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Unter Rekrutierung versteht man im Kontext der (empirischen) Sozialforschung den Prozess des Anwerbens zukünftiger Teilnehmer für eine Aufgabe.
Es war der Freitag, 2. Januar 1970.
Leo, seit 1. Januar 1970, 0:30 Uhr in Polizeigewahrsam und um 10:00 Uhr in die Untersuchungshaft überstellt. Der Grund: eine Massenschlägerei in einem Hochhauscafé in der Silvesternacht, und Leo, der einem Mädchen half, die gegen ihren Willen in einen Aufzug gezogen werden sollte, der Auslöser;
Leo erlitt eine Verletzung an seiner rechten Hand – seiner Schlaghand –, in seinem Mittelhandknochen steckte ein Teil eines Schneidezahns seines Kontrahenten. Der Zahn wurde bereits entfernt und die Wunde behandelt.
17:30 h;
Leo wird aus seiner Zelle geholt und in einen kleinen Raum ohne Fenster gebracht, ein Tisch und zwei Stühle– ein Verhörraum? Der Justizwachebeamte zu Leo:
>>So, jetzt hör gut zu! Eine Dummheit, und du bist drei Tage im Keller! (eine Kellergefängniszelle, nur ein betonierter Sockel zum Liegen, ohne weitere Einrichtung)! Verstanden?<<
Leo nickt, setzt sich, der Verband ist zu eng angelegt, oder vielleicht auch geschwollen? Jedenfalls schmerzt es.
Die Tür öffnet sich, und ein kleiner, dicker Mann in einem dunkelblauen Anzug, unter seiner Achsel ein Bündel Mappen, mit einem Spagat zusammengebunden, in der anderen Hand seine Aktentasche. Er nimmt Platz, mustert Leo genau und;
>> Also, um ehrlich zu sein, bin ich enttäuscht. Hatte mir den "stadtbekannten Schläger", wie er in der Zeitung beschrieben wird, ganz anders vorgestellt. Größer, einem durchdringenden, verschlagenen Blick, einer der einem vom ersten Moment an unsympathisch ist, den man am liebsten sofort eine in die Fresse hauen würde. Stattdessen vor mir ein junger Mann, der mit seinen langen Haaren auch ein Mädchen sein könnte! Eine sinnliche Unterlippe, null Bartwuchs und wenn da jetzt nicht diese Boxernase wäre? Sie sind bereits 19 Jahre? Und Sie sind Leo Fridrich Witsch, geboren am 18.07.1951? << Er machte eine Pause und wandte sich an den Beamten:
>>Sie können gehen, aber schließen Sie bitte die Tür!<<
>>Das ist nicht gestattet!<<
Er griff in die Innentasche seines Sakkos, winkte den Beamten näherzukommen und präsentierte ihm ein Schreiben. Dieser las es, straffte plötzlich seinen Rücken wie auf dem Exerzierplatz und nickte, bevor er sagte:
>>Jawohl, und ja, Sie müssen vorsichtig sein, er ist gefährlich!<<
Die Türe wird geschlossen, der Anzugträger legt seinen Zeigefinger auf den Mund, macht;
>>PSST!<< Holt aus der Aktentasche ein Diktiergerät, auch einen kleinen Casettenrecorder, beides einschaltet und zu hören war klassische Musik. Immer wieder ein beschwörender Blick mit den Zeigefinger auf den Lippen. Leo beobachtet intressiert die Szene, noch weiß er nicht, was das ganze soll? Hat ihm jemand diesen Anwalt geschickt? Wer weiß von seinen Leuten, dass er verhaftet wurde?
Der Mann im Anzug zog sein Sakko aus und obwohl es hier in diesem Raum sehr kühl war, hatte er dunkle Schweißflecken unter den Achseln, lockerte seine Krawatte, entfernte die goldenen Manschettenknöpfe und krempelte die Ärmel hoch. Er lehnte sich zurück, zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche, entfernte die Folie und bastelte sich mit einer Hand geschickt daraus einen Aschenbecher. Nachdem er tief inhaliert hatte, bot er Leo eine Zigarette an.
