Frisch gewaschen und endlich mit dem Gefühl, den Gestank von Feuer und Tod abgespült zu haben, stand Kenneth schließlich in ein Handtuch gewickelt am Fenster seiner kleinen Kammer, von der er noch immer nicht glauben konnte, dass es seine sein sollte. Er hatte das Bett mit der weichen, weiß-rot karierten Bettwäsche bezogen, die Dionysos ihm gegeben hatte und die duftete, als hätte man sie in Blumen getaucht. Noch nie hatte er in etwas geschlafen, das nach Weichspüler gerochen hatte. Seine Mutter hatte die Wäsche mit der Hand gewaschen, in der Badewanne, nur mit Gallseife. Eine Maschine, von so etwas hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt. Sie hätten sie sich auch nicht leisten können. Auch das Handtuch, das Kenneths Körper verhüllte, duftete. Ebenso die Kleidung, die er an der Kante der Kommode aufgehängt hatte, damit das Hemd am nächsten Morgen keine Falten hatte.
Sein Leben hatte eine Wendung genommen, die der junge Mann bislang noch nicht einschätzen konnte. Es kam ihm alles unwirklich vor, als würde sich etwas anbahnen, was ihn mit einem Schlag in die kalte Realität der Londoner Unterstadt zurückholte. Etwas, das all das hier als einen vagen Traum zurücklassen würde. Es konnte nicht echt sein, Kenneth musste sich irgendwo den Kopf angeschlagen haben. Jemand wie er, ein Köter von ganz unten, bekam nicht einfach so eine Chance, die Gelegenheit auf ein Leben so fern von dem Dreck der Straßen, wenn er es auch als Diener führen musste.
Dionysos hatte Recht, er, Kenneth, war stolz gewesen, als er das erste Angebot für die Stelle abgelehnt hatte. Er hatte nicht viel gehabt, aber seine Mum, sie hatten ein Zuhause und ihr Auskommen hatte für alles gereicht, was nötig gewesen war. Ihr Leben bestand aus redlicher und ehrlicher Arbeit und sie waren unabhängig. Es war hart gewesen, umso mehr nach dem Tod des Vaters, doch es war ihr Leben. Er hätte es nicht eingetauscht, für nichts.
Das war nun Geschichte. Kenneth hatte sein Heim verloren und den letzten Menschen, der ihn je aufrichtig geliebt hatte. Seine komplette Grundlage war ihm genommen worden. Mit welchem Recht stand ihm jetzt noch falscher Stolz zu? Der hätte nur dazu geführt, dass er auf den Straßen verhungert wäre oder er seinen Hintern für schmutzigere Typen als diesen Vampir hätte hinhalten müssen.
Kenneth hatte nichts mehr, was begründete, dass er die Stelle nicht antreten konnte und war froh, dass Dionysos das Angebot nicht zurückgezogen hatte. Flickerman und der Paketdienst, bei denen Ken angestellt war, hatten ihm schließlich durch die Blume gesagt, dass sie keine Verwendung mehr für ihn hatten. Und jetzt, da er das Arbeitsverhältnis mit dem Vampir eingegangen war, würde es wahrscheinlich auch bei Bernstein vorbei sein. Der hätte ihn über kurz oder lang eh rausgeschmissen, egal wie gut er von Kenneth denken mochte.
Unglücke zogen Unglücke an, so dachten die Leute und das Pech, das Kenneth gehabt hatte, klebte nun wie ein Stigma an ihm.
Unter keinen Umständen wollte Ken in den Straßen wie ein Hund verrecken. Doch diese neue Wendung seines Lebens erschien ihm wie ein Traum. Er fürchtete sich davor, ins Bett zu gehen. Fürchtete sich davor, am Morgen in einer stillen, kalten und schmutzigen Gasse in Londons Unterstadt aufzuwachen ...
Erschöpft nahm Kenneth auf der Bettkante Platz und legte das Handtuch über den Stuhl. Der Raum war wohltemperiert und angenehm warm.
Hätte seine Mutter es gut gefunden, dass er nun hier war? Einem Reichen den 'Hintern nachtragen würde', wie sie es immer genannt hatte? Angesichts der guten Verdienstaussichten hätte sie es wohl akzeptiert. Kenneth bedauerte, dass er ihr all diese Sachen nicht mehr erzählen konnte und er spürte, wie ein bitterer Geschmack auf seiner Zunge klebte. Er gärte in seinem Magen, der Hass auf Pollack, diesem verrückten Stück Rattendreck, dem er die Pest und tausend Teufel an den Hals wünschte, dass ihm der Schwanz abfaulen möge und dergleichen weitere scheußliche Dinge. Ken verabscheute Pollack auch dafür, dass er ihn mit diesem Gefühl belastet hatte. Noch nie in seinem Leben hatte er so empfunden und das nagte an ihm. Hass wog schwerer als alles andere.
Kenneth ließ sich in das weiche Kissen sinken und löschte das Licht auf dem Nachttisch. Eine feine Gänsehaut kroch über seinen Körper, als er die kühle Bettdecke über sich zog. Das Gefühl des Stoffes auf seiner nackten Haut fühlte sich verrucht an, doch auch sinnlich und sehr angenehm. Kenneth hatte noch niemals unbekleidet geschlafen und diese Erfahrung war etwas sehr Aufregendes für ihn. Bevor er Gewissensbisse bekommen konnte, weil er in einem fremden Bett keine Kleidung trug, war er eingeschlafen.
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Es war nach zehn, als der junge Mann aus dem Schlaf schreckte, die Stirn voller Schweiß, zitternd und sich panisch umsehend. Ein paar Sekunden vergingen, bis sich seine noch getrübten Augen klärten und er erkennen konnte, wo er sich befand.
Keine dreckige Gasse irgendwo hinter einem Müllcontainer, sondern ein sauberes Bett in einem gepflegten und angenehm warmen Zimmer, das von der blassen Sonne, die mühsam durch Londons Smog zu dringen vermochte, erhellt wurde.
Erleichtert aufstöhnend ließ sich Kenneth wieder in das Kissen sinken, bis ihm siedend heiß einfiel, dass er nicht zum Vergnügen in diesem Zimmer schlief, sondern hier angestellt war und eigentlich Arbeit zu verrichten hatte.
Er sprang aus dem Bett, legte die Decke zum Lüften über das hölzerne Fußteil und warf sich schnell die Kleider über, die sein Boss ihm gegeben hatte. Wieder kam es ihm verrucht vor, dass er unter den Hosen nichts weiter trug, doch es würde so gehen müssen. Ohne Socken zog er die Turnschuhe an, die er in der vergangenen Nacht nach seinem Bad noch geschrubbt hatte. Um die abgestandene Luft aus dem Zimmer zu treiben, öffnete er das Fenster einen kleinen Spalt und öffnete dann scheu die Tür seiner Kammer. Im Flur konnte Kenneth Stimmen hören, weibliche, nicht allzu weit von ihm entfernt. Bei seinem ersten Schritt hinaus stieß er mit dem Fuß gegen einen Korb. Daneben stand ein mittelgroßer Karton.
Verwundert trug Ken die beiden Dinge in sein Zimmer, stellte sie auf den Tisch und sah zuerst die in dem Korb enthaltenden Sachen durch. Es waren unter anderem einige Zahnbürsten, Zahnpasta, ein Kamm, Seife, ein Deodorant sowie mehrere zu kleinen Bündeln gerollte Sockenpaare, Unterhemden und -hosen. Ganz unten befand sich ein Paar Schuhe, das exakt seine Größe hatte.
Die Sachen waren brandneu, die Toilettenartikel noch verpackt und die Kleidungsstücke noch von niemandem getragen. Sie rochen unbenutzt und die Preisschilder waren noch dran. Der junge Mann fuhr mit den Fingern darüber und stellte fest, dass es gute Materialien waren, nicht der einfache Leinenstoff, der in der Unterstadt üblich war. Kenneth fand in dem Korb das Etikett eines Kaufhauses, von dem er wusste, dass es auf der mittleren Ebene des Nachbarturms lag. Einige Male hatte Ken dort schon Pakete abgeliefert und obwohl es kein Luxuskaufhaus war, wäre das meiste dort nicht für ihn erschwinglich gewesen.
Fast fürchtete Kenneth sich davor, in den Karton zu schauen, denn er hatte den Verdacht, dass der Vampir seine Ankündigung wahr gemacht und ihm komplett neue Kleidung gekauft hatte. Oder wahrscheinlich hatte kaufen lassen, denn Kenneth vermutete stark, dass Dionysos nicht selbst zum Bummeln in ein Kaufhaus gehen würde. Die Reichen hatten dafür ihre Diener.
Und in der Tat befanden sich in der Kiste einige bescheidene, aber ebenfalls brandneue Kleidungsstücke, einige T-Shirts und Jeans, zwei Kapuzenjacken, ein Pullover, eine Wind- und eine Winterjacke. Sogar ein Schal und ein Paar Handschuhe lagen dabei, Sachen, die Kenneth noch niemals zuvor besessen hatte.
Mit einem Kloß in der Kehle betrachtete der junge Mann diese Dinge und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Ihm war klar, dass es nicht geschenkt war und er würde sicher mindestens zwei Monate ohne Lohn arbeiten müssen, um es zu vergelten, doch es fühlte sich an wie ein Geschenk. Rasch verstaute Kenneth die Sachen wieder ordentlich in der Kiste, da er nicht noch mehr Zeit mit seinem Privatkram vertrödeln wollte. Dionysos hatte zwar gesagt, er solle sich ausschlafen und erst einmal ankommen, doch Ken wollte diese Worte nicht zu sehr ausreizen. Außerdem konnte er sich vorstellen, was seine neuen Kollegen von ihm halten mochten, wenn er sich bereits an seinem ersten Tag solche Freiheiten herausnahm und mit diesen Menschen musste er immerhin zusammenarbeiten.
Nach einer schnellen Morgentoilette trat er durch die Tür des Dienstbotenganges in die weitläufige Halle des Penthouses. Die Hausmädchen, die gerade damit beschäftigt waren, den Boden zu wischen, schnatterten und achteten gar nicht auf den platinblonden Mann, der hinter ihnen stand, unschlüssig, was er tun sollte.
»Stell’ dir vor, da schickt er Valet gleich frühs um halb acht rüber in den Hampstead Tower und lässt für den Neuen Klamotten kaufen. Offenbar hat er sich da ein hübsches neues Spielzeug zugelegt ...« Das dunkelhaarige der beiden Mädchen war dabei, das Geländer der Treppe zu polieren. Der Ton in ihrer Stimme sollte wohl spöttisch klingen, aber es machte mehr den Eindruck, dass sie neidisch war.
»Richtig ... und schau doch, während wir hier buckeln, liegt der Neue noch im Bett und schläft seelenruhig. Ich kann mir vorstellen, wie er sich diese Sonderbehandlung verdient hat.«
Die beiden Mädchen kicherten und Kenneth, der einen Schritt in den Flur zurückgegangen war, weil er nicht gesehen werden wollte, errötete heftig. Dachten sie echt, er hätte sich hochgeschlafen?
»Och, der ist schon ein schöner Mann, dieser Dionysos. Ich würde auch so einiges mit mir anstellen lassen, ganz ohne Sonderbehandlung«, erwiderte die Blonde lachend, doch das Kichern blieb den Mädchen im Halse stecken, als der, von dem eben noch gesprochen worden war, am oberen Treppenabsatz auftauchte.
»Dafür habt ihr entschieden das falsche Geschlecht, Ladies. Und ich bezahle euch nicht fürs Lästern. Graham!«
Kenneth zuckte zusammen und trat scheu in die Halle, noch immer betreten dreinblickend, weil Dionysos ihn beim Lauschen ertappt hatte.
»J-Ja, Sir?«
Die Mädchen, die ihre Verlegenheit wegen der freizügigen Äußerungen schnell überwunden hatten, wandten sich zu dem Neuankömmling um und der junge Mann hatte das Gefühl, dass Röntgenblicke ihn durchleuchteten. Jeder Zentimeter seines Körpers fühlte sich abgetastet an. Ein wohlwollendes Schmunzeln breitete sich auf dem Gesicht des Dienstmädchens aus, das zuvor noch gemeint hatte, sie würde nur zu gern für den Unsterblichen die Gespielin geben. Offenbar war sie dem männlichen Geschlecht generell nicht allzu abgeneigt, solange das Exemplar nur attraktiv genug war.
»Du kommst hoch. Und ihr, Ladies, behaltet eure schmutzigen Fantasien für euch oder redet in eurer Freizeit darüber. Ihr lasst sehr zu wünschen übrig, was eure Höflichkeit angeht. Nachher werdet ihr euch ordnungsgemäß vorstellen und ich erwarte, dass das Verhalten unter euch professionell bleibt. Solche Mutmaßungen wie vorhin verbitte ich mir. Kam das verständlich bei euch an?«
Die Dienstmädchen neigten das Haupt und nickten. »Ja, Sir.«
Kenneth, beschämt darüber, dass die Frauen seinetwegen einen Rüffel bekommen hatten und sich sicher, dass sie ihn dies spüren lassen würden, eilte an ihnen vorbei die Stufen hoch, wo der Vampir auf ihn wartete. Dionysos machte einen düsteren Eindruck, die Brauen wirkten grimmiger als noch gestern Abend. Doch das konnte auch daran liegen, dass er an diesem Morgen wieder ordentlich gekleidet und frisiert war, während er am Tag zuvor nur verschwitzte und legere Sportkleidung getragen hatte. Er wirkte seriöser, ernster.
»Komm, sprechen wir über deine künftigen Aufgabenbereiche«, knurrte der Unsterbliche dem platinblonden Mann entgegen, warf noch einen finsteren Blick auf die Dienstmädchen und wandte sich seinem Salon zu, Kenneth in gebührendem Abstand hinter ihm.
»Schließ' die Tür.« Wieder war es mehr geknurrt als gesprochen. Ob es den Vampir erzürnt hatte, dass Ken erst um diese Zeit aufgestanden war?
»Sir, ich bitte um Verzeihung, dass es so spät geworden ist, ich werde morgen ...«, fing der junge Mann zu reden an, doch stoppte, als Dionysos die Hand hob.
»Das ist egal. Du siehst deutlich besser aus als gestern Abend. Vorzeigbar. Und alles andere interessiert mich nicht.«
»Vorzeigbar, Sir?«
Dionysos nickte. »Eben wie es sich für jemanden gehört, der in den Diensten eines reichen Mannes steht. Was soll ich da mit einem Straßenköter?«
Kenneth presste die Lippen zusammen und nickte nur. Ja, er war nicht mehr als das. Nicht einmal die feinen Kleidungsstücke konnten darüber hinwegtäuschen. So war es immer gewesen und so würde es bleiben.
»Verzeih’ den Ausdruck, der war nicht persönlich gemeint«, drang die Stimme des Vampirs in Kens Ohr und er hob verwundert den Kopf. Dionysos lächelte, doch es war schwer zu sagen, ob es freundlich sein sollte oder verschlagen. Etwas an seinem Gesicht ließ es immer mehrdeutig aussehen.
»Hast du deine Kleidung bereits ausgepackt?«
»Ich ... ich habe sie angesehen, doch ich wollte keine weitere Zeit verlieren, deswegen ist sie noch in der Kiste. Das wäre nicht nötig gewesen, Sir.«
»Deine Bescheidenheit in allen Ehren, Graham, doch die Zeiten, in denen es okay war, dass man nur ein einziges Hemd besitzt und das über Monate nicht wechselt, sind lange vorbei. Du arbeitest für mich und ich habe einen Ruf zu verlieren. Ich kann es mir nicht leisten, meine Angestellten schlampig herumrennen zu lassen. In dem Gang hinter der Küche findest du einen Waschraum, da kannst du deine Kleidung in die Waschmaschine werfen und aufhängen.«
»Ich darf ... die Maschine benutzen?« Kenneth machte große Augen, was Dionysos erst verwundert schauen und schließlich lachen ließ.
»Köstlich. Es war die richtige Entscheidung, dich herzuholen«, amüsierte sich der Vampir. Er nahm auf dem Sofa Platz, auf dem Ken am Abend zuvor gesessen und geweint hatte. »Natürlich darfst du. Wie willst du deine Garderobe sonst in Ordnung halten? Und sag mir nicht, du würdest sie mit der Hand waschen. Das ist hier nicht nötig. Die Geräte sind da, also werden sie auch benutzt. Mit meinem Kram bekomme ich in zwei Wochen keine Maschine voll, also ...«
Der junge Mann nickte und versuchte, sich einfach nicht mehr überraschen zu lassen. Dionysos tickte anders als die meisten Dekadenzlinge, die er kannte, daran würde er sich gewöhnen müssen.
»Danke, Sir.«
»Nachdem wir das geklärt haben, machen wir all das, was wir gestern besprochen haben, offiziell. Setz’ dich, bitte.« Der Vampir deutete dem Diener an, sich auf den Sessel ihm gegenüber niederzulassen. Vor ihm auf dem Tisch lag ein dünner Blätterstapel und ein Stift.
Zögerlich nahm Kenneth Platz und der Vampir schob die Papiere zu ihm herüber.
»Ich gehe davon aus, dass du lesen und schreiben kannst ...«
»Ja, Sir. Neun Jahre Schulbildung, Sir.«
»Das ist mehr, als ich in meiner Jugend hatte, also sollte es reichen.« Dionysos schmunzelte und lehnte sich in das Polster zurück. »Bitte, lies es dir gründlich durch, ich hetze dich nicht. Frag’ mich, wenn etwas unklar ist.«
Mit einem Nicken griff Ken nach dem Vertrag.