Mit geschlossenen Augen hielt sich Oskar einen Arm vor das Gesicht und stöhnte leise. Bis auf sein Jackett und seine Schuhe lag er vollständig bekleidet auf dem Sofa. Schon seit einer Weile drangen die gleißenden Strahlen der Wintersonne durch die breite Fensterfront des Wohnzimmers und erhellten den gesamten Raum, was überhaupt nicht zu Oskars Verfassung passte.
Verkatert senkte er langsam den Arm und versuchte, die Augenlider zu öffnen. Doch er wurde sofort vom grellen Licht geblendet, woraufhin er sie schnell wieder zusammenpresste. Es war eindeutig zu hell. Und ihm war flau im Magen. Schließlich gab sich Oskar aber einen Ruck, richtete sich mühsam auf und tastete nach seinem Smartphone. Das Display zeigte an, dass es nach elf Uhr war, was an sich eine gute Zeit war, um am Wochenende aufzustehen. Nur nicht heute. Heute wäre er am liebsten ins Schlafzimmer geschlichen, um den restlichen Tag im Bett zu verbringen. Doch wer feiern konnte ...
Oskar seufzte. Unmotiviert schlurfte er in den offenen Küchenbereich, öffnete wahllos einige Schubladen und fand bald die gesuchten Kopfschmerztabletten. Er steckte sich zwei davon in den Mund, schluckte sie mit reichlich Wasser hinunter und stützte sich danach an der Spüle ab. Erschöpft und unter Schmerzen schloss er erneut seine Lider und hoffte, dass die Tabletten schnell ihre Wirkung zeigen würden. Er fühlte sich noch immer leicht benommen. Und doch drängten sich ihm bereits die ersten Fragen auf: Was war gestern Abend passiert? Und wie war er nach Hause gekommen?
Nur langsam wich der Nebel aus seinem Kopf und ihm fiel immer mehr von dem ein, was am Vorabend geschehen war. Plötzlich gab er einen erschrockenen Laut von sich, riss die Augen auf und klammerte sich an der Spüle fest. »Oh nein, nein, nein!«, murmelte er vor sich hin, während die Bilder des Geschehens immer klarer wurden.
Er hatte viel zu viel getrunken, was nicht sehr oft der Fall war. Außerdem hatte er seiner Kollegin während der Heimfahrt ein Gespräch aufgezwungen und zum Schluss ... Das Pulsieren in seinem Schädel wurde mit einem Mal so stark, dass Oskar nach Luft schnappte. Keuchend schloss er erneut die Augen, während sein Herz wild gegen seine Brust schlug. Tief durchatmen!, dachte er. Was er dann auch tat, bis sich sein Puls wieder etwas beruhigte. Dann stolperte er zurück zum Sofa, schnappte sich sein Handy und drückte eine Kurzwahltaste.
»Wie bitte?« Ein kurzes, dröhnendes Lachen ertönte. Dann wurde es plötzlich gefährlich still, bis ein Donnerwetter folgte. »Du Idiot! Hast du sie noch alle? Du musst dich auf jeden Fall bei ihr entschuldigen!« Oskar hatte mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet, doch ärgerte er sich trotzdem über den Ton des Mannes am anderen Ende der Leitung. Immerhin ging es ihm heute Morgen nicht gut. Musste man da noch mit ihm schimpfen? »Hast du wirklich gesagt, dass du sie liebst?« Der Unglaube in der Stimme des anderen war nicht zu überhören.
Stirnrunzelnd schaute Oskar auf das Smartphone, das auf Lautsprecher gestellt war und lehnte sich von seiner über den Wohnzimmertisch gebeugten Position etwas zurück. Geräuschvoll atmete er aus und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, bevor er antwortete: »Ja. Und sie hat gesagt, dass sie mich auch liebt.«
Er war sich im Klaren, dass es trotzig klang und prompt gab sein bester Freund auch einen prustenden Laut von sich. Wieder entstand eine kleine Pause, bis dieser halb belustigt, halb ernst entgegnete: »Und dir ist hoffentlich klar, dass sie das nicht so gemeint hat.«
Richard Naubusch war seit Kindertagen mit Oskar befreundet und von Beginn an mehr wie ein großer Bruder als ein Freund für Oskar gewesen. Diesmal wirkte es allerdings, als wäre er in die Rolle von Oskars Vater geschlüpft. Was für Oskar ein absolutes Reizthema war und seine Antwort deshalb auch dementsprechend ausfiel.
»Ja, das weiß ich!«, entgegnete er im schroffen Ton, was ihm im nächsten Augenblick schon wieder leidtat. Doch schien Richard von Oskars Verstimmung ohnehin unbeeindruckt. Stattdessen rang er seinem Freund das Versprechen ab, Frau Sambeck als Entschuldigung einen Strauß Blumen zu besorgen und sich vor Weihnachten nochmal zu melden. Womit die Angelegenheit für Richard offenbar geklärt war.
Daher dauerte es auch nicht lang, bis das Gespräch beendet war, beide auflegten und Oskar sich gegen die Couch lehnte. Richard hatte ihn unerwartet glimpflich davonkommen lassen und Oskar fragte sich, ob ihm der Anruf überhaupt etwas gebracht hatte. Außer, dass sein Herz wieder im normalen Takt schlug und seine Kopfschmerzen nachgelassen hatten. Er war noch nicht einmal gefragt worden, warum er sich ein Taxi mit seiner Kollegin geteilt hatte. Hätte Richard den Grund gekannt, wären diesem bestimmt noch ganz andere Dinge eingefallen, außer Lynn Sambeck bei nächster Gelegenheit Blumen mitzubringen. Denn wie er selbst erst am gestrigen Abend erfahren hatte, wohnte sie nicht nur im selben Stadtteil, sondern sogar in der direkten Nachbarschaft.
Oskars Kopf fing wieder leicht an zu brummen. Um das unangenehme Gefühl endgültig zu vertreiben und in die Gänge zu kommen, stand er mit einem leisen Ächzen, aber entschlossen auf. Wenig später stieg er unter die kälter als sonst gestellte Dusche, putzte sich die Zähne und rasierte sich. Um sich gänzlich wieder wie ein Mensch zu fühlen, fehlten ihm am Ende nur noch ein ordentlicher Schluck Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen, wobei das Erste wichtiger war.
Aus diesem Grund kehrte er schon bald in bequemen Klamotten und mit einer großen Tasse bewaffnet zur Couch zurück, an der er genüsslich nippte. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet, dass er um diese Zeit am Wochenende normalerweise unterwegs wäre, um seine gewohnte Runde zu laufen. Aber daran war noch nicht zu denken. Sein Hirn fühlte sich dafür noch immer zu schwammig an und der Schrecken über das, was er sich Frau Sambeck gegenüber geleistet hatte, saß ihm ebenfalls nach wie vor in den Gliedern.
Oskar rollte mit den Augen. Das Telefonat mit Richard war also tatsächlich für die Katz gewesen. Nicht mal im Ansatz war sein schlechtes Gewissen weniger geworden, so wie er es sich erhofft hatte. Stattdessen wusste jetzt nur noch eine Person mehr darüber Bescheid, wie unmöglich er sich am gestrigen Abend aufgeführt hatte.
Ohne es zu wollen, verfiel Oskar wieder ins Grübeln. Er erinnerte sich diesmal an den ernsten Tonfall in Frau Sambecks Stimme, als sie seine Frage, ob sie ihn auch liebe, bejaht hatte. Ihre Worte waren klar und deutlich und ihr Blick direkt auf ihn gerichtet gewesen. Nur ihren Gesichtsausdruck hatte er aufgrund der Dunkelheit und seines Dämmerzustands nicht erkennen können.
War sie vielleicht wirklich in ihn verliebt? Hatte sie die Gelegenheit, dass er nicht ganz nüchtern und sie mit ihm allein gewesen war, tatsächlich genutzt, ihm ihre Gefühle zu gestehen?
Allein die Vorstellung kam Oskar so absurd vor, dass er sie sofort wieder aus seinem Gedächtnis strich. Stattdessen fragte er sich, was der Grund für sein Verhalten und seine Worte gewesen sein könnte. Bis er jedoch in seiner Überlegung innehielt und sich eine Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete. War es überhaupt nötig, sich so viele Gedanken zu machen? Immerhin war er betrunken gewesen.
Durstig und gierig nach Koffein nahm er einen großen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Couchtisch und fuhr sich durch sein noch leicht feuchtes dunkles Haar. Er wusste, dass es zwecklos war, weiter über das Geschehene nachzudenken. Zudem er es gar nicht wollte. Also musste er sich ablenken.
Entschlossen schaltete er seine alte Stereoanlage ein, woraufhin sofort laute Rockmusik aus den Boxen drang, die er hastig leiser stellte. Er verschränkte seufzend die Arme vor die Brust und lehnte sich, wie schon die Male zuvor, gegen das Sofapolster. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Klängen, bis das Bild seiner Kollegin in seinem Kopf langsam verblasste. Es tat ihm gut, eine Weile an nichts denken und nichts tun zu müssen. Weswegen er sich auch erst etwas zu essen machte, als sein Magen immer deutlicher anfing zu knurren. Anschließend trottete er jedoch sofort wieder zum Sofa zurück und biss gerade in eine Scheibe Körnerbrot, als sein Handy vibrierte. Nach einem Blick auf das Display hörte er kurz auf zu kauen, schluckte dann aber hastig das Essen hinunter und nahm mit einer Wischbewegung das Gespräch an.
»Hey, Ma.«
»Hallo, mein Schatz! Hast du nicht gesagt, du rufst mich an? Es ist schon nach Mittag!« Selbst durch das Telefon war der vorwurfsvolle Tonfall deutlich herauszuhören.
»Ich hätte mich später noch gemeldet.« In Wahrheit hatte Oskar ganz vergessen, dass er versprochen hatte, seine Mutter anzurufen.
»Jetzt erzähl doch mal! Wie war die Feier? War das Essen gut? Ich hoffe, du hattest ein bisschen Spaß. Hast du jemand Nettes kennengelernt?«
Oskar nahm einen kräftigen Schluck seiner mittlerweile zweiten Tasse Kaffee, um das letzte Stück Brot in seinem Mund hinunterzuspülen, während er innerlich lächelte. Spätestens alle drei Tage rief seine Mutter an, wenn er sich nicht von sich aus meldete. Wobei es vollkommen egal war, ob er etwas zu erzählen hatte oder nicht. Als ginge es ihr nur darum, seine Stimme hören, wenn sie sich schon nicht täglich sehen konnten. So wie es vor seinem Einzug in das Haus der Fall gewesen war.
»Die Feier war ganz gut.« Die Frage nach einer neuen Bekanntschaft ignorierte er gekonnt, doch lächelte er diesmal tatsächlich, als säße sie ihm gegenüber. »Ich habe nur etwas zu viel getrunken.« Er hörte, wie sie laut aufstöhnte und räusperte sich schnell. »Aber es ist alles in Ordnung, wirklich.« Da es ihm schon immer schwergefallen war, seine Mutter anzulügen, war er froh, dass sie ihn gerade nicht sehen konnte. »Außerdem wollte ich gleich noch etwas an die frische Luft gehen. Das wird mir am besten helfen, wieder einen freien Kopf zu bekommen.«
Frau Weyland zögerte merklich, bevor sie antwortete. »Na gut. Ich hoffe, du hast heute auch schon etwas Vernünftiges gegessen.«
Er unterdrückte ein Seufzen. »Ja, Ma. Mach dir bitte keine Sorgen.«
Was sie aber natürlich tat und er nur allzu gut wusste.
»Wann kommst du denn nach Hause? Du bleibst nach Weihnachten doch noch ein paar Tage, oder?«
Froh, dass das Thema gewechselt wurde, lächelte er erneut, wenn auch etwas wehmütig. Auf der einen Seite genoss er es, dass seine Mutter ihn immer über alles stellte und um sein Wohl besorgt war, aber er fühlte sich manchmal auch von ihrer Liebe und Fürsorge erdrückt.
Trotzdem freute er sich natürlich, die Feiertage in seinem alten Zuhause zu verbringen. Also sagte er ihr zu und beendete das Gespräch ein paar Minuten später. Dann stand er endgültig auf und schlüpfte wenig später in seine Laufklamotten. Das gute Wetter musste einfach genutzt werden. Und so wie er sich kannte, würde er, sobald er erst einmal draußen war, am Ende doch lieber joggen als gemütlich spazieren gehen wollen.
Bald stand er warm eingepackt im Freien, blinzelte in die grelle Mittagssonne und marschierte los. Es war eine ruhige Ecke, in der er lebte, was ganz nach seinem Geschmack war. Nach wenigen Minuten bog er in eine der Querstraßen ab, ließ seinen Blick über die Häuserreihen gleiten und fragte sich unwillkürlich, in welcher davon wohl Frau Sambeck wohnte. Ungewollt und zu seiner Überraschung dachte er weiter darüber nach, dass sie vielleicht altersmäßig zu ihm passen würde, sie aber schon rein optisch überhaupt nicht sein Fall war. Lynn Sambeck hatte einfach nichts an sich, was er als anziehend, geschweige denn als sexy bezeichnen würde.
