wir uns als Letztes auf unsere Plätze setzen. Und wenn der Film vorbei ist, werden wir warten, bis fast alle draußen sind. Hm? Wie klingt das?«
Lynn schnaubte. »Das Foyer wird aber immer überfüllt sein.« Sie rutschte unruhig hin und her. »Wieso geht ihr nicht einfach allein in den Film?«
»Weil du auf Actionfilme stehst.« Sarah grinste nun ihrerseits ihre Schwägerin an und zwinkerte dann. »Außerdem soll der Hauptdarsteller ziemlich heiß sein.«
Simon verschränkte ebenfalls die Arme, lehnte sich zurück und hob die Augenbrauen.
»Dann sollte ich vielleicht besser zu Hause bleiben.«
»Nichts da. Du besorgst morgen die Tickets. Und ich rufe eure Eltern an, wann sie Valerie abholen werden.«
»Ist euch schon aufgefallen, dass ihr euer Kind in letzter Zeit nur hin und her schiebt?«
Lynn sah das Paar herausfordernd an.
»Ich muss noch bis Silvester arbeiten. Danach werden wir unser Familienglück in vollen Zügen genießen. Glaub mir, meine Liebe.«
Sarahs Antwort klang gereizt.
Simon legte einen Arm um seine Frau, drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ja, das werden wir, Schatz.«
Dabei warf er seiner Schwester einen warnenden Blick zu, die allerdings auch so wusste, dass sie zu weit gegangen war.
Sarah hatte seit Valeries Einschulung ihre Arbeitsstunden aufgestockt, damit mehr Geld in die Haushaltskasse floss. Doch war es durch die Schichtarbeit je nach Dienst und welchen Fall sie zu betreuen hatte, vor allem ein Akt, ihre Tochter an den Nachmittagen rechtzeitig von der Ganztagsschule abzuholen.
Hinzu kam, dass es von manchen Müttern sogar schon mehrmals öffentlich missbilligt worden war, dass die Sozialpädagogin bei einigen schulischen Aktivitäten ihrer Tochter nicht dabei war.
Dabei hatte Sarah schon echt nette Kollegen, die es ihr ermöglichten, hin und wieder ihre Schicht zu tauschen, um etwas mehr für Valerie da zu sein. Doch regelte ansonsten Simon vieles, was seine Frau einfach nicht schaffte.
Und auch Lynn half ab und zu aus, wenn Not am Mann war. Doch war das den Leuten ganz offensichtlich egal, in deren Köpfen immer noch das Denken vorherrschte, dass sich am besten ausschließlich die Mutter um ihr Kind und dessen Belange zu kümmern hatte.
Denn anders würde es ja nur »hin und her geschoben« werden, wie es aus manchen Richtungen schon gekommen war. Und was der Grund dafür war, warum Sarah bei dem Satz ihrer Schwägerin so empfindlich reagiert hatte.
Lynn richtete sich auf und sah den verletzten Ausdruck im Gesicht von Simons Frau, deren graugrüne Augen mit einem Mal sehr müde wirkten.
»Tut mir leid.« Sie meinte es ehrlich.
Sarah seufzte laut, drückte ihren Lockenkopf noch mal kurz gegen Simons Schulter und lächelte schließlich.
»Schon gut. Also, wir holen dich dann übermorgen ab. Ich schreibe dir deswegen noch mal.«
Sie löste sich von ihrem Mann und schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. »Wir gehen jetzt mal nach Hause. Ich muss morgen früh raus.« Sie erhob sich und die anderen folgten ihrem Beispiel.
»Okay, na gut«, murmelte Lynn und strich sich eine Strähne hinters Ohr, während noch immer eine leichte Anspannung im Raum zu spüren war.
Als die Drei kurze Zeit später im Flur standen, um sich zu verabschieden, drückte sie ihre Schwägerin vielleicht auch deshalb ein wenig länger als sonst und lehnte ihre Wange gegen die der anderen.
»Fahrt vorsichtig.«
»Immer«, erwiderte Simon, der bereits die Tür geöffnet hatte und auf seine Frau wartete, die sich langsam von Lynn löste, dann an ihrem Mann vorbei ging und sich erst am unteren Treppenabsatz angekommen noch mal umdrehte.
»Bis übermorgen«, meinte sei dann mit einem kleinen Lächeln, was Lynn sogleich erwiderte. Dann winkte sie dem Ehepaar zu, das den Gruß erwiderte und und sah ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren.