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Leo verbrachte seine Kindheit in einem Klosterinternat, wo er viel Zeit hauptsächlich in der Mädchengruppe verbrachte. Der weitläufige Saal war in unterschiedliche Bereiche unterteilt, die durch Bücherregale abgegrenzt waren. Es gab eine Puppenecke, Zonen zum Malen und Basteln, eine Spielecke mit verschiedenen Brettspielen und einen Bereich für die Älteren, die bereits zur Schule gingen.
Leo spielte lieber Mutter, Vater und Kind als mit Autos und Bausteinen. Die Mädchen verwendeten untereinander liebevolle Worte, die ihm manchmal fremd erschienen. Als er dachte, er könne einen passenden Beitrag leisten und sagte: "Bist ja hin im Schädel" – einen Ausdruck, den er zu Hause oft hörte und nie als böse empfand –, fand er sich unerwartet in der Besenkammer wieder, weil eine der Schwestern ihn zufällig gehört hatte.
Die Klosterschwestern nannten Leo oft 'nicht normal', ein Etikett, das auch seine Großmutter und sein Vater zu hören bekamen. Seine Mutter hatte sich schon daran gewöhnt, dies jeden Freitag beim Abholen zu hören.
Normal? Was gilt denn als normal? Sich mit anderen Kindern um das einzige Dreirad zu streiten? Über den Hof zu rennen, um einen Ball ins Tor zu schießen? Nein, wenn das 'normal' sein soll, dann wollte Leo das nie sein, und er war es auch nie.
Begleiten wir Leo Witsch auf einer Reise in seine Zukunft, ins Jahr 1964. Zu dieser Zeit war Leo noch ein Junge, der seine Ansichten über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit formte. Diese wurden nicht durch besondere Vorbilder geprägt, sondern ausschließlich durch seine persönlichen Erfahrungen und die Irrtümer anderer.
Zivilcourage ist das Eingreifen in Situationen, in denen andere Hilfe brauchen. Sie verlangt Mut und die Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen. Leo, der nie Furcht kannte, zeigte außergewöhnliche Zivilcourage; er konnte nicht einfach wegschauen oder ignorieren, noch sich fragen, ob es seine Angelegenheit ist. Er fühlte sich stets gezwungen, einzugreifen und sich zu engagieren.
Dies hatte zur Folge, dass er trotz seiner Jugend schon mehrmals vor dem Jugendgericht erscheinen musste, was zu ungewöhnlichen Urteilen führte, wie beispielsweise zur häuslichen Bestrafung entlassen zu werden.
Es handelte sich bereits um die siebte Gerichtsverhandlung gegen Leo wegen Körperverletzung, und der Kläger war diesmal ein Erwachsener.
Der Vater eines Jugendlichen, dieser welcher Hilde, auf das ärgste ausgegriffen hatte.
Hilde wartete nach der Schule auf Leo, um ihn um Hilfe zu bitten. Sie kannten sich zu der Zeit noch nicht; sie wusste nur, dass Leo ein Junge war, der scheinbar keine Angst kannte. Für Leo schien es Schicksal zu sein.
Sie hatte rote Haare und Sommersprossen, und sie wurden Freunde – enge Freunde – für das gesamte Schuljahr. Danach begann sie zu arbeiten, und Leo wechselte an eine andere Schule.
Leo reagierte wie gewohnt, so wie es auf der Straße üblich ist. Der junge Mann, der Hilde unsittlich bedrängte, war trotz seiner körperlichen Stärke kein Gegner für Leo und seine "Freunde", die zögerten, ihrem Kameraden zu Hilfe zu kommen. Schließlich war Brutalowitsch, der Boss des Parks, dabei, Norbert fertigzumachen. Der Halbstarke lag am Boden und rief nach seinem Vater.
Leo blutete aus dem rechten Ohr, und verspürte extreme Schmerzen. Er wurde von seinem Vater, der sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte, mit beiden Händen auf die Ohren geschlagen. Leo wehrte sich auf seine Weise, vielleicht etwas zu heftig aufgrund der Schmerzen. Oder war es einfach seine gewöhnliche Art, die ihm den Spitznamen "Brutalowitsch" eingebracht hatte?eine Kombination aus seinem Kampfstil und seinem Nachnamen?
Die ehrenamtliche Richterin am Jugendgericht forderte ein psychologisches Gutachten an, weil ihr sechs Anklagen mit sechs Freisprüchen aufgrund von Notwehr sehr ungewöhnlich erschienen. Nun liegt ein ärztliches Attest vor: Leo war krank. Sigmund Freud prägte einen Begriff für diese spezifische Krankheit. Leo ist autistisch und zeigt eine stark ausgeprägte Form des egoistischen Altruismus.
Leo wird später ausführlich erklären, was mit egoistischem Altruismus gemeint ist. Vorläufig sei nur erwähnt, dass das "Unnormale" schon damals den Klosterschwestern missfallen hat.
Dies sei vorweggenommen, um Leos bevorstehende Ereignisse und Handlungen im richtigen Licht zu sehen.