Was vor allem damit zu tun hatte, dass sie über jedes ihrer Oberteile ständig eine viel zu große hässlich-graue Strickjacke trug. Gestern Abend war es stattdessen ein dunkler, übergroßer Pullover gewesen. Außerdem hatte sie die Angewohnheit, ihre feinen dunkelblonden Haare mithilfe eines einfachen Haargummis als unordentlichen Knoten am Hinterkopf zurückzubinden, aus dem sich im Laufe der Zeit immer mehr Strähnen lösten. Was gestern Abend ebenfalls der Fall gewesen war. Zusammengefasst war sie in seinen Augen das, was er sich früher als graue Maus vorgestellt hatte und ihn überhaupt nicht reizte. Vielleicht, weil er selbst sehr auf sein äußeres Erscheinungsbild achtete.
Oskars Augenbrauen zogen sich erneut zusammen. Auch wenn es für ihn keine Neuigkeit war, dass er Lynn Sambeck unattraktiv fand, fühlte es sich gerade trotzdem fast falsch an, sich so eingehend mit ihrem Aussehen zu beschäftigen. Besonders, da ihm sonst eher Dinge auffielen, die mit ihrem Verhalten zu tun hatten.
Sie hatte ihm zum Beispiel trotz ihrer immer etwas verschlossen wirkenden Art von Anfang an geholfen, sich schnell in seinem neuen Job einzufinden. Und auch heute noch gab sie ihm äußerst geduldig und detailliert Informationen über Arbeitsabläufe, wenn er diese noch nicht kannte. Und das, obwohl sie mit ihren eigenen Aufgaben mehr als genug zu tun hatte. Sie war es außerdem gewesen, die ihn damals durch die einzelnen Abteilungen geführt und den anderen Kollegen vorgestellt hatte. Womit sie ihm seinen Einstieg enorm erleichtert hatte.
Sein Start an seiner neuen Arbeitsstelle war nahezu perfekt verlaufen. Auch, weil er schnell Anschluss gefunden hatte. Zudem war es schon nach kurzer Zeit zur Gewohnheit geworden, dass einige Kolleginnen bei ihm und Frau Sambeck ins Büro kamen, um über Gott und die Welt zu quatschen. Und augenscheinlich auch, um mit ihm flirten. Wogegen Oskar nicht das Geringste einzuwenden hatte und ihn allein der Gedanke unwillkürlich zum Grinsen brachte.
Allerdings erinnerte er sich auch daran, dass es ihm Frau Sambeck gegenüber anfangs etwas unangenehm gewesen war, da sie offenbar weder fürs Plaudern noch fürs Flirten etwas übrig hatte. Sich bei ihm beschwert oder einen Kommentar hinterlassen hatte sie aber nie. Woraus er wiederum geschlossen hatte, dass es sie nicht störte, solange sie außen vor war und er sie in Ruhe ließ. Wobei ihm auch nie in den Sinn gekommen war, mit ihr zu flirten. Das Einzige, was er ab und zu versuchte, war, sie mit kleinen Witzeleien aus der Reserve zu locken und in Gespräche mit einzubeziehen. Doch kamen ihre Reaktionen meistens so zeitverzögert, als hätte sie ihm gar nicht zugehört. Zudem war sie seiner Meinung nach viel zu steif und sie hatte auch stets den Eindruck hinterlassen, dass sie an ihm genauso wenig interessiert war wie er an ihr. Für ihn hatte es sich daher bisher immer richtig angefühlt, mit ihr auf höflicher Distanz zu bleiben. Weshalb er sich auch erneut nicht erklären konnte, warum er sich am Vorabend so dämlich verhalten hatte.
Oskar seufzte. Ihm wurde klar, dass er darauf auch diesmal keine Antwort finden würde. Verdrossen ging er weiter, bis er sein übliches Lauftempo erreichte, wobei sein Blick wieder in jede Seitenstraße abschweifte, an der er vorbeikam. Und ohne sich erneut dagegen zu wehren, ließ er den Vorabend – diesmal komplett – noch einmal in seinem Kopf Revue passieren.