Stunden schienen vergangen zu sein, bis die Feuerwehrleute endlich die letzten Flammen ausgeschlagen und gelöscht hatten. Die Menschen, die diese Häuser, so schäbig sie auch gewesen sein mochten, ihr Zuhause genannt hatten, hatten die ganze Zeit ohnmächtig dabei gestanden, hilflos dazu verdammt, mitansehen zu müssen, wie das kümmerliche Bisschen, das sie besessen hatten, dem gierigen Feuer zum Opfer fiel. Sie - und so auch Kenneth - standen mit einem Schlag auf der Straße, mit nichts mehr als den Kleidern am Leib und dem, was sie in den Taschen hatten.
Mit einer Kälte in sich, die er seit dem Tag, an dem sein Vater gestorben war, nicht mehr verspürt hatte, beobachtete der junge Mann die Feuerwehrleute dabei, wie sie die Haustür des Gebäudes, das einstmals das Zuhause der Grahams gewesen war, mit einer Axt aufschlagen mussten. Das massive englische Eichenholz war durch die Flammen so hart geworden, dass man es nicht eintreten konnte. Offenbar hatte sich auch der Rahmen verzogen.
Unruhiges, ungläubiges und erschöpftes Murmeln waberte um Kenneth herum, als würde er mit dem Kopf unter Wasser in einem Bach treiben.
»Hey, hier liegt etwas«, hörte er einen der Feuerwehrmänner rufen und dann trugen sie etwas ins Freie, das verdächtig nach den Überresten eines Hundes aussah. Unwillkürlich suchten die grauen Augen des jungen Mannes nach Cornelius Pollack, dem verrückten Nachbarn, der als einziger ein Tier besessen hatte. Er konnte den feisten alten Kerl einige Meter von sich entfernt auf etwas sitzen sehen, das wie ein Sack aussah. Ken spürte Wut in sich aufwallen, denn es war typisch für diesen Drecksack, seinen fetten Arsch zu retten, aber sein hilfloses Tier in den Flammen verbrennen zu lassen. So ein Verhalten passte zu ihm, er scherte sich nur um sich selbst! Als Kenneth die Unruhe nicht mehr aushalten konnte, eilte er selbst auf das Gebäude zu und betrat durch die verkohlte Tür das Innere.
»He, Junge, du kannst hier nicht rein, das ist viel zu gefährlich.« Einer der Männer hielt ihn am Arm fest, doch Ken riss sich los.
»Ich wohne hier, gleich da oben. Mit meiner Mutter. Sie ist nicht draußen. Ich muss wissen, ob sie noch im Haus war, als ...« Er konnte nicht weiter reden und der Feuerwehrmann, der seinen Helm abgenommen hatte, nickte nur.
»Warte hier. Es ist besser, wenn du da jetzt nicht hochgehst. Das kann ganz schön hart werden, die Zerstörung zu sehen.«
Ken fügte sich widerwillig, doch der Mann hatte Recht. Er fürchtete sich davor, was er oben vorfinden könnte. Nicht nur die Vernichtung seines Zuhauses und all der Erinnerungen an seinen Vater, seiner wenigen persönlichen Schätze und der Dose mit dem hart verdienten Geld, sondern er hatte schreckliche Angst, dass seine Mutter noch in der Wohnung war.
So blieb der junge Mann unten am Fuße der Treppe stehen, mit einem eiskalten Gefühl in seinem ganzen Körper und unfähig, klar über den nächsten Schritt nachzudenken, nachdem er alles verloren hatte. Währenddessen erklomm der Feuerwehrmann vorsichtig die Stiege und trat die schäbige, aber total schwarz gekohlte Türe auf. Von ihr war nur noch die Hälfte übrig, den Rest hatten die Flammen aufgezehrt.
Der zweite Helfer folgte seinem Kollegen eine Minute später und Kenneth konnte trotz der Dunkelheit erkennen, dass die beiden Männer einander ansahen. Der, der in die Wohnung der Grahams gegangen war, schüttelte mit bedrücktem Gesicht den Kopf und warf einen vielsagenden Blick in Kens Richtung.
Dessen Beine gaben nach und er sackte an der rußigen, noch immer spürbar warmen Wand nach unten, als ihm die Tränen kamen.
»Wahrscheinlich der Rauch«, hörte er den einen der beiden Männer leise sprechen, »Sie hat die Flammen nicht gespürt, ganz sicher.«
»Armer Junge. Die Wohnung unten ist am schlimmsten verbrannt. Da hat es angefangen, keine Frage. In der Mitte des Wohnzimmers hat jemand Bücher und so aufgebaut, die sind alle verbrannt. Wie ein Scheiterhaufen. Unheimlich ... Und ich hab noch etwas anderes entdeckt, als wir die Haustür offen hatten. Der Rahmen ist nicht verzogen. Es war abgeschlossen. Von außen, da ist ein Schlüssel mit dem Holz verschmolzen. Also selbst wenn die Frau es runter geschafft hätte, wäre sie nicht hinausgekommen.«
»Meine Fresse ...«
Kenneth, der trotz seines schmerzvollen Zusammenbruches mitbekam, was die Feuerwehrmänner weiter besprachen, hob den Kopf. Es war abgeschlossen gewesen? Der Tod seiner Mutter war billigend in Kauf genommen worden? In diesem Eingang wohnten nur die Grahams und Pollack. Nur dieser war so verrückt und dumm, zu glauben, mit einem Türschlüssel ein Feuer davon abzuhalten, sich auszubreiten. Oder erst einmal eins in seiner Wohnung anzuzünden.
Ken erhob sich und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, verschmierte es aber gleichzeitig etwas mit Ruß. Doch das kümmerte ihn nicht. Wutentbrannt stürmte er aus dem total zerstörten Hauseingang und stürzte sich draußen vor all den Nachbarn und Schaulustigen auf den alten Pollack, der noch immer auf seinem Bündel saß und lächelte wie ein Kind, das eine tolle Show zu Gesicht bekommen hatte.
»Du elender dreckiger Sack voll Scheiße!« Der erste Schlag von Kenneths Faust traf den Mann, noch bevor der überhaupt mitbekommen hatte, dass er mit der unflätigen Beleidigung gemeint gewesen war. Ein Aufschrei ging durch die Leute, als Pollack nach hinten kippte und auf dem kalten Asphalt zum Sitzen kam. Er schaute zu dem jungen Mann mit den hellen Haaren hoch, als hätte er eine Erscheinung, und rieb sich dann etwas dümmlich das Gesicht.
»Was machst du denn, Kenny?«, fragte eine der älteren Nachbarinnen, die diesen schon gekannt hatte, als er noch nicht laufen konnte, bestürzt über dessen Wut.
»Frag’ ihn doch! Los, du Arschgeburt, sag ihnen, was du gemacht hast. Was haben dir deine Stimmen jetzt gesagt, hm? Haben sie dir gesagt, dass es Spaß machen würde, ein Haus anzuzünden? Du bist es doch gewesen, die Feuerwehrleute haben den Papierstapel in deiner Drecksbude gefunden! Sag schon! Wir sind ganz Ohr!«
Und tatsächlich lagen aller Augen auf dem Mann, der noch immer am Boden kauerte und nun nicht mehr so vergnügt aussah, eher wie ein Wahnsinniger, dem es nicht gefiel, dass man seine lustige Fantasie kaputt gemacht hatte.
»Das Böse war da drin ... aber jetzt ist es weg«, murmelte er brabbelnd und fing sich in der nächsten Sekunde einen weiteren Schlag von Kenneth, bevor einige der Umstehenden diesen festhielten, ehe er etwas tun konnte, was er hinterher vielleicht bereuen würde.
»Etwas Böses«, spuckte er den Mann an. »Das einzig Böse hier bist du, du verkommener Drecksack. Du hättest verrecken sollen, so elendig, wie du deinen schmutzigen Köter hast verbrennen lassen. Meine Mutter ist tot, verstehst du mich, Pollack?! Geht das in deinen dummen Affenschädel rein? Du hast uns allen, uns allen hier, etwas weggenommen! Du gehörst in den Dreck getreten, wo du hingehörst. Zu all der Scheiße und den Maden, die noch mehr wert sind als du!«
Kenneth riss sich von den Händen los, die ihn hielten, spuckte dem Verursacher all des Leids noch einmal ins Gesicht und stürmte dann davon. Einfach nur weg, weil er allein sein wollte, um zu schreien, zu toben oder einen Augenblick zusammenzubrechen und zu weinen.
