Er hackte Holz. Die Klinge der Axt spaltete die Scheite ab, der Stapel wurde zunehmend höher. Immanuel hackte und hackte, bis er den rechten Arm kaum noch bewegen konnte. Er hasste es so sehr sich hilflos zu fühlen. Einfach nur ein Mensch zu sein. Im Vergleich zu den Dämonen, die das Feuer beherrschten und den Helden, die der Legende nach von den Engeln abstammten, stärker, schneller und widerstandsfähiger waren, hatten die Menschen den Dämonen nicht viel entgegen zu setzen. Sie waren darauf angewiesen von den Helden geschützt und unterstützt zu werden. Zumindest bis nach dem Krieg, denn nun hatte sich einiges geändert. Aegir war an die Macht gelangt, keiner wusste ob Leonhard, Ilay, Adele und die weiteren rechtzeitig zurückkehren würden und vor allem ob sie noch dieselben sein würden, wie zuvor. Schließlich konnte ein neues Leben alles verändern.
Yhvale, die Stadt in der er lebte, war unter dämonischer Herrschaft. Was das hieß? Der Handel wurde streng kontrolliert, die Abgaben waren unverschämt hoch, Wachen patrouillierten unentwegt und dieses dämonische Gesindel hatte begonnen sich einzuquartieren. Zuvor hatten wenige Dämonen hier gelebt, meistens mit ihren Familien. Jetzt, wo Aegir Yhvale beherrschte, hielt seine Schergen nichts mehr zurück. Nicht wenige Menschen wurden einfach aus ihren Häusern geworfen. Andere schikaniert und gedemütigt. Yhvale lag nicht an der Grenze zum Dämonenreich, wie Isedir. Die Dämonen waren von Verul über die Brücke nach Isedir gelangt, die erste Stadt nach der Grenze. Auf dem Höhepunkt von Aegirs Macht standen zehn Städte des Menschenreiches unter seiner Herrschaft. Erst nach den Verhandlungen war Yhvale an ihn gegangen.
Zu dieser Zeit hatten ihre Probleme begonnen. Immanuel biss die Zähne zusammen. Erinnerungen, die er krampfhaft zu unterdrücken versucht hatte, strömten auf ihn ein.
Der Wind peitschte durch die Bäume, dunklen Wolken am Horizont kündeten vom kommenden Regen. Donner grollte, wie das tiefe Knurren eines Wolfes und die ersten Blitze fanden zuckend ihren Weg nach unten.
»Immanuel, hol die Wäsche rein«, wies ihn seine Mutter an.
Er murrte kurz, ging dann jedoch mit seiner Schwester nach draußen. June trug eine hellblaue Bluse und weiße Leinenhosen, sie war gut einen Kopf kleiner, als ihr Bruder. Der Wind zerzauste seine dunkelbraunen Haare und riss an den Kleidern. Immanuel kämpfte sich tapfer weiter bis zur Wäscheleine. Schon begannen die ersten Tropfen vom Himmel zu fallen.
»Ich geh Vater holen, nimm die Wasche ab und leg sie in den Korb«, sprach er zu June. Diese nickte.
Immanuel ging weiter, zu seinem Vater. Er wollte Yareck gerade darauf ansprechen, dass er ins Haus kommen sollte, als ihm die Worte im Hals stecken blieben.
Es waren drei. Die Dämonen schritten zum Wald hinaus, ihr Grölen brandete gegen den Sturm an. Eine Frau, zwei Männer. Alle trugen Schwarz, hatten ihre langen Klauen ausgefahren und die Schwerter gezogen. Spielerisch fuchtelten sie mit den Klingen in der Luft herum. An zwei davon war Blut zu sehen. Nur die des linken Mannes war unbefleckt.
Immanuel wich automatisch zurück.
»Geh zurück ins Haus!«, befahl ihm sein Vater.
