Tagebucheintrag von Inge, Leos Mutter in kleinen Ursus Heft in Postkartenformat.
Am 7. August 1956 brachte Maximilian morgens Poldi ins Internat und berichtete uns abends von den Ereignissen. Ich zweifelte an Poldis Geschichten, die er wiederholt erzählte, und vermutete, sie seien erfunden, damit er nicht zurückmuss. Doch ich bin entsetzt über das, was meinem Jungen widerfahren ist. Ich sollte ihn eigentlich sofort herausnehmen, aber er muss bis November durchhalten. In der 48. Woche erwarte ich mein zweites Kind und werde dann zu Hause sein. Maximilian, der Bezirksinspektor, hat jedoch vorgesorgt: Die Oberin wurde ihres Amtes enthoben und manchen Klosterschwestern ist die Arbeit im Internat untersagt. Nachdem Maximilian den Kardinal um Unterstützung bat, schickte dieser seinen Sekretär, der Strafen aussprach. Nun wird das Internat von einer qualifizierten Kindergärtnerin geleitet.
Leo erinnert sich gut an diesen Tag, an dem seine Kinderseele für allen erlittenen Schmerz entschädigt wurde. Es begann alles an einem Samstag im Stemmverein. Nach der Urlaubspause gab es Esters Training und ein Treffen, und Leo musste lange warten, bis Max Zeit für ihn fand. Doch dann lauschte Max aufmerksam, als Leo ihm die Hüfte zeigte, die noch immer die dunkelroten Spuren der Schläge aufwies, von dem erzwungenen Erbrechen des Essens berichtete, vom Hungern, in der Ecke knien, vom Schlauch und wie er mit kaltem Wasser abgespritzt wurde, und vor allem von Anita, die ungerecht hinausgeworfen wurde und die er so sehr zurückwünschte. Max notierte sich alles, die Namen und den ungefähren Zeitpunkt der Ereignisse.
Am Montag trug Max seine Uniform und fuhr einen VW Käfer mit Blaulicht und Funkgerät. Ein glatzköpfiger Mann im schwarzen Anzug saß vorne, während Leo gezwungen war, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen – bemerkenswert, bei einem Käfer gab es nur zwei Türen. Es war Leos erste Fahrt und er würde noch viele Male das Vergnügen haben, mit solch einem Käfer zu fahren. Aber das kommt noch alles später.
Die Klosterschwestern waren überrascht, doch nicht Maximilian war der Auslöser ihrer Bestürzung, sondern der Herr in Schwarz, den sie alle zu kennen schienen, denn jede Nonne verneigte sich ehrerbietig vor ihm, sprachen ihn an mit: "Seiner Heiligkeit". Max hingegen beeindruckte mit seiner Statur; er war fast 190 cm groß und wirkte in seiner Lederkleidung als Motorradpolizist. Was genau vor sich ging, wussten sie noch nicht, die Mutter Oberin war nicht zugegen, das Kanzleibüro verschlossen und auch die Stellvertreterin fehlte.
Doch das Kommando führte Seine Heiligkeit, der Speisesaal stand offen, und als Erste trat Klosterschwester Dorothea ein. Sie beging einen Fehler, indem sie versuchte, sich herauszureden und Leo als unbelehrbar, unaufrichtig und hinterhältig zu schildern, der strenger Führung bedarf. Sie leugnete das nasse Tuch am Heizkörperrohr, woraufhin Leo hinausging und ein trockenes Handtuch hereinbrachte. Es war trocken, allerdings hart und in U-Form durch das Heizungsrohr. Max ging zur Tür, und im Vorzimmer versammelten sich fast alle Kinder, neugierige Zuschauer, die spürten, dass Leo wieder etwas vorhatte. Maximilian hätte gerne Rosa oder Franziska als Zeugen befragt, doch sie waren in der Schule.
Dann trat die Schwester Oberin auf, die von Seiner Heiligkeit sogleich suspendiert wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob das der korrekte Ausdruck ist, aber sie wurde jedenfalls ihres Amtes enthoben. Zum Mittagessen gab es dann eine neue Leitung, keine Geistliche, sondern eine ausgebildete Kindergärtnerin.
Die Stellvertreterin der Oberin erhielt die Aufgabe, Anita wieder in das Internatsleben zu integrieren. Sie fuhr auch gegen Mittag mit einem Taxi davon. Etwas später konnte Leo Anita wieder in die Arme schließen, nun intensiver und fester als je zuvor, und beide weinten vor Freude.