»Wieder eine Lieferung? Oder noch ein privates Stelldichein?« Der Portier der Penthouse-Lobby grinste den jungen Mann süffisant an, als Kenneth durch die gläsernen Automatiktüren trat und sich merklich entspannte, weil es drinnen warm war. Er war durchgefroren nach drei Nächten, die er unter freiem Himmel verbracht hatte, strich sich das etwas unordentliche Haar aus den Augen und erwiderte den dummen Spruch mit einem unfreundlichen Blick. Ken war sich deutlich bewusst, dass er keinen sehr guten Eindruck machte, denn er gehörte dringend in die Badewanne.
»Das soll nicht Ihre Angelegenheit sein. Würden Sie mich anmelden, oder soll ich selbst klingeln gehen?«
Der Rezeptionist, der sich seiner Wichtigkeit nicht berauben lassen wollte, zog den Mund kraus und griff nach dem Telefon.
»Wie ist der Name?«
Kenneth wünschte sich, dass nur einmal in seinem Leben jemand ihn der Höflichkeit halber mit Sir ansprechen würde.
»Graham«, gab er spröde zurück und versuchte, seine Erscheinung unauffällig in der gläsernen Wand zu überprüfen, hinter der der Portier saß, umgeben von Monitoren, die die Flure der beiden Stockwerke über ihnen zeigten. Keine der Kameras zeigte die Penthouse-Etage.
»Mr. Valet? Hier ist ein Mr. Graham für Dionysos. Soll ich ihn raufschicken?« Der Rezeptionist betrachtete Kenneths unauffällige Versuche, sein abgerissenes Erscheinungsbild zu verbessern und schüttelte leicht den Kopf. Es war vergebliche Mühe, denn den Köter würde man aus dem Mann von der Straße nicht herausbekommen.
»Man erwartet Sie«, schnarrte der Portier mit Wichtigtuer-Miene und Ken nickte nur. Es interessierte ihn heute noch genauso wenig, was dieser Kerl dachte, was er, Kenneth, mit dem Unsterblichen zu tun hatte, als an dem ersten Tag, an dem er hier gewesen war.
Im Spiegel des Aufzuges hatte er einen Augenblick Ruhe, um sich genau zu betrachten. Seine Kleidung war staubig und zerknittert von den Nächten auf der Straße. Sein sonst immer sehr helles und sauberes Haar wirkte dunkler, strähnig. Es beschämte ihn, so ungepflegt bei dem attraktiven Vampir aufzutauchen und diesen zu fragen, ob sein Angebot noch bestehen würde. Doch Ken blieb keine Wahl. Entweder der Blutsauger nahm ihn auf und benutzte ihn für was auch immer oder die Leute auf den Straßen der Londoner Unterstadt würden dies bald tun, da er so abgerissen und schmutzig keine anständige Arbeit mehr bekommen und auch Mr. Bernstein ihn so nicht mehr ewig weiterbeschäftigen würde. Für viele in den Gassen ganz unten blieb nur noch der letzte Schritt, der in die Prostitution führte, ob es nun Männer waren oder Frauen, Knaben oder Mädchen. Alle waren bereit, bis zum Letzten zu gehen, solange man sie nur nicht in ein Arbeitshaus steckte, denn diese Orte waren schlimmer als jedes Gefängnis.
Kenneth klopfte sich den Staub von der Hose und versuchte, seine Haare mit den Fingern etwas zu ordnen, als ein leises Klingeln ertönte. Die Türen des Aufzuges öffneten sich und verlegen betrat er die ihm bereits bekannte Halle. Es war still. Anders als beim letzten Mal konnte Ken keine Geräusche aus dem Raum auf der rechten Seite hören, dessen Türen nun offenstanden. Der junge Mann erspähte einen hohen, großen Salon, sehr elegant und stilvoll eingerichtet.
Wie schon beim ersten Mal hatte ihm jemand den Aufzug geschickt und war dann verschwunden, als wäre es nicht üblich in diesem Haus, einen Besucher zu begrüßen. Hatte der Vampir nicht für solche Fälle einen Butler angestellt? Waren Diener nicht dafür da?
Wie bestellt und nicht abgeholt stand Kenneth da. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und kam sich wie ein schmutziger Bittsteller vor, der vor der Tür eines reichen Mannes um ein Stück Brot bettelte.
Nachdem weitere zehn Minuten verstrichen waren, ohne dass sich eine Menschenseele hatte blicken lassen, trieb ihn die Neugier voran. Zaghaft bewegte Ken sich auf die Treppe zu und erklomm diese, glücklich darüber, dass die Gummisohlen seiner Turnschuhe keine Geräusche machten. Er kam sich wie ein Einbrecher vor, doch in der Halle zu warten wie ein Idiot, erschien ihm auch nicht gut. Die Diener schienen sich in Luft aufgelöst zu haben und der Herr des Hauses hatte das Läuten in seinen Räumlichkeiten vielleicht nicht gehört.
Als Kenneth schließlich oben auf der Galerie ankam, war er fasziniert, wie anders die Halle aus dieser Perspektive aussah. Der Flur am oberen Ende der Treppe war mit einem burgunderroten Teppich ausgelegt und die Wände mit eleganten und stimmungsvollen Landschaftsgemälden geschmückt, die bestimmt gemalt worden waren, als es noch keine Fotografien oder Hologrammtechnik gegeben hatte.
Etwas drang in Kens Ohr, das wie Musik klang. Aber anders als diese, die nachts aus den überfüllten und viel zu heißen Nachtclubs wummerte. Die voller elektronischer Effekte war und einem das Herz rasen lassen konnte, wenn man sich zu sehr darauf einließ. Kenneth folgte den Klängen, die er so noch nie zuvor gehört hatte. Vor einer Doppeltür waren sie so laut, dass sie nur aus dem Raum dahinter kommen konnten. Einer der Flügel der Türen war nur angelehnt und scheu, sich der Tatsache bewusst, dass es Unrecht war, was er tat, linste Ken durch den Spalt. Er konnte den Vampir erkennen, der nur mit einer Trainingshose bekleidet zu intensiver Musik, die unterschwellig auch Aggression ausstrahlte, auf einen Sandsack eindrosch. Schweiß glänzte auf dem Hals und der fein behaarten Brust des Mannes und sein dunkles Haar fiel ihm feucht in die Stirn und die Augen. Fasziniert darüber, wie menschlich dieser Unsterbliche wirkte, beobachtete Ken ihn noch eine Weile. Es schien fast so, als würde der Vampir verzweifelt gegen etwas anzukämpfen versuchen, als würde die Gewalt, die er auf das Leder übertrug, eigentlich in seinem Inneren toben und sich einen Weg nach draußen bahnen wollen.
Mit einem erschöpften Schnaufen hielt Dionysos nach einigen Minuten inne und fing den Sack auf, der gegen seine Brust prallte. Schwer hob und senkte sich sein Oberkörper und ließ die Muskeln in seinem Rücken tanzen.
»Es ist unhöflich, andere Leute heimlich zu beobachten, Mr. Graham«, sagte er mit einem leisen Knurren. Er drehte sich zur Tür um, die von einem ertappt und sehr verlegen aussehenden Kenneth etwas weiter aufgeschoben wurde.
»Entschuldigen Sie vielmals, Sir«, stammelte er, »der Pförtner hatte mich angekündigt, aber in der Halle war niemand ...«
Dionysos griff nach einem Handtuch und rieb sich beiläufig über Hals und Nacken. »Ich hatte das Läuten des Fahrstuhles gehört und mich offenbar wieder fälschlicherweise darauf verlassen, dass sich darum gekümmert wird.« Der Vampir schnaubte und warf sich auf ein elegantes, antik aussehendes Sofa. »Nun? Was führt dich zu mir?«, verfiel er wieder in den vertrauteren Ton, den die Reichen gegenüber denen einzunehmen pflegten, die für sie arbeiteten. Ob ihnen bewusst war, dass dies von fehlenden Manieren und Unhöflichkeit zeugte?
Der Blick, den der Vampir Kenneth zuwarf, hatte etwas Schalkhaftes, als würde darunter ein verborgenes Lachen liegen, das sich nur in den fast unmerklich gespitzten Lippen und den neckisch nach oben gezogenen Mundwinkeln zeigte. Der junge Mann knetete verlegen an dem Gurt seines Rucksacks herum und schien innerlich Anlauf zu nehmen, bevor er etwas sagen konnte.
»Über das Angebot können wir gern noch mal verhandeln«, half Dionysos ihm schmunzelnd nach. »Doch mich würde interessieren, was dich dazu gebracht hat, deine konsequente Ablehnung zu überdenken?«
Zur Überraschung des Vampirs und noch mehr zum Schrecken von Kenneth selbst brach dieser plötzlich in Tränen aus, schlug die Hände vor die Augen und sackte auf die Knie. Dionysos, den dieser unerwartete Gefühlsausbruch verwirrte und auch etwas überforderte, erhob sich, griff dem jungen Mann unter die Arme und zog ihn hoch.
»Komm, Junge, setz’ dich. Ich mach dir einen Drink. Jetzt, wo ich dich genauer anschaue, sehe ich auch, dass du wohl ein paar scheiß Tage hinter dir hast ...«
Zutiefst beschämt, mit feuerroten Ohren vor Verlegenheit, aber unfähig, sich zu beruhigen, sackte Ken auf dem Sofa in die Kissen. Er war sich bewusst, dass er in dem eleganten Salon eines Dekadenzlings saß, auf einem Möbelstück, das andere Reiche vermutlich wegwerfen würden, nachdem er darauf gesessen hatte. Und dass er heulte wie ein Kind.
Den Vampir jedoch schien das alles nicht zu stören. Er stand mit dem Rücken zu ihm an einer Bar und goss aus einer kostbaren Karaffe eine goldene Flüssigkeit in ein ebenso edles Glas. Mit einem Blick, der eine gewisse Anteilnahme, aber noch mehr Verwirrung ausdrückte, gab er dieses anschließend in Kenneths zitternde Hände, bevor er sich ein leichtes Hemd über den nackten Oberkörper zog und ihm gegenüber in einem Sessel Platz nahm.
»Nun?«
»Ich ... ich bin bereit, alles zu tun, was Sie mir auftragen, nur lassen Sie mich hier arbeiten, Sir ...«, presste Ken durch seine Finger hervor.
»So so, alles, sagst du?«
Der junge Mann schluckte und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel seiner Jacke über die Augen. »Ich beweise es Ihnen.« Er stellte das Glas ab und ließ sich von dem Sofa auf seine Knie sinken, zögerlich, aber entschlossen zu tun, was nötig sein würde, und schickte sich an, mit den Händen über die Oberschenkel des Vampirs zu streichen, als dieser wie gestochen zurückzuckte und nach den Fingern des Kuriers griff. Beiläufig fielen Ken dabei die zwei goldenen Ringe an dessen rechter Hand auf.
»Ich bin nicht so einer, okay? Ich halte mir keine Hausangestellten, damit sie das für mich tun, also setz’ dich wieder. So was ist nicht nötig. Erzähl’ mir lieber, woher diese Verzweiflung kommt. Noch vor drei Tagen warst du so stolz, sagen zu können, dass du meine gut bezahlte Stelle nicht willst und heute bist du bereit, mir einen runterzuholen, damit ich dich anstelle. Was ist passiert?«
Kenneth starrte mit geröteten Augen auf den schimmernden goldenen Drink vor sich auf dem Tischchen, der aromatisch duftete. Wieder stieg ihm das Wasser in die Augen und Tränen rollten ihm über die Wangen. Er versuchte gar nicht erst, sie zu verbergen, der Vampir hatte sicher eh schon einen fürchterlichen Eindruck von ihm.
»Ich ... kann nirgendwo anders mehr hin ...«, murmelte Ken leise und mit belegter Stimme. »Es gab ... ein Feuer. Ich hab nichts mehr ... nur noch das, was ich am Leib trage.« Kenneth hob den Kopf und seine silbernen Augen suchten die dunklen des Vampirs. »Ich schwöre es, Sir, ich bin fleißig, lernfähig und ich ... tue, was nötig ist.«
Dionysos lächelte leicht und lehnte sich im Sessel zurück. »Du bietest mir schon wieder deine Dienste an, merkst du das? Hat das einen bestimmten Grund? Meinst du, alle die, die es sich leisten können, so zu leben, sind Schweine?«
Kenneth presste die Lippen zusammen, zuckte mit den Schultern und rieb sich über die Wange.
»Hast du jemanden verloren? In dem Feuer?« Die Stimme des Vampirs war weicher geworden, das spöttische daraus verschwunden.
»Meine Mutter«, sagte der junge Mann leise und hörte sein Gegenüber ein unbestimmtes Geräusch machen. Als Ken den Blick hob, konnte er sehen, dass Dionysos die Stirn gekräuselt hatte, die Augen dunkel und auf einen Punkt gerichtet, der weit in der Vergangenheit liegen musste. Was dieser Mann wohl in seinem Leben bereits alles gesehen hatte? Es gab sicher viele Dinge, die schlechte Erinnerungen in ihm hochbrachten.
»Nun denn, Mr. Graham ...«, räusperte sich der Unsterbliche nach einigen Minuten des Schweigens schließlich, »sobald du dein Glas geleert hast, endet dieser gemütliche Plausch hier. Denn dann werde ich dir zeigen, wo du schlafen kannst und dir sagen, was du künftig zu tun haben wirst.«
»Danke, Sir«, entgegnete Ken mit einem erleichterten Lächeln, das wieder etwas Farbe in sein blasses Gesicht zurückbrachte.
»Bedank’ dich noch nicht. Für mich zu arbeiten ist kein Sonntagsspaziergang«, knurrte der Vampir und Kenneth hob aus Reflex das Glas an die Lippen und nahm einen Schluck. Der Scotch brannte wie Feuer in der Kehle des jungen Mannes, der noch nie zuvor in seinem Leben Alkohol getrunken hatte. Ken verschluckte sich, ließ das Glas fallen und begann, krampfhaft zu husten.
»Na na ...« Dionysos klopfte ihm leicht auf den Rücken, während Kenneth an dem scharfen Brennen in seinem Hals zu ersticken drohte.
»Ver-Verzeihung ... ich ... hab es ver-schüttet«, röchelte der junge Mann und rang krampfhaft nach Luft.
»Ich hätte wissen müssen, dass ein Scotch vielleicht etwas zu mächtig für dich ist. War mein Fehler.«
Gerötet und mit Tränen in den Augen wegen des Hustens atmete der nun frisch als Diener eingestellte Kenneth schließlich durch.
»Wollen wir dann? Es ist spät genug und ich würde allmählich gern ins Bett gehen«, brummte Dionysos und der junge Mann nickte. Er erhob sich und schwankte augenblicklich, was den Vampir für eine Sekunde schadenfroh grinsen ließ.
»Oh«, machte Ken und fasste sich an den Kopf.
»Eindeutig zu mächtig.«
»Was ist denn jetzt los?«, murmelte der Diener und schüttelte sich leicht, um das schummrige Gefühl aus seinem Gehirn zu vertreiben.
»Das wird so nicht funktionieren. Du bist betrunken, das dauert etwas. Unfassbar, es war nur ein Schluck.« Dionysos lachte vor sich hin und bewegte sich zur Tür, zu der Kenneth ihm langsamen Schrittes folgte.
»Vergeht das wieder, Sir?«
»Natürlich. Wie lange hast du schon nichts Gescheites mehr gegessen?«
»Seit dem Tag des Feuers ... vormittags ... und dazwischen hatte ich ein trockenes Brötchen und ein kleines Stück Käse.«
»Was ja kaum etwas Vernünftiges ist. Also hast du seit fast vier Tagen keine richtige Mahlzeit mehr gehabt«, der Vampir tippte sich leicht ans Kinn und gluckste dann, »ich bin heute wohltätig aufgelegt. Ich päppel’ dich etwas auf. Ich kann mit einem schmutzigen und halb verhungerten Schwächling nichts anfangen ...«
»Aber Sie werfen mich nicht wieder raus, oder?«
Dionysos wandte den Kopf zu dem Burschen um, der, sich am Handlauf der Galerie festhaltend, hinter ihm herwankte. Die Verzweiflung in seiner Stimme hatte etwas Anrührendes und die Tatsache, dass auch er ein junger Mensch war, der mit einem Schlag allein auf der Welt dastand, berührte etwas in dem Vampir. Dieser Kenneth Graham erinnerte ihn sehr an ihn.
»Weißt du, Ken - kann ich Ken sagen oder ist dir Kenneth lieber?«
»Nennen Sie mich, wie Sie wollen.«
»Okay, wenn das so ist, nenne ich dich Graham. Dieser Name hat mir schon immer gut gefallen.«
»Ganz wie Sie wünschen, Sir.«
»Also gut - ich wäre schön dumm, jemanden, der so verzweifelt um eine Arbeit bittet, vor die Tür zu setzen, meinst du nicht? Denn so einer wird sich ins Zeug legen, um diese Stellung nicht zu verlieren. Anders als meine anderen Angestellten, die, wie du siehst, nicht aufzufinden sind und, bis auf Valet, nur für mich arbeiten, weil ich Fangzähne habe. Das ist ermüdend. Du hingegen wirst fleißig sein und alles tun, um mich nicht zu enttäuschen, habe ich Recht? Denn ich habe etwas, das du willst.«
»Ja, Sir.«
»Dann sind wir uns ja einig. Also, Graham ... willkommen in Belgravia.«