>>Danke, nein, ich rauche nicht.<<
>>Sehr klug, fang bloß nicht mit dem scheiß an!<<
Leo war etwas irritiert, hatte er doch nie so eine Bemerkung von seinem Gegenüber erwartet. Das nachfolgende Gespräch fand im Dialekt statt, wird hier jedoch für die deutschen Kollegen in Standarddeutsch wiedergegeben.
Zuerst wies er auf Leos Verband hin.
>>haben sie Schmerzen? Möchten sie etwas trinken? In dem Laden werden wir wohl kein Bier bekommen, aber?.<< Leo nickte, er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas getrunken hatte. Der Mann stand auf und bestellte beim Beamten zwei Cola, doch dieser widersprach, er sei kein Laufbursche.
>>Soll ich das genauso dem Oberstleutnant Kern wiedergeben, bezüglich Ihrer unkooperativen Zusammenarbeit?<<
>>Na, bitte, geht doch<< lachte er wie er die Türe wieder Schloss und sich zu Leo setzt.
>>Also, Herr Witsch, es mag Ihnen alles seltsam vorkommen, aber ich werde versuchen, Sie über alles jetzt aufzuklären. Das Tonband dient mir als Absicherung, denn was ich hier jetzt mache ist illegal. Die Musik ist für den Fall, dass dieser Raum verwanzt ist. Ich muss mich absichern. Ich bin hier, weil ein gewisser Maximilian sie für mein Unternehmen "Sonnenfinsternis" empfohlen hat. Er schätzt Sie sehr, sagt, er kennt Sie, seit Sie laufen gelernt haben. Er würde seine Hände für Sie ins Feuer legen, Sie der aufrichtigste, ehrlichste und ein geradliniger Mensch sind, den er je kennengelernt hat. Doch ich möchte mir selbst ein Bild von Ihnen machen, denn das alles, will ich ihm vorab einmal glauben, aber es scheint nicht zu den 18 Anzeigen wegen Körperverletzung und 18 Gerichtsverhandlungen zu passen. Anderseits kann ich aber auch keine Verurteilung feststellen. Bitte helfen Sie mir, das zu verstehen.<<
Er öffnete eine dieser Mappen, da kam der Beamte mit den zwei Cola zurück und sofort:
>>Hier herrscht absolutes Rauchverbot, Sie dürfen ni...<<
>>RAUS! Verdammt noch mal, verschwinden Sie und schließen Sie die Tür von außen!<< Leo wusste nicht, wer da vor ihm saß und sich für ihn interessierte, aber es musste eine hochgestellte Persönlichkeit sein, um so befehlen zu können. Er bewunderte aber auch den Beamten, der sich noch einmal umdrehte, die Hand aufhielt und sagte:
>>Zwölf Schilling<< Er erhielt einen Zwanziger und ein
>>Stimmt so<<. Ohne eine Regung steckte dieser das Geld ein und schloss die Tür, wie befohlen, von außen, warf aber noch einmal einen zornigen, strengen Blick auf Leo.
Zuerst griff sein Gegenüber in sein Sakko und zog eine violette Tablette hervor:
>>Hier, gegen die Schmerzen, es enthält ein wenig Morphium, das wird garantiert helfen!<<
Leo schluckt sie mit Cola, während sein Gegenüber sich erneut eine Zigarette anzündet. Nach einigen tiefen Lungenzügen beginnt er zu sprechen, wobei Rauch aus seinem Mund entweicht, was in dem von Neon beleuchteten Raum deutlich sichtbar ist – eine surreale Situation, denkt Leo.
>>Ich bin Ministerialrat und arbeite somit für die Regierung. Mein Name ist Bodo, was natürlich nicht mein echter Name ist, aber mehr müssen Sie vorerst nicht wissen. Gestern Nachmittag habe ich Ihre polizeilichen Akten erhalten und die ganze Nacht damit verbracht, Ihre Polizeiprotokolle zu lesen; sie sind spannender als ein Kriminalroman. Ich werde Ihnen dazu eine kurze Fragen stellen, Sie in kurzen Sätzen antworten, einverstanden?<<
Leo nickt.