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Anita wurde zu Unrecht aus dem Internat verwiesen, weil sie zu viel Mitgefühl für Leo zeigte, der das Feindbild einiger Nonnen war. Die Situation am Morgen war zwar heikel; Anita war bei Leo im Bett, und er war nackt. Aber wenn jemand zugehört und sich die Erklärung angehört hätte, dass es keinen sexuellen Hintergrund gab, sondern dass Leos Nachthemd nass war, er es ausziehen musste und zudem heftig zitterte, hätte man es verstehen können. Anita holte ihre Decke, um ihn zu wärmen. Doch bot dies auch eine willkommene Gelegenheit zur Vergeltung für die Zurechtweisung durch den Bischof und das Ende der Strafen in der Besenkammer.
Leo stellte sich den Nonnen entgegen. Er beobachtete sie aufmerksam, spielen für ihn nun bedeutungslos. Ob er in die Ecke gestellt oder zum Knien gezwungen wurde, kümmerte ihn nicht, und immer wieder kamen Mädchen, die ihm heimlich weiche Gummibälle zuschoben, auf denen er knien konnte.
Was hatten sie sich noch einfallen lassen? Und es war nicht nur Leo, der die Auswirkungen spürte. So zum Beispiel: zum Mittagessen gab es Teller voller Kartoffelpüree, jedoch ohne Wurst, und zum Abendessen essen, Entzug. Statt am Tisch zu sitzen, am Gang stehen, in die Ecke blicken, oft auch mehrere, um dann hungrig ins Bett geschickt zu werden.
Täglich kam Dorthe auf neue Ideen. Und ihr aktuelles Opfer war Helmuth, der sich bereits mehrmals übergeben hat. Sie zwangen ihn, indem sie ihm die Nase zuhielten, seinen Mund zu öffnen, den Inhalt zu essen.
Leo beobachtete es, er Rita und Franziska brauchte, ihm helfen, die große Glastür zu öffnen. Er lief hinein, erwischt den Teller und warf ihn auf den Boden. Der Kunststoffteller sprang herum und verteilte seinen Inhalt überall.
Die Schrecksekunde schien eine Minute zu dauern. Die beiden Pinguine, die Helmuth quälen wollten, fanden sich plötzlich ihres Instruments beraubt. Leo wäre beinahe aus dem Speisesaal entkommen, lehnte sich gegen die große Glastür, von der anderen Seite wurde bereits von den zwei Mädels gezogen. Doch?
Die Ältere der beiden Pinguinen, hieß Dorthe, an das erinnert sich Leo, denn eine "Torte" ist etwas Feines, aber sie war ein Ungeheuer. Warum sie Kinder hasste und dennoch in einem Internat arbeitete, blieb für Leo immer ein Rätsel.
Es gibt aber noch Schlimmeres zu berichten. Jahre später es bekannt wurde, als ähnliche Vorfälle in den Medien über ein Heim verbreitet wurden. Leo war sich sicher, dass auch Kinder aus diesem Internat, insbesondere dieser Helmuth, der viel und oft ohne einen Grund zu weinen beginnt, wie auch welche von der großen Gruppe, von Schwester Dorthe geholt und später zurückgebracht wurden. Diese damals wahrscheinlich genauso Missbrauchsopfer wurden, womöglich von denselben Tätern?
Aber nun war Leo an der Reihe; beide Schwestern ergriffen seine Handgelenke und zogen oder schoben ihn in den Waschraum. Dorthe, mit einem besonders breiten Besen bewaffnet, drängte Leo gegen die Wand, um ihm dort damit zu fixieren und befahl ihrer Gefährtin, das Wasser aufzudrehen und Leo anzuspritzen. Ein war ein Eiskalter, harter Strahl aus dem Schlauch und wurde immer kälter und kälter. Leo es dieses Mal noch hilflos ertragen.
Leo erhielt unerwartete Unterstützung von einer der neuen Hilfsschwestern, die kürzlich hinzugekommen waren. Sie beendete das Prozedere entschlossen, indem sie drohte, es zu melden, sollte es nicht sofort eingestellt werden. Es reichte aus, dass sie einen Namen nannte.
Und er kann sich erinnern, dass er sich damals das erste Mal vor dieser noch so jungen Frau schämte. Jetzt vor dieser ganz entblößt zu sein, auch wenn sie ihn liebevoll abtrocknete, in ein Handtuch wickelte, die Haare kämmt und aus seinem Garderobenschrank trockene Sachen holte. Sie brachte ihn in den Aufenthaltsraum dieser neuen Schwestern, die blaue Kleider und weiße Schürzen trugen. Dort erhielt er heiße Milch und Kekse. Den Namen der Schwester, Sabine, hat er bis heute nicht vergessen, und sie hatte genauso wunderschöne rote Haare wie Anita. Leo bekam den Eindruck, dass Mädchen mit roten Haaren einfach freundlicher waren als andere.
Für Leo entwickelte sich ein spezifisches Trauma bezüglich Mädchen und Frauen mit roten Haaren. Er wird viele Geschichten über Rothaarige erzählen können, da er seit jenen Ereignissen eine besondere Zuneigung zu ihnen entwickelt hat.