In einem kurzen Moment hatte Ken nicht nur den Rest seiner Familie verloren, sondern auch alles, was er besaß. Den einzigen Menschen auf der Welt, der ihn geliebt hatte, seinen wenigen Besitz und das Geld für einen ganzen Monat. Bernsteins Lohn für die Lieferung am Nachmittag hatte nur ein paar Pfund betragen, damit würde er nicht mehr als einen Tag überleben. Kenneth wusste nicht, wo er schlafen sollte, hatte Hunger, war todunglücklich, erschöpft und zornig. Alles tat ihm weh. Er wünschte, er hätte den Schneid, auf eine der höchsten Brücken zu steigen und zu springen. Doch seine Eltern hatten ihn so nicht erzogen und es würde ihr Ansehen beschmutzen, diesen Weg zu gehen, egal wie hart der Kampf auch sein mochte.
Heulend hockte Ken sich auf einen Tritt hinter zwei rostigen Abfallcontainern. Es war nicht einmal mehr genug Geld da, um eine Kiste zu kaufen, in der Kenneths Mutter auf dem Armenfriedhof beigesetzt werden konnte. Sie würden ihre Überreste einfach so mit vergraben. Es war alles hinüber, weil Pollack so eine Verschwendung von Platz und Atemluft war. Dieser dreckige Hurenbock hatte sie auf dem Gewissen, sie, die immer wieder gesagt hatte, dass es Unrecht sei, jemand anderem den Tod zu wünschen. Doch hätte Kenneth die Wahl, er würde diesen feisten Scheißhaufen mit Freuden eigenhändig in die Hölle stoßen, wenn er dafür seine Mutter zurückbekommen würde.
Das Elend in Londons Unterstadt war für einige ihrer Bewohner gerade noch viel schlimmer geworden.
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Drei Tage waren seit dem Brand am Eaton Tower vergangen und es hatte sich über diesen und den Umkreis von zwei weiteren Türmen herumgesprochen. Die bessergestellten Menschen bestürzte ein solcher Vorfall natürlich nicht weniger als diejenigen, die direkt dabei waren, doch sie hielten sich nicht allzu lange mit ihrer Trauer und Anteilnahme auf. Wer hätte es ihnen verübeln sollen, dies nicht zu tun. Immerhin waren sie nicht direkt betroffen und ihr eigenes Leben forderte seine eigenen Herausforderungen. Die Brandruinen waren wegen der Einsturzgefahr bereits abgerissen worden, nachdem man die Toten - in einem anderen Gebäude hatte man einen alten Mann gefunden, den das Feuer offenbar eingeschlossen hatte - fortgeschafft hatte. Die Bewohner konnten davor noch ein letztes Mal in ihre Wohnungen, um nach eventuell verschont gebliebenen Wertsachen zu suchen. Kenneth hatte das Herz geblutet, als er die schäbige Wohnung, die seine Mutter über zwanzig Jahre lang liebevoll sauber gehalten hatte, das letzte Mal betrat. Die Hitze war so stark gewesen, dass der alte Fernseher zu einem glänzenden schwarzen Ball zusammengeschrumpft war und die Möbel hatten groteske Formen angenommen. Die wenigen Familienfotos, die Nähsachen seiner Mutter, Kens Bücher, die er sich mühsam zusammengesammelt hatte - alles pudrige und federleichte Asche. Die geheime Keksdose war in der Hitze förmlich verglüht. Ken hatte unter dem völlig verkohlten Bodenbrett einen leuchtenden Fleck aus Zinnblech gefunden, flach und spiegelglatt wie ein metallener See. So viel zu dem sauer verdienten Geld, dass er in dieser Situation mehr denn je gebraucht hätte, um seiner Mutter wenigstens einen einfachen Holzsarg kaufen zu können. Ernüchtert und zu erschöpft, um noch zu weinen, hatte der junge Mann das Heim seiner Kindheit verlassen. Auf der Straße erfuhr er, dass der alte Pollack, den man für psychisch krank befunden hatte, in ein Arbeitshaus geschafft worden war. Kenneth hoffte, dass dieser Ort für den Mann die Hölle werden würde und er darin langsam und elendig wie ein Stück Vieh verrecken möge.
