»Pass auf dich auf da draußen, Kenny. Das Wetter ist trüb und der Wind soll oben in den Türmen ganz schön gehen.«
Die spindeldürre Frau umarmte ihren Sohn und musterte ihn wie immer besorgt und voller Angst, er könnte in den dunklen Straßen von Londons Unterstadt irgendwo unter die Räder kommen. Die Sorgen, die ihr Leben bestimmt hatten, der Hunger und der Kampf hatten tiefe Furchen in dem Gesicht hinterlassen, obwohl seine Besitzerin noch keine fünfzig Jahre alt war. Die blühende Jugend und das Versprechen der Schönheit waren etwas für die Reichen, die weiter oben in der Stadt lebten als sie und ihr Sohn es taten und jemals tun würden. Für die, die ihr Geld investierten in dieses Wundermittel, das die Hochglanzmagazine Vampirserum nannten. Die Essenz der Jugend und Vitalität, eingefangen und gefiltert in einer kleinen Spritze, die das Leben verlängerte und die Zeichen des Alterns fernhielt.
Die Frau stand diesen Dingen, die sie nur aus den Zeitschriftenauslagen der Kioske kannte, skeptisch gegenüber und sie waren ihr auch egal. Sie hatte nie ein anderes Leben als das gekannt, das sie lebte und sie hatte sich bereits vor langer Zeit verboten, von etwas anderem zu träumen. So etwas machte nur schwermütig und lenkte vom Wesentlichen ab - Essen auf den Tisch zu bekommen und genug Geld zu verdienen, um die Miete zusammenzukratzen.
»Das tue ich doch immer, Mum. Ich habe nur noch eine Lieferung für heute und dann komm ich heim. Allerdings ist es ein ziemliches Stück und Bernstein kürzt mir den Lohn, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe, deswegen mach ich mich jetzt auf die Socken. Bis später.«
Der junge Mann, Kenneth Graham, warf sich seine Tasche über und zog die einfache Tür, die zu der schäbigen Wohnung in dem noch schäbigeren Haus gehörte, in dem er mit seiner Mutter lebte, hinter sich zu. Er ignorierte den heruntergekommenen Eindruck des Flurs, der tapeziert gehörte, wie immer und verließ das Gebäude, denn er musste sich sputen.
Draußen auf der Straße war es finster. Viele der Lampen, die eigentlich für Licht sorgen sollten, waren von gelangweilten Straßenkindern schon vor Jahren zerschossen worden und die Verwaltung kümmerte es einen Dreck, ob die Menschen, die am Boden, eben in der Unterstadt, lebten, nachts etwas sehen konnten oder nicht.
Der junge Mann hob den Kopf und konnte die stählernen Straßen weit über ihm nur schemenhaft durch den Dunst erkennen. Als er husten musste, nahm er dies als Strafe dafür, dass er getrödelt hatte und rannte eilig durch die schummrigen Gassen - vorbei an heruntergekommenen Geschäften, die sich nur halten konnten, weil sie billig waren und die einfachen Arbeiter, die hier lebten, dort einkauften. Lange vernagelte Fenster und Türen schirmten Räumlichkeiten ab, in denen es manchmal quietschte, weil die Gebäude voller Ratten waren. Er lief vorbei an dampfenden Gullideckeln und grölenden Menschen, die sich ihren hart verdienten Feierabend mit einigen Freunden und einem billigen Bier versüßten.
Ohne jedoch sehr auf das vertraute Umfeld zu achten, eilte Kenneth zum nächsten Aufgang, der ihn in die Höhe, weiter nach oben auf das verschlungene Straßennetz aus Stahl, bringen sollte. So wenig wie er auf die Leute achtete, die ihn umgaben, so sehr fiel er wiederum diesen auf, denn sein helles Haar - seine Mutter nannte es sternenfarben - war selbst in der zwielichtigen Finsternis der Unterstadt zu erkennen, als würde es leuchten.
Erhitzt kam er genau sieben Treppen und dreihundert Stufen später bei seinem Arbeitgeber, Bernstein Finest Goods, einem Wein- und Spezialitätenhändler, an und rang einen Augenblick nach Atem. Er hustete und rieb sich den Hals. Die schlechte Luft und der feuchte Dunst, der selbst fünfzig Meter über den Straßen Londons noch zu spüren war, setzten ihm heute mehr zu als sonst. Aus Erfahrung wusste er, dass es besser werden würde, je weiter er nach oben käme. Der Nebel würde sich lichten und das Atmen wieder Spaß machen. Hier unten war es einfach eine Tortur.
»Mr. Bernstein?« Er betrat den kleinen Laden im Eaton Tower durch den Lieferanteneingang und sah sich nach dem beleibten Besitzer um, der den schwarzen Humor sein Eigen nannte, für den die Engländer einstmals angeblich in der ganzen Welt berühmt gewesen sein sollten.
»Mr. Grisham, Sie kommen spät.«
»Graham, Sir«, erwiderte der junge Mann bereits aus Gewohnheit, denn der Weinhändler konnte sich selbst nach zwei Jahren, die Kenneth nun für diesen arbeitete, seinen Nachnamen nicht merken. Doch bereits des Öfteren war ihm der Gedanke gekommen, Mr. Bernstein könnte dieses Spielchen mit Absicht treiben - als eine Art persönliches Ding zwischen ihnen beiden, um Ken aufzuziehen. Oder ihm zu zeigen, dass er ihn insgeheim ganz gern hatte.
»Ja ja ... kommen Sie, die Lieferung muss zum Belgravia Tower und dieser Blutsauger zahlt keinen Penny, wenn wir uns nicht beeilen. Es sind zwar nur vier Flaschen, aber er braucht sie wohl für seinen hochexklusiven Hokuspokus. Diese Reichen ...«
Der junge Mann wurde hellhörig, als er dem beleibten Händler ins Lager folgte. »Ein Vampir, Sir? Ein echter?« Normalerweise schaffte Ken für Mr. Bernstein eher kleinere Güter zu älteren Damen, die es liebten, ihren Portwein zu einem guten Buch zu trinken.
»Na, ich denke. Diese sonderbaren Figuren, die dem Tod von der Schippe zu springen versuchen, indem sie sich fremdes Blut spritzen lassen, kann man ja nicht so nennen, oder? Nein, nein ... das ist eine todschicke Adresse, für die wir beide wohl mindestens drei Leben lang schuften müssten, um auch nur einen Raum bezahlen zu können. Und selbst wenn nicht, Mr. Graham«, den Namen betonte er sehr deutlich, »er wird nicht zahlen, wenn wir nicht pünktlich sind. Also ...«
Kenneth nahm die Tasche vom Rücken und öffnete den Reißverschluss. Der Händler hatte die Flaschen eines sehr teuren und schweren Weins sorgfältig in Luftpolsterfolie und Kork verpackt, bevor er diese in eine kleine Kiste gelegt hatte und nun in Kens Rucksack schob. Bernstein drückte dem jungen Mann den Lieferschein in die Hand.
»Beeilen Sie sich. Adresse steht auf dem Schein. Wenn der Kunde die Ware nicht abnimmt, bekommen Sie diese Tour nicht bezahlt, verstanden?«
Der Kurier nickte und nahm von Mr. Bernstein die Karte entgegen, die es ihm erlaubte, die Transportzüge zu benutzen und machte sich auf die Socken.
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Die Nacht war inzwischen über den Türmen hereingebrochen, als Kenneth einige hundert Meter über den Straßen Londons aus dem Zug stieg und sich umsah. Die stählernen Brücken und Gehwege waren voll, es herrschte Gelächter, er konnte von irgendwoher Musik hören, die dumpf dröhnte und aus einem der Tanzlokale kommen musste, von denen er noch niemals eines als Gast betreten hatte. Für solche Vergnügungen fehlten ihm sowohl das Geld als auch die Zeit.
Er atmete tief durch und spürte, wie sich seine Lungen von dem klebrigen Dunst der unteren Straßen befreiten. Das Luftholen fiel wieder leichter. Kenneth blickte sich um, um sich besser zu orientieren und fand schnell den Turm, der sein Ziel war.
Der Belgravia Tower war einer der höchsten der zwölf Türme, die die Innenstadt von London bildeten. Er enthielt unter anderem das berühmte Kaufhaus Harrods, für das die englische Hauptstadt im letzten Jahrhundert bekannt gewesen war. Das ursprüngliche Einkaufsparadies war im Krieg von Bomben zerstört worden und dann in der Themse untergegangen. So hatte es Kenneth zumindest in der Schule gelernt.
Mit einem Blick auf die Uhr bahnte er sich seinen Weg durch die flanierenden Menschen, die es sich leisten konnten, an einem Freitagabend irgendwo essen zu gehen, ins Kino oder zum Tanzen.
