Da Liana nicht wusste, ob eines der benachbarten Zimmer bewohnt war, schlich sie auf Zehenspitzen den langen Korridor entlang. Ebenso leise huschte sie, die sich über zwei Ebenen erstreckende Treppe hinunter.
Im Erdgeschoss angekommen, versuchte sie sich zu orientieren. Nach wenigen Augenblicken entdeckte sie die Tür des Kaminzimmers, die unverschlossen war. Sogar ihre Handtasche befand sich noch an Ort und Stelle.
Unschlüssig, ob ihrer weiteren Vorgehensweise, hielt sie für einen Moment inne und überlegte.
Ehe sie jedoch eine Entscheidung fällen konnte, näherte sich Ally.
„Guten Morgen, meine Liebe!“, sagte diese freundlich. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“
„Wie ein Murmeltier. Allerdings kann ich mich partout nicht daran erinnern, ein Bett aufgesucht zu haben.“
„Das war auch nicht der Fall, Kindchen. Nachdem Sie vom Schlaf übermannt wurden, hat Sie der Herr in eines der Gästezimmer gebracht. Sie haben dermaßen fest geschlafen, dass Sie nicht einmal mitbekommen haben, wie er Sie hinaufgetragen hat. Er wollte nicht, dass Ihnen alles weh tut, nur, weil Sie eine Nacht in diesem Ungetüm von Sessel zubringen mussten.“
„Oh. Wie fürsorglich“, entgegnete Liana überrascht. „Glauben Sie, ich werde ihn während meines Aufenthaltes zu Gesicht bekommen?“
„Sicher doch. Er ist am Abend meist zuhause. Ich werde Ihnen später das Cottage zeigen, so dass Sie sich in aller Ruhe einrichten können. Jetzt kommen Sie aber erst einmal mit in die Küche, wo ich das Frühstück vorbereitet habe.“
Wie aufs Stichwort fing Lianas Magen zu knurren an und zwar derart laut, dass selbst Ally es hörte. Die lachte daraufhin. „Es ist offensichtlich höchste Zeit.“
Nach dieser Äußerung errötete Liana.
„Entschuldigen Sie bitte, ich habe seit beinahe vierundzwanzig Stunden nichts mehr zu mir genommen.“
„Das ist alles kein Problem. Nun setzen Sie sich endlich oder wollen Sie im Stehen frühstücken?“
Mit diesen Worten dirigierte die Haushälterin Liana an einen Tisch am Fenster und drückte sie auf den Stuhl nieder.
„Ich hoffe, Sie mögen schottisches Frühstück.“
„Ich denke schon. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich beinahe alles essen“, gab Liana zur Antwort, während sie sich den Stuhl zurechtrückte.
Schneller als sie sich versehen konnte, hatte sie einen großen Teller vor der Nase, der mit verschiedenen Speisen beladen war. Neben Rührei, Würstchen, Bohnen sowie gedünsteten Tomaten gab es noch zwei teigähnliche Stücke, die wie Pfannkuchen im Kleinformat aussahen, sowie eine graubraune Masse, deren Zusammensetzung sie nicht zu definieren vermochte.
Da das Ganze absolut appetitlich aussah, griff Liana nach Messer und Gabel.
Ally, die zwischenzeitlich eine Kanne Tee, heißes Wasser und mehrere Scheiben Toast auf den Tisch gestellt hatte, wandte sich noch einmal kurz ab, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Dann setzte sie sich zu Liana.
„Schmeckt es Ihnen?“
„Es ist überaus köstlich“, lobte Liana. „Verraten Sie mir, was Sie aufgetischt haben? Wie heißen diese Mini-Pfannkuchen? Und um welches Gericht handelt es sich bei dieser gut gewürzten Mischung?“
„Die vermeintlichen Pfannkuchen sind Potato Scones. Das andere ist ein schottisches Spezialgericht namens Haggis.“
„Ich habe bereits davon gehört. Es schmeckt überaus lecker. Bei uns in Kanada findet man warmes Essen meist nur auf dem Mittags- oder Abendtisch. Zum Frühstück gibt es manchmal Pancakes mit Ahornsirup. Das Essen in Schottland ist für mich also eine komplett neue Erfahrung.“
„Freut mich zu hören, dass es Ihnen mundet. Nicht wenige, verschmähen unser gutes Essen.“
„Man sollte immer bereit sein, sich auf Neues einzulassen“, erwiderte Liana und kaute weiter genüsslich vor sich hin.
Eine halbe Stunde sowie mehrere Tassen Tee später, beendete sie das Mahl. Anschließend ließ sie sich von Ally, mit der sie sich inzwischen auf das Du geeinigt hatte, das Cottage zeigen, bei dem es sich um ein eingeschossiges Haus ohne Unterkellerung handelte. Es war aus Natursteinen errichtet, sein Dach mit Granitschindeln beschichtet.
Im Inneren gab es drei Räume: Einen Ess-Wohnbereich, ein Schlafzimmer, zudem ein kleines Bad.
Im Wohnbereich stand ein großer Kommodenschrank aus dunklem Holz, darauf eine Tischleuchte in der gleichen Farbe. An der Wand hingen zwei Bilder mit Landschaftsmotiven. Neben der Kommode befand sich ein Stuhl – ebenfalls aus Holz.
Blickfang des Zimmers waren jedoch definitiv das riesige, rote Sofa an der gegenüberliegenden Wand sowie der Kronleuchter an der Decke in der Mitte des Raumes. Sowohl auf dem Stuhl als auch auf der Couch lagen Kissen. Der komplette Raum vermittelte den Eindruck uriger Gemütlichkeit.
Das Schlafzimmer war mit einem Mahagonibett ausgestattet, an dessen rechter und linker Seite sich zwei Tischchen befanden. Die beiden darauf stehenden Lampen mit den goldfarbenen, verschnörkelten Füßen wurden von rotgoldenen Schirmen abgeschlossen, die aussahen, als würden sie einer längst vergessenen Epoche entstammen.
In einem kleinen Alkoven standen ein Tisch und zwei ebenso altertümlich wirkende Stühle. Liana erkor diesen sogleich als ihren Lieblingsplatz aus, da man vor hier einen phantastischen Ausblick auf das umliegende Land hatte.
Nach einem kurzen Blick ins Bad, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Hier würde sie sich gewiