Kapitel 10
Das neue Semester hatte begonnen, ganz oben auf dem Plan stand Kampftraining. Stundenlang. Simon sah ein, dass ein Held kämpfen können musste, doch man konnte es auch übertreiben. Seit acht Jahren herrschte ein Waffenstillstand mit Aegir. Nichts deutete daraufhin, dass sich bald etwas ändern würde. Wobei… wer wusste schon was geschehen würde, wenn die Reinkarnierten zurückkehrten? Dieser Aaron sorgte bestimmt für Ärger. Trotzdem. Vier Stunden am Stück waren einfach zu viel. Die Lehrer begründeten das harte Training damit, dass ein richtiger Kampf Stunden-bis tagelang dauern konnte. Simon hoffte nie in einen Krieg zu geraten.
Nach jedem Training tat ihm alles weh. Besonders der rechte Arm schmerzte. Simon lag im Gras, er konnte nicht mehr. Vielleicht war er einfach nicht dafür geschaffen ein Held zu sein? Die Zweifel nagten schwer an ihm. Er wollte keine Enttäuschung sein. Weder für seine Eltern, noch für die Lehrer oder seine Freunde. Tränen traten ihm in die Augen. Simons Blick verschwamm, die Wolken am blauen Himmel verloren für einen Moment ihre Konturen. Schnell wischte er die Tränen weg. Er wollte nicht, dass ihn jemand in dieser Verfassung sah. Das war erbärmlich.
»Du willst jetzt aber nicht schon aufhören, oder?«, hörte er Lennox‘ Stimme. Er und Senta kamen auf ihn zu. Lennox grinste ihn an.
Sentas Lächeln war mild. Das schwarze Haar hatte sie zusammengebunden, die haselnussbraunen Augen strahlten eine sanfte Wärme aus.
Ohne es zu wissen trieb Lennox die Zweifel tiefer in Simons Herz. Simon wusste, dass Lenny es nicht so meinte. Dass sein bester Freund gar nicht wissen konnte, wie es in seinem Inneren wirklich aussah. Das Gefühl nicht gut genug zu sein fraß Simon innerlich auf. Er setzte sich auf.
»Doch. Will ich. Ich kann nicht mehr. Keine Ahnung wo ihr beide die Energie hernehmt. Ich bin fertig.«
Lennox musterte ihn. Sein Lächeln verblasste. »Dir ist schon klar, dass ich das nicht ernst meinte, oder?«, fragte er vorsichtig.
»Ist es. Ich…ich fühle mich nur wie ein Versager«, gab Simon zu. Strich sich hektisch durch das blonde Haar. Ertastete ein Blatt, das sich in den Haaren verfangen hatte und zog es heraus.
Senta setzte sich neben Simon ins Gras. »Du bist kein Versager. Du bist unser bester Freund. Jeder von uns hat Stärken und Schwächen. Lenny ist nicht gut in Geschichte und Theorie langweilt ihn oft. Beides ist jedoch wichtig. Ich selbst kann zwar kämpfen, möchte jedoch nicht. Ich empfinde Krieg als überflüssig. Auch die mentale Einstellung im Kampf ist wichtig.«
»Da kann ich meiner Freundin nur zustimmen«, meinte Lennox und setzte sich ebenfalls ins Gras. »Außerdem werden meine Kräfte als Halbdämon jeden Tag durch das Pulver unterdrückt. Ich kann gar nicht richtig trainieren. Im Krieg wäre ich wahrscheinlich überfordert, weil ich zu wenig Übung habe.«
»Du trainierst doch Zuhause, Lenny«, widersetzte Simon.
»Das ist nicht dasselbe. In der Akademie korrigieren mich die Lehrer, wenn ich Fehler mache. Mit meinen Geschwistern veranstalte ich Übungskämpfe. Doch ich halte mich zurück, weil ich Angst habe ihnen weh zu tun.«
»Verstehe.« Lennox hatte ein schweres Los gezogen. Der geborene Held war längere Zeit sehr krank gewesen. Die »Heldenkrankheit«, wie sie auch Linus erwischt hatte. Lennox wäre fast gestorben. Als quasi letztes Mittel hatte man versucht, ihn mit Dämonenblut zu heilen, denn Dämonen konnten die Krankheit nicht bekommen. Allerdings lag die Wahrscheinlichkeit wirklich geheilt zu werden bei gerade einmal zehn Prozent. Das Blut konnte leider den Verlauf beschleunigen, wenn es nicht vertragen wurde. Außerdem konnte es auch nach der Heilung zu schweren Komplikationen kommen, der Held konnte wahnsinnig werden, weil Helden und Dämonen derart verschieden waren. Es grenzte daher an ein Wunder, dass Lennox sowohl körperlich wie auch geistig gesund geworden und geblieben war. Sein Blut war nicht mehr rein, er war zur Hälfte Held und zur Hälfte Dämon.
Mit einem Mal kam Simon sich dumm vor. Er jammerte auf hohem Niveau. Lennox hatte so viel durchgemacht. War gar von der Akademie geschmissen worden, weil er seit der Krankheit Dämonenblut in sich hatte und hatte darum kämpfen müssen wieder aufgenommen zu werden.
»Tut mir leid. Ich übertreibe. Du hast ganz andere Probleme, Lenny.«
»Ach hör auf. Das kriege ich schon hin. Seit ich gesund geworden bin geht es mir gut«, sprach Lennox beruhigend. Er lächelte leicht, wobei sich Grübchen in seinen Wangen bildeten. Sein Haar war dunkelbraun und die Augen von einem wunderschönen Bernstein.
Augen in denen Simon sich verlieren konnte. Er schluckte. Schaute ins Gras. Ein weiteres Problem. Er mochte Lennox und das nicht auf die freundschaftliche Art. Ein absolutes Tabu. Simon wusste, dass Lenny mit Senta zusammen war und das schon seit zwei Jahren. Dass die beiden noch jemanden suchten, um ihre Beziehung zu komplettieren, machte es nicht einfacher für ihn. Simon wollte dieser Eine sein. Wusste jedoch ziemlich sicher, dass er für Lennox und Senta »nur« ein Freund war. Was weh tat. Simon hatte sich nie getraut seinem besten Freunden die Gefühle zu gestehen. Die beiden wussten nur, dass er bisexuell war. »Okay.«
In diesem Moment stieß Wanda zur Gruppe dazu. Simon war heilfroh aus seinen Gedanken gerissen zu werden. Sie war erst seit drei Monaten an ihrer Akademie und hatte sich gleich mit Senta angefreundet. Auf Simon wirkte sie etwas distanziert und zugleich hatte er schon häufig beobachtet wie temperamentvoll Wanda war. Wenn sie etwas nicht auf Anhieb konnte, verlor sie schnell die Geduld und rief aus.
*
Sie schritt selbstbewusst auf die Gruppe zu. Das dunkelrote Haar fiel ihr in Wellen bis weit über die Schultern. Das lange, silberne Schwert mit dem Griff einer Schlange hielt sie locker in der rechten Hand. Wanda hatte erst vor kurzem an diese Schule gewechselt. Aegir war indirekt schuld daran. Der neue Dämonenherrscher hatte dafür gesorgt, dass nur noch zwei Helden- Akademien existieren durften. Mit der simplen Begründung »,wenn ich keinen Krieg will und ihr keinen Krieg wollt, weshalb braucht es dann mehrere Akademien, an denen Helden trainiert werden, um Dämonen zu bekämpfen? Das ergibt keinen Sinn.«Darüber war lange diskutiert worden. Schließlich hatte die Anführerin der Helden, Istaya, eingewilligt. Aegirs Truppen waren abgezogen und von da an war Ruhe eingekehrt. Wanda hielt überhaupt nichts von dieser Art von »Verhandlungen«. Das war Erpressung und sonst gar nichts! Sie glaubte keine Sekunde dran, dass der Waffenstillstand halten würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis erneut Krieg herrschte. Weshalb Wanda das Kampftraining auch für das Wichtigste hielt. Völkerkunde, Sprachen, Geschichte usw. waren vernachlässigbar. Sie konzentrierte sich vor allem auf die Theorie und Praxis des Kämpfens.