Kenneth bedauerte es nicht, dass er, obwohl er erst fünfundzwanzig Jahre alt war, nicht zu diesen jungen Leuten gehörte. Dies war deren Leben und es war Zeitverschwendung, sich selbst für das zu bemitleiden, was ihm zugedacht worden war. Seine Familie war schon immer arm gewesen und seine Eltern hatten stets hart für ihr Auskommen arbeiten müssen. Doch sie hatten ihm ermöglicht, die Schule zu besuchen und den regulären Abschluss zu erzielen und ihm die Werte vermittelt, die wirklich wichtig waren, mehr zählten als Geld, Prestige, Schönheit und Schein. Seine Eltern hatten für ihn gesorgt, so wie er es jetzt für seine Mutter tat, nachdem sein Vater vor zehn Jahren an einer entzündeten Wunde gestorben war. Da blieb keine Zeit, sich fruchtlosen Vergnügungen hinzugeben. All diese Dinge, die auf Werbeplakaten angepriesen wurden - Kinofilme, Reisen, Partys, Alkohol, Liebe - waren Dinge, für die ihm sein ganzes Leben lang die Zeit und sehr oft auch das Geld gefehlt hatte. Es war müßig, das zu bedauern und deswegen tat Kenneth es nicht. Er wollte nichts für sich selbst, doch es freute ihn, wenn ein paar Pennys übrig blieben, um seiner Mutter nach der Arbeit Blumen mitzubringen.
Eilig, zwei Stufen auf einmal nehmend, erklomm er die Treppen, die zur Straße führten, auf der der Eingang zur Lobby der obersten Stockwerke des Belgravia Towers lag. Kenneth atmete tief durch, denn er war inzwischen fast am Ende seiner Kräfte und die Muskeln in seinen Beinen brannten wie Feuer. Er ließ den Blick über das hohe Geländer wandern und schluckte, denn die Aussicht, die man von den hohen Ebenen hatte, verschlug ihm auch nach zehn Jahren, die er bereits als Kurier arbeitete, noch immer den Atem.
Unwirsch den Kopf über diese Träumerei schüttelnd, betrat er das Foyer und wandte sich an den Portier, der blasiert hinter seiner Scheibe saß und in einem Lifestyle-Magazin blätterte.
»Ja, bitte?«, schnarrte er durch das Loch in der schusssicheren Glaswand.
»Ich habe eine Lieferung für ...«, Kenneth zog den Schein aus der Jackentasche und las nach, »Dionysos ...«
»Der Aufzug ganz rechts. Der ist für Lieferanten und Dienstboten.«
Der Kurier erlaubte sich, für einen Moment die Augenbraue hochzuziehen und bedankte sich dann. Dieser affektierte Kerl war auch nicht mehr als ein einfacher Angestellter, schien sich aber offensichtlich für sehr viel wichtiger zu halten als jemanden, der »nur« Dinge zustellte. Mit einem Grinsen kam Kenneth der Gedanke, was der Portier wohl sagen würde, wenn der Pizzabote ihm einmal nicht das heiß ersehnte Abendessen brachte. Dann waren Lieferanten nämlich wieder unheimlich wichtig.
Den Rezeptionisten aus seinem Kopf verdrängend, eilte er zügigen Schrittes auf den angegebenen Aufzug zu und blickte auf die Uhr. Es war gleich Zehn und es wurde knapp. Kenneth verfluchte sich, dass er nicht schneller durch die Menschenmassen auf der Straße gelaufen war, denn nun drohte es so zu enden, dass er die Tour vom Eaton Tower zum Belgravia ganz umsonst gemacht hatte und dafür keinen Penny sehen würde.
Energisch drückte er auf den Knopf und trippelte ungeduldig mit dem Fuß, als der Fahrstuhl sich gemächlich die drei Stockwerke vom Penthouse in die Lobby bemühte. Kenneth schnaufte ungehalten, als dieser mit einem leisen Läuten öffnete, sprang hinein und setzte ihn in Bewegung.
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Grollend stieß der Vampir die junge Frau von sich, von der er soeben noch getrunken hatte und wischte sich den Mund ab. Sie blieb ermattet auf dem breiten Sofa neben ihm liegen, leise seufzend und wohlige Geräusche machend, wie eine Katze, der man Sahne gegeben oder eine Dame, die die Wonnen der Lust erfahren hatte.
»Willst du noch mehr? Du kannst von mir auch noch etwas haben.« Ein zweites Mädchen, unter all seinem Make-up vielleicht maximal achtzehn Jahre alt, drängte sich leicht an Dionysos und drückte, betont unauffällig, seinen Busen in dem tief ausgeschnittenen Oberteil nach oben, um ihn üppiger erscheinen zu lassen. Der Unsterbliche ließ diese Reize unbeachtet und strich mit dem Finger über die zarte, bläuliche Ader am Hals der jungen Frau. Dieser war schlank, wohlgeraten und verströmte einen leichten Duft nach Jasmin.
Der ganze Salon war angefüllt von berauschender Musik, die zu fast spirituellen Tänzen einlud, es duftete süß und schwer, nach Schweiß, Parfum, Blut, Lust und Absinth. Das Licht war gedimmt worden und die Gäste ergaben sich dem Rausch, war es Alkohol, Tanz oder Sex. Es kümmerte keinen und niemand achtete wirklich auf das, was die anderen taten. Jeder war mit sich oder demjenigen beschäftigt, den er oder sie gerade hatte.
Dionysos hatte es sich etwas abseits, halb hinter einem Farn, auf einem breiten Samtsofa bequem gemacht und nicht lange warten müssen, bis die Groupies gekommen waren und sich ihm angeboten hatten. Da er nicht der einzige hungrige Blutsauger im Raum war, hatten sich die spendewilligen, vornehmlich weiblichen Vampirfans gut auf alle anwesenden Unsterblichen verteilt, sodass sich jeder satt trinken konnte. Er bedauerte, dass sich keine männlichen Spender für ihn gefunden hatten, da ihm dieses Blut und natürlich die Körperlichkeit mehr zugesagt hätte. Doch die wenigen Herren, die sich für das Spenden eingefunden hatten, hatten sich zu einer aufreizenden Vampirin gesellt, die wie ein schlechtes, aber teuer nachgemachtes Marilyn Monroe-Double aussah.
Dionysos hatte dennoch keinen Grund zu klagen, denn das Blut, das ihm gegeben wurde, war rein und erfrischend. Er kratzte die zarte Haut des Mädchens leicht und es unterdrückte ein leises Aufstöhnen, was es erröten ließ und seinen Duft verstärkte.
Es lehnte sich näher an ihn, damit er besser an seinen Hals herankommen konnte und er neigte den Kopf zu der jungen Frau, sog ihren Geruch tief ein, roch ihre Unschuld, was seinen Puls beschleunigte. Dionysos war sanft zu ihr, küsste ihre Haut und hörte sie wieder aufstöhnen, bevor er seine Fänge in der weichen Stelle über ihrer Schlagader versenkte. In einen Rausch verfallend, warf das Mädchen den Kopf etwas in den Nacken, legte ihm seine Arme um den Hals und vergrub seine Finger im Haar des Vampirs, während er gierig den Lebenssaft in sich aufnahm.
Wärme breitete sich erneut in seiner Brust aus und auch ihm entfuhr ein wohliger Laut, der jedoch jäh unterbrochen wurde, als er die Hände der anderen jungen Frau, von der er zuvor hatte kosten dürfen, an einer Stelle seines Körpers spüren konnte, wo er niemandes Finger haben wollte.
Angestachelt durch die Lust, die das Bluttrinken der bereitwilligen Spenderin bereitet hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass es noch etwas geben könnte, um dem faszinierenden Vampir etwas Gutes zu tun. Und warum hätte sie auch annehmen sollen, dass es unwillkommen sei, immerhin war der Salon durchdrungen von den Geräuschen der Lust, die sich die Gäste untereinander bereiteten. Doch sie war kaum dazu gekommen, den Gürtel seiner eleganten Anzughose zu öffnen, als sie sich in einem Würgegriff wiederfand, durchbohrt von glühend roten Augen.
»Nimm’ deine Hände von mir, Miststück«, fauchte Dionysos dunkel und wischte sich das Blut von seinem Kinn. Er schob das andere Mädchen, das noch benommen war von ihrer vorangegangenen Vereinigung, leicht von sich, damit es sich hinlegen konnte und schubste die Frau, die ihn intim hatte berühren wollen, grob auf den Teppich vor dem Sofa.
»Ich habe dir gegeben, was ich bereit war, dir an Lust zu bereiten. Doch niemand benutzt mich darüber hinaus als Sexspielzeug!«, grollte er dumpf und erhob sich.
Der Unsterbliche realisierte am Rande, dass einige der Gäste, die nicht durch Alkohol oder Rauschmittel total hinüber waren, diesen Zwist beobachteten, doch es kümmerte ihn nicht. Und sie auch nicht, denn sie hatten ihr eigenes Vergnügen, das wichtiger war.
»Ich ... ich bitte um Verzeihung. Ich wollte nur ... ich dachte, ich könnte dir etwas Gutes tun ...«, stammelte die junge Frau, deren Make-up durch den zarten Schweißfilm auf ihrer Haut verwischt war. Sie duckte sich unter den noch immer roten Augen des Vampirs, der seine Kleidung in Ordnung brachte und für sie nur ein trockenes Schnauben übrig hatte.
»Dafür hast du entschieden das falsche Geschlecht. Ich muss hier raus ...« Mit diesen Worten verließ er den abgedunkelten und völlig überhitzten Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloss.