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Das Zusammenleben des neu verheirateten Paares erwies sich als große Herausforderung. Leos Mutter musste erst kochen lernen, was ohne Kochbuch und lediglich mit Anleitung verschiedener Ratgeber eine schwierige Aufgabe war. Sie gab sich große Mühe, hatte viel aufzuholen, wollte vor allem nie wieder hungern und kümmerte sich auch um ihre Geschwister, die sich bedienen durften, solange das Essen schmackhaft war.
Leos Vater Hilfsarbeiter in einer Schokoladenfabrik und ließ seinen Traum, einen eigenen Friseursalon zu eröffnen, hinter sich. In jener Zeit war es kaum möglich, eine Familie allein mit den Einnahmen eines Friseursalons zu versorgen. Obwohl Leopold gut verdiente, seine Arbeit körperlich sehr anstrengend. Es ist daher verständlich, dass er verärgert war, als seine Frau das gesamte Geld für Lebensmittel ausgab, die dann teilweise weggeschmissen werden mussten, da kein Kühlschrank zur Verfügung stand.
Berichten zufolge flog ein Tisch mit dem Abendessen darauf einmal gegen die Wand und ein anderes Mal fiel die Wohnungstür samt Türstock langsam und wie in Zeitlupe ins Zimmer zurück, nachdem Leos Vater sie im Zorn heftig zugeschlagen hatte.
Leos Stärke kam nicht allein daher, dass er täglich in der Fabrik 40-Kilogramm-Säcke mit Kakaobohnen schleppte. Sein Vater war Mitglied der Kampfmannschaft von "Kraft Frei, Fünfhaus", einem Gewichtheber-Verein. Bei dieser Sportart müssen Athleten schwere Gewichte an beiden Enden einer Stange befestigen, sie anheben und mindestens drei Sekunden lang mit gestreckten Armen über dem Kopf halten.
In guter körperlicher Verfassung zu sein, ist dabei essenziell. Mit einer Größe von nur 172 cm und einem Gewicht von 90 kg – und das hauptsächlich Muskeln, und sein 120 Kg drücken, sein Vater, eine beeindruckende Leistung.
Doch genau darin lag ihre Disharmonie. Inge fürchtete sich vor ihrem Mann, vor seinem Jähzorn und seiner körperlichen Stärke. Trotzdem genoss sie die Samstage, sei es für das Training oder einen Wettkampf im Gewichtheben, als willkommene Abwechslung zur täglichen Routine.
Zu der Zeit, als Leo laufen lernte, eine Fähigkeit, die dort wenig geschätzt wurde, musste er oft auf dem Schoß Fremder Platz nehmen, da es an freien Stühlen für Kinder fehlte. Der Geruch von Bier, Wein und Rauch, den er dabei einatmete, verstärkte seine Abneigung gegen diese Genussmittel. Doch es gibt auch Positives: Schon im Vorschulalter offenbarte Leo ein außergewöhnliches Zeichentalent, das er jenen Abend im Klub präsentierte.
Geschickt skizzierte er auf Bierdeckeln und Blöcken Häuser mit geraden Schornsteinen, Fenster mit Oberlichtern und Dächer mit Regenrinnen. Ebenso wurden Autos mit ihren Scheinwerfern, Fenstern und Lenkrädern dargestellt. All dies war das Ergebnis unzähliger Stunden des Übens und Nachzeichnens.
In jenem Verein ereignete sich einst etwas Außergewöhnliches, dessen Tragweite Leo damals noch nicht begreifen konnte. Ein Mann, so groß und kräftig wie Leos Vater, gestattete ihm, auf seinem Schoß in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Er klatschte, wenn ein Versuch erfolgreich war und die Sportler ihre Gewichte ablegen durften. Er fungierte als Schiedsrichter, war aber auch der Obmann und der Vorsitzende des Vereins. Sein Name war Maximilian, doch für Leo war er einfach Max – ein Polizist, aber kein gewöhnlicher. Max, der oft auf einem Motorrad unterwegs war, manchmal auch auf der sogenannten 'weißen Maus', wurde für Leo mehr als nur ein väterlicher Freund. Er rettete ihn aus zahlreichen brenzligen Situationen in verschiedenen Polizeidienststellen. Sein Rang als Bezirksinspektor, erkennbar an den drei goldenen Sternen auf silbernem Hintergrund, reichte stets aus, um andere Polizisten zur Ordnung zu rufen, stramm stehenzulassen und Leo mitzunehmen.
Er wurde ein Freund der Familie und vor allem später für Leos Mutter eine besonders wichtige Person, aber das wird noch viel genauer beschrieben.