Wanda war eine Einzelgängerin und mochte die wenigsten Leute. Wäre sie nicht gleich nach dem Schulwechsel Senta begegnet, hätte sie sich bewusst von allen abgekapselt. Sie wollte und brauchte keine Freunde. Zumindest war das zuvor ihre Ansicht gewesen. Senta hatte sie eines Besseren belehrt. Mit ihr Zeit zu verbringen fühlte sich locker und ungezwungen an, etwas dass sie zuvor nie erlebt hatte. Für diese Erfahrung hatte es sich tatsächlich gelohnt, dass ihre Eltern umgezogen waren. Lennox, Simon und dieser Linus waren in Ordnung. Auch wenn Lennox ein Draufgänger war, Linus sehr zurückhaltend und nun todkrank und Simon… aus ihm wurde sie nicht schlau. Auf jeden Fall schien er immer wieder unter Selbstzweifeln zu leiden und nicht viel Ausdauer im Kampf zu besitzen.
»Hallo zusammen. Macht ihr Pause?«
»Ganz genau. Setz dich doch zu uns«, sprach Lennox lässig und schenkte ihr ein einladendes Lächeln.
»Gerne«, Wanda bemühte sich um ein Lächeln, setzte sich jedoch neben Senta, nicht neben ihn. Es lag nicht nur daran, dass Lennox ihr etwas zu viel Energie und Temperament hatte. Nein. Er trug Dämonenblut in sich. Wanda fand, dass man es Lennox anmerkte. Dieses verwegene Funkeln in den Augen und dass er gerne Risiken einging. Sie wusste nicht wie er vor der Krankheit gewesen war. Aber Dämon blieb Dämon. Egal ob halbes oder ganzes Blut. Für sie zählte er nicht mehr zu den Helden. Sie war jedoch klug genug, um ihre Meinung nicht laut kund zu tun.
»Hi. Hast du den Aufsatz für Geschichte bereits fertig?«, fragte Senta.
»Klar«, log sie. Dass Wanda etwas ganz anderes nach der Schule tun wollte als an ihrem Aufsatz zu schreiben, konnte sie nicht preisgeben und sie hatte auch keine Zeit sich mit Senta zusammen zu setzten. Nicht heute.
»Schade. Wir hätten nach der Schule zusammen daran arbeiten können«, meinte Senta.
»Ein anderes Mal sehr gerne«, sagte Wanda mit einem warmen Ton in ihrer Stimme. Das war die Wahrheit, sie freute sich bereits darauf mit Senta Zeit zu verbringen.
Senta lächelte leicht. »Super.«
Nach der Schule ging sie nach Hause und zog sich um. Schwarze Kleidung aus speziellem Stoff, der feuerfest und stichfest war. Die Maske hatte sie sich zusätzlich gekauft. Der Anzug hatte ein Vermögen gekostet. Ihre Mutter hatte ihn aus Sorge vor dem drohenden Krieg gekauft, wo noch nicht sicher gewesen war, ob die Verhandlungen von Erfolg gekrönt sein würden. Allerdings wäre ihre Mutter bestimmt nicht damit einverstanden gewesen, wenn sie gewusst hätte, für was Wanda die Kleidung (miss-)brauchte. Wanda hatte die Haare sorgfältig zusammengebunden und im Anzug verschwinden lassen. Rot war keine unauffällige Farbe.
Es war eine gute halbe Stunde zum Laufen durch den Wald. Wanda versicherte sich mehrfach, dass ihr niemand folgte. Erst dann öffnete sie die Luke im Boden und ließ sich in den Tunnel fallen. Hier unten herrschte nur spärliches Licht, sie musste sich erst daran gewöhnen und mehrere Male blinzeln. Eine Öllampe erhellte den Tunnel, warf Schatten auf die nackten Steinwände. Wanda kannte den Weg, sie war ihn etliche Male gegangen. Nach fünf Metern kam eine Abzweigung nach rechts, dort war eine weitere Lampe angebracht worden. Nochmals fünf Meter, da die rechte Türe. Sie klopfte an. Drei Mal schnell, zwei Mal langsam. Das war der Code. Ihr wurde geöffnet, Yuri. Erst jetzt zog sie die Maske ab.
»Gut, dass du heute auch noch kommst«, sprach er sarkastisch. Yuri war zwanzig Zentimeter grösser als sie, trug dunkle Kleidung und schwarze Schuhe. Er hatte einen Bart, der sich an den Enden kräuselte und seine Augen waren von einem undefinierbaren Graublau. Allgemein wirkte der zwanzig Jahre ältere Mann etwas verrückt, was er vermutlich auch war und sein musste, wenn er bei solch einem Unterfangen mitmachte. Wenn sie erwischt wurden, drohte ihnen weitaus Schlimmeres als der Tod.
»Du weißt wie das ist. Ich kann nicht einfach früher von der Akademie kommen. Es wäre zu auffällig.«
»Klar.« Yuri schnaubte. »Aber ich kann früher von meiner Familie weg gehen.«
Wanda verdrehte genervt die Augen. »Yuri. Nerv mich nicht. Zeig mir lieber, was du bekommen hast.«
»Wie die Chefin befiehlt.« Yuri ging in den hinteren Teil des Raumes, griff in eine der Metalldosen, die dort aufeinandergestapelt waren. Ihr Vorrat war mager, es sollte mehr sein. Leider war es überhaupt nicht einfach an die verbotene Ware zu kommen. Das war Wanda ein Dorn im Auge. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Außer der Metalldosen waren noch Kleidung, etwas Geld, Nahrung und Wasser hier gelagert, verteilt auf mehreren Regalen. Für den Notfall, falls sie mehrere Tage oder länger untertauchen mussten. »Wo sind eigentlich Martina und Patrick?«
Yuri schüttelte den Kopf.
Wanda wusste genau, was das bedeutete. »Verdammt!«, fluchte sie. »Dieser miese Bastard! Warte nur, dem werden wir es heimzahlen. Wer zuletzt lacht…«
»Aegirs Schergen sind überall. Ich bin als einziger entkommen.«
»Mist.« Zum Glück hatten sie Patrick und Martina nichts von diesem Tunnel erzählt und immer Decknamen verwendet. Trotzdem. Es war unschön. Wanda grauste es beim bloßen Gedanken daran, was der Herrscher mit den beiden anstellte.
»Es sind leider bloß zwanzig Gramm, die ich in meinen Besitz bringen konnte«, sprach Yuri und zeigte ihr den Beutel mit dem grauen Pulver darin.
Wanda ballte die Hände zu Fäusten. Viel zu wenig. Eines musste sie diesem Bastard lassen, Aegir hatte sein Reich im Griff. Kalte Wut packte sie und sie griff nach einer Dose mit Erbsen und schmiss sie gegen die Wand. Keiner der »großen Helden« hatte das Pulver eingesetzt. Es wäre »unehrenhaft« gewesen, hatten Wandas Eltern ihr erklärt. Als ob die Dämonen ehrenhaft gekämpft hätten, dass sie nicht lachte. Wanda konnte nicht verstehen, dass es selbst im Krieg gewisse Regeln zu geben schien. Dass Leonhard, Ilay, Adele etc. nicht die Kraft der Wurzel gegen den Feind genutzt hatten. Unverzeihlich. Es war moralisch sicher nicht einwandfrei die Dämonen ihrer Kräfte zu berauben. Doch im Krieg und in der Liebe war bekanntlich alles erlaubt.