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Leo, ein attraktiver Junge, fiel nicht nur durch seine damals noch seltenen Lederhosen und Jacken in verschiedensten Farben auf, sondern auch durch seine selbstgeschneiderten weißen Baumwollhemden. Diese waren ohne Manschetten, Kragen und Knöpfe, die beim Raufen abreißen könnten, und wurden stattdessen durch breite Bänder und Schleifen seitlich gebunden. Er wählte Baumwolle, weil sie ausgekocht werden konnte, um Spuren von Blut und Gummisohlen zu entfernen.
Seine ausgestrahlte Selbstsicherheit, die gerade und aufrechte Haltung, die keine Konflikte scheute und alles ausdiskutierte, machten ihn markant. Sein Verhalten hob ihn deutlich von der Landjugend ab.
Als Junge aus der Großstadt, galt er für viele als Inbegriff des Erfolgs, ein Traum, dort ein Leben zu führen. Als Sohn des Platzwarts war er jedoch unzufrieden damit, jeden Samstag auf dem Fußballplatz Linien mit dem Kalkwagen zu ziehen und die Tornetze zu montieren und wieder abzubauen.
Für die ländliche Bevölkerung drehte sich alles um Fußball. Jeder im Dorf war auf irgendeine Weise im örtlichen Verein engagiert, ob als Sponsor, Spieler oder in einer anderen Funktion. Leo war deshalb bei den Jungs in der Schule sehr beliebt; er besaß den Schlüssel zum Fußballplatz und hatte Zugang zu den Lederbällen. Er wurde behandelt, als wäre er der Sohn eines berühmten Filmstars, obwohl er eigentlich nur der Sohn des Platzwarts war.
Leo wollte jedoch auch nicht auf dem Rasen Fußball spielen; mit dem schweren Lederball konnte er nicht die Fähigkeiten umsetzen, die ihn auf dem Asphalt, in seinem Käfig, so herausragend machten. War Leo nun unglücklich?
Nein, er war zwar nicht zufrieden mit seiner Umgebung, doch fand er bereits beim Entladen der Möbel vom LKW Unterstützung. Große schwarze Augen, wildes lockiges Haar, schlank und mit einem Lächeln, das scheinbar nie verblasste. Schwarze Jeans, weiße Stiefel und ein tragbares Transistorradio. Ihre Freundschaft war so gewiss wie das Amen in der Kirche.
Leo hatte in dem riesigen Haus ein eigenes Zimmer, eine Tür, die er abschließen konnte. Ein großer schwarzer Schreibtisch und ein eisernes Bett waren ausreichend, um ihn mit der Welt auszusöhnen.
Von einem kleinen Zimmer mit Küche und Etagenbetten, das er sich mit seinen zwei Geschwistern teilte, zog er mit seiner Familie in einen riesigen Wohnsitz um. Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht bewusst, welche Verpflichtungen und Arbeit auf ihn zukommen würden. Leo hatte auch keine Chance, sich von seinen Freunden im Park, in der Schule oder im Kinderhort zu verabschieden.
Martinas leuchtende Augen machten den Schmerz, alles hinter sich gelassen zu haben, für den Moment erträglich. Leo, der jetzt mit ihr die vierte Klasse besucht, bemüht sich, ihr näherzukommen. Er, der gerne Zuneigung zeigt und viel zu berichten weiß, schaut auf ein bewegtes Leben zurück. Martina jedoch hat nur Geschichten aus der Schule, von ihrer Elektrogitarre und den Stunden im Elektroladen ihres Stiefvaters zu erzählen.
Früher oder später fragt jede neue Bekanntschaft ihn, ob er eine Freundin hat. Und Leo hat seine Metapher bisher sehr erfolgreich eingesetzt.
In den ersten Lebensjahren lernen Kinder häufig einen Reim, um sich die Namen ihrer Finger zu merken und eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Sicherlich erinnern sich viele – es war immer ein angenehmes Gefühl damit verbunden, nicht wahr?
Das ist der Daumen, der schüttelt, die Pflaumen, hebt sie auf, bringt sie nach Hause, und der kleine Wutzewutzi isst sie alle auf. Anschließend wird gelacht, der kleine Finger gedreht und jeder Finger dabei leicht bewegt oder gedrückt.
Es ist bekannt, dass Leo keine solche Kindheit hatte. Als er dies zum ersten Mal erlebte, war er bereits neun Jahre alt und bekam eine Gänsehaut, die er nie vergessen würde. Ihr Name war Lovana, die Tochter der Milchfrau, bei der er seine Milch kaufte. Sie besuchten zusammen die vierte Klasse der Hauptschule und saßen auch nebeneinander.