Doch nun wusste der junge Mann nicht, wie es weitergehen sollte. Für die letzten zwei Nächte hatte er einen relativ ruhigen und geschützten Unterschlupf gefunden, doch das Leben als Straßenstreuner war nichts für ihn. Er hatte schließlich Arbeit, brauchte einen Ort, wo er sich waschen konnte, Essen und wenigstens ein einfaches Bett.
Bislang hatte er sich geweigert, auf die leise Stimme zu hören, die ihn daran erinnerte, dass ihm ein faszinierender Unsterblicher ein ziemlich gutes Jobangebot gemacht hatte, weil sein, Kenneths, Stolz ihm im Wege stand. Er hatte diesem Vampir gesagt, er würde die Arbeit nicht annehmen können, weil er kein Diener war. Doch er war auch kein Fensterputzer gewesen und auch keine Bürokraft - und dennoch hatte er in diesen Berufen gearbeitet, weil er klug war. Bereit, Dinge zu lernen. Was also hielt ihn ab? War es die Furcht, dass dieser Mann, dieser Dionysos, ihn in Wahrheit nur anstellen wollte, um ihn zu seinem Lustknaben zu machen? Oder zum Blutspender?
Ken nahm auf einer Treppenstufe Platz und rieb sich den Bauch. Sein Magen knurrte laut und dem jungen Mann war speiübel. Er hatte seit über einem Tag nichts mehr gegessen und auch nichts verdient, weil Bernstein keine Aufträge für ihn gehabt hatte. Was bedeutete, er hatte auch kein Geld mehr, um sich etwas Brot zu kaufen. Flickerman, der Gemischtwarenhändler, bei dem Kenneth als Ladengehilfe angestellt war, hatte ihm rundheraus gesagt, dass er nicht zur Arbeit kommen brauchte, solange er so abgerissen und unordentlich aussah. Er solle ein Bad nehmen und dann würden sie weitersehen. Dass Ken keinen Ort mehr hatte, an dem er dies hätte tun können, kümmerte den Händler nicht. Auch der Paketdienst, bei dem er dreimal die Woche Zustellungen machte, hatte ähnlich auf Kens derzeitige Situation reagiert und ihn beurlaubt - natürlich ohne Bezahlung. Der Einzige, der zu ihm stand, nach wie vor, war der Weinhändler Bernstein, der ihm am Tag nach der Katastrophe etwas Geld und ein paar Lebensmittel zugesteckt hatte. Da der Mann allerdings jeden Penny, den er hatte, in seinen Laden steckte und selbst eher bescheiden lebte, war das auch schon alles an Hilfe, was der junge Kurier erwarten konnte. Und doch war es mehr gewesen als das, womit er gerechnet hatte.
Wieder knurrte der Magen laut und Kenneth musste sich eingestehen, dass er keine Wahl hatte, als das Angebot des Vampirs anzunehmen, wenn er nicht auf den Straßen verhungern wollte.
Und wenn dies bedeutete, diesem Dekadenzling den Allerwertesten nachzutragen, Unterwäsche oder Teller zu waschen, ihm den Rücken oder die Füße zu massieren oder den Hals zum Biss anzubieten, dann war es eben so. Alles war besser als den nahenden Winter auf den Straßen der Londoner Unterstadt zu verbringen, hungrig, frierend und jeden Moment in der Furcht, von jemandem totgeschlagen oder vergewaltigt zu werden. Und wenn er schon seinen Körper würde verkaufen müssen, wollte er es in eleganter Bettwäsche tun, denn man gönnte sich ja schließlich sonst nichts, richtig?
Erschöpft und entkräftet bewegte sich der junge Mann von Aufzug zu Aufzug. Kenneth hatte nicht die nötige Energie, um wie üblich die Stufen der Treppen hinaufzuspringen, und bis zum Belgravia Tower war es ein weiter Weg, wenn man nicht den Transportzug nehmen konnte. Wenn er vor Einbruch der Dunkelheit dort sein wollte, würde Ken sich jedoch sputen müssen. Er wollte unter keinen Umständen, dass der Vampir ihn als unhöflich ansah, weil er so spät am Abend dort auftauchte. Oder war es das gar nicht? Waren Blutsauger nicht eher nachtaktiv?
Nun, wenn Dionysos sein Angebot tatsächlich noch nicht zurückgezogen hatte und er die Stelle in dessen Haushalt bekommen konnte, würde er sicher sehr bald herausfinden, wie die Gewohnheiten eines echten Vampirs so waren.