»Aber, ich…«
»Geh!«
Immanuel zuckte zusammen. Sonst war sein Vater nie derart harsch. Es musste wirklich ernst sein. Er wagte nicht sich zu widersetzen und rannte zurück zum Haus. Er keuchte, schlug die Türe hinter sich zu. Genau in diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen und es begann sintflutartig zu regnen. Seine Mutter stand am Fenster und schaute sorgenvoll nach draußen, June war neben ihr. Immanuel drängte sich zu ihnen. Leider konnte man aufgrund des extremen Regens, der durch den Wind verweht wurde, nicht viel erkennen. Lediglich vier Schemen waren sichtbar; sein Vater auf der rechten Seite und die drei Dämonen. Es schien, als würden sie miteinander diskutieren -allerdings nicht lange. Da wendete sich das Blatt. Sie gingen aufeinander los. Der Vater mit der Axt, die Dämonen griffen mit den Schwertern an. Seine Mutter keuchte erschrocken auf. Sie ging vom Fenster weg. June war in einer Schockstarre gefangen, sie rührte sich nicht. Immanuel ging es ähnlich wie seiner Schwester. Er wollte nicht weiter zu sehen, er musste etwas unternehmen, musste seinem Vater helfen. Aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Immanuel war wie festgefroren. Erst als seine Mutter zurückkehrte und zu ihnen beiden sprach: »Ihr werdet hierbleiben, Kinder«, löste sich seine Erstarrung. Immanuel drehte sich um, sah gerade noch wie seine Mutter mit dem großen Küchenmesser nach draußen trat. Immanuel wollte ihr nachgehen, doch seine Schwester hielt ihn fest. »Nicht. Mutter hat gesagt, wir sollen hierbleiben.«
»Ich weiß. Doch sie brauchen Hilfe.« Er riss sich von ihr los und öffnete die Türe. Der Regen hatte nachgelassen. Seine Mutter hatte bereits mehrere Meter Vorsprung, er musste sich beeilen. Die Dämonen indessen kämpften weiter. Wie bereits befürchtet konnte sein Vater den drei Gegnern nicht lange standhalten. Die Axt wurde ihm aus der Hand gerissen, wobei ihn die Dämonen höhnisch auslachten. »Was, das soll bereits alles gewesen sein?!«, spottete die Frau. Selbst aus dieser Distanz konnte Immanuel die Dämonen verstehen, da sie die Worte nahezu schrien.
Was sein Vater erwiderte, konnte er nur zum Teil verstehen … »elendes Gesindel … verschwindet von meinem Land, bevor …« Weiter kam er nicht.
Immanuel blieb fast das Herz stehen, als der Dämon links von der Frau sich in Bewegung setzte, blitzschnell die Distanz zu seinem Vater überwand und ihm einen Kinnhaken verpasste. »Wie war das?» Der Dämon schüttelte den Kopf. «Solch ein respektloses Verhalten muss bestraft werden, findet ihr nicht auch?«
Die anderen Dämonen stimmten nickend zu. Sie bildeten einen Kreis und begannen auf ihn einzuschlagen. Mit und ohne ihre Schwerter.
Die Mutter hatte die Gruppe fast erreicht. »Sofort aufhören!«, forderte sie, das Küchenmesser erhoben.
»Halt dich da raus, Weib, wenn du weißt was gut für dich ist«, knurrte der Dämon links von der Frau, während die beiden anderen Dämonen fortfuhren auf den Vater ein zu prügeln. Dieser war zu Boden gegangen, hielt schützend die Arme um seinen Kopf und hatte die Beine angezogen.
»Nein! Ihr verschwindet jetzt sofort, sonst … «, weiter kam sie mit ihrer Drohung nicht. Immanuel hatte den Rest der Strecke zurückgelegt. Den Regen, der wieder zugenommen hatte, merkte er praktisch nicht, obwohl seine Kleidung bereits durchnässt worden war und anfing wie eine zweite Haut an ihm zu kleben.
»Ich habe dir befohlen im Haus zu bleiben!«, schrie seine Mutter.
«Tut mir leid. Ich … ich wollte helfen.«
»Wie rührend.« Die Dämonen ließen von seinem Vater ab, der reglos liegen blieb und wandten sich ihnen zu.
»Jetzt seid ihr dran!», sprach die Frau. Ein grausames Grinsen zierte ihre schmalen Lippen.
Immanuel wich zurück. Erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie gefährlich die Lage wirklich war. Sie waren bloß Menschen und den drei Dämonen weit unterlegen, sowohl von den Reflexen, wie auch den Waffen her und ihre Verletzungen heilten auch nicht derart rasch. Seine Mutter war ebenfalls zurückgewichen.
»Nicht so schnell. Sucht euch gefälligst gleichwertige Gegner!«, erklang es aus dem nahegelegenen Wald.
Ruckartig drehte sich Immanuel um. Pure Erleichterung durchflutete ihn. Da waren sie; vier Helden. Zu erkennen an den besonderen Schwertern und dem Wappen auf ihrer Kleidung. Die Buchstaben DHA mit einer Rose im Hintergrund. Was für DIE HELDEN AKADEMIE stand. Er hatte zwar keine Ahnung weshalb und wie sie hierher gelangt waren, doch momentan war das unwichtig.
Die Dämonin zischte erbost und hatte das gezackte Schwert erhoben, bereit zum Angriff, ihre zwei Begleiter taten es ihr gleich. Immanuel erkannte, dass das ihre Chance zur Flucht war. Als die beiden Fronten aufeinander losgingen, schleppten er und seine Mutter den Vater mit vereinten Kräften ins Haus zurück.
Immanuel zwang sich dazu die Erinnerungen zu verdrängen, ansonsten würde er die ganze Nacht draußen stehen und Holz hacken. Sein Vater war zwar mit dem Leben davongekommen, doch er hatte mehrere Brüche und Prellungen erlitten. Außerdem war der Knochen des linken Beines nicht gerade zusammengewachsen, weshalb er heute noch hinkte. Wut brannte siedend heiß in seiner Kehle, die Hände um die Axt verkrampfen sich, er musste sie mühsam wieder lösen. Immanuel nahm das Holz und trug es zum Stapel hinter dem Haus, der mit einem Dach aus Ziegeln vor Regen geschützt war. Er verstaute die Scheite und ging ins Haus.
*
June sass auf dem braunen Ledersessel vor dem Kamin und las in einem Buch, als ihr Bruder rein stapfte und die Türe hinter sich zuknallte. Sie schüttelte leicht den Kopf, unterdrückte ein Seufzen. Es war wieder einer dieser Tage. Seit die drei Dämonen gegen ihren Vater gekämpft hatten, waren über zehn Jahre vergangen. Sie waren beide keine Kinder mehr, keine acht Jahre alt mehr. Doch manchmal benahm sich ihr Bruder so, als wäre er es. Sie konnte seine Wut nachvollziehen, aber irgendwann … sollte man nicht loslassen können? Immerhin lebten sie alle noch, die Helden waren ihnen zur Hilfe gekommen. Natürlich war es unschön, dass ihr Vater einen körperlichen Schaden davongetragen hatte, doch es hätte schlimmer kommen können. June vertiefte sich wieder in ihr Buch, das von einer Romanze zwischen einem Menschen und einer Dämonin handelte. Ihr Bruder war gar nicht erfreut gewesen, dass sie solch einen »Schund« las. Er hatte ihr einen Vortrag darüber gehalten, von wegen sie vergeude ihre Zeit, sie solle lieber Kampftraining praktizieren oder sich wenigstens etwas Geschichtliches zu Gemüte führen. Zum Beispiel wo die Grenzen der Reiche lagen. -Gab es etwas Langweiligeres? Selbstverständlich wusste June darüber Bescheid, für etwas war sie in die Schule gegangen. Vielleicht war ihre Ausbildung nicht so streng wie die der Helden, aber ein solides Grundwissen war definitiv vorhanden.
Das Menschenreich lag zwischen dem Dämonenreich im Westen und dem Reich der Helden im Osten. Viele Grenzen waren durch Flüsse und Seen festgelegt worden. Die Iseda, stellte die westliche Grenze zwischen dem Menschenreich und dem Dämonenreich dar, im Osten war der Nestar mit seinem dunkelvioletten Wasser, der salzhaltige Gee-See war im Norden zu finden und die glasklaren Wasser der Yesa im Süden. Der Norden war unbewohnbar und bestand aus einem Labyrinth aus Felsen und Höhlen, in denen Giftpflanzen und Tiere hausten, denen man besser aus dem Weg ging.
Der Süden bestand aus einer kalten »Wüste«, dessen Temperatur zwischen zehn Grad am Tag und Minus vierzig in der Nacht lagen. Die wenigsten Tiere und Pflanzen vermochten es diesen hohen Schwankungen Stand zu halten.
Wenn das nicht ausreichte, wusste June auch nicht mehr. Jedenfalls widmete sie sich viel lieber der Romanze, als der Geschichte der Reiche, die von Krieg und Gewalt geprägt worden war.
Eine Stunde später, die Sonne war bereits unter gegangen, hatte sich June erhoben und ihr Buch zur Seite gelegt. Sie mochte die Handlung sehr, doch realistisch war sie nicht. Menschen und Dämonen hegten ein großes Misstrauen gegeneinander, auch wenn June sich wünschte, dass es anders wäre.
Sie ging in die Küche und half ihrer Mutter zu kochen, rüstete das Gemüse.
Erst beim Essen saßen sie alle zusammen. Zuerst herrschte Schweigen. Es wurde Suppe geschöpft und gelöffelt. Schließlich äußerte sich Immanuel: » Ich werde fort gehen.«
Die Mutter ließ vor Schreck den Löffel fallen, welcher in der Suppe landete und Spritzer auf das weiße Tischtuch warf. «Was?«
Ihr Vater, der gerade einen Schluck Wasser trinken wollte, hatte in der Bewegung innegehalten.
»Ich gehe hier weg. Ich ziehe aus«, wiederholte Immanuel langsam und deutlich.
»Das haben wir schon verstanden«, meinte der Vater und stellte das Glas Wasser auf den Tisch zurück.
June wurde flau im Magen. Sie hatte eine Ahnung und hoffte, dass sie falsch lag.
»Ich will zur Helden-Akademie«, sprach Immanuel schließlich.
»Normale Menschen sind da nicht zugelassen«, erwiderte der Vater.
»Ich werde einen Weg finden«, entgegnete Immanuel stur.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, mein Schatz …«, begann die Mutter, wurde rüde von ihrem Sohn unterbrochen.
»ICH finde es eine ausgezeichnete Idee!«
»Da kann ich Theresa nur zustimmen. Die Helden sind nicht wie wir. Sie sind keine normalen Menschen, sondern eine andere Rasse. Durch ihre Adern fließt anderes, stärkeres Blut. Der Legende nach das von Engeln. Die Trainingseinheiten der Akademien sollen besonders hart sein und alles von ihren Schülern fordern. – Keine gute Wahl für dich.«
June biss sich auf die Lippen. Kurz darauf nahm sie einen metallischen Geschmack in ihrem Mund wahr. Sie kannte ihren Bruder. Wenn er einen Entschluss gefasst hatte, zog er es durch. Er würde sich die Idee nicht einfach ausreden lassen. Auch nicht von ihren Eltern.
»Ich werde es schaffen«, beharrte Immanuel trotzig.
»Ich weiß, dass du wütend bist und dich nach Rache sehnst, doch das ist keine Lösung! Was mir geschehen ist, ist zwar schlimm, aber ich habe mich damit abgefunden«, sprach der Vater.
»Es ist mein Leben, meine Entscheidung. Außerdem tue ich es ebenso für mich. Ich habe es satt mich hilflos zu fühlen. Ich möchte aktiv etwas dagegen tun«, sagte Immanuel. Er trank einen Schluck Wasser.
»Bitte, Kind, sei doch vernünftig«, appellierte die Mutter verzweifelt.
»Ich bin KEIN Kind mehr! Ich bin zweiundzwanzig und ich WILL das. Egal was ihr sagt, ihr könnt mich nicht davon abhalten zu gehen!« Immanuel erhob sich vom Tisch und ging mit dem halbvollen Suppenteller und dem Glas Richtung Küche, wo er beides abstellte.
June hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Die Stimmung war sonst schon aufgeheizt genug, da hatte sie sich nicht noch einmischen wollen. Erst als ihr Bruder aus der Küche zurückkam sprach sie: »Wenn du gehst, gehe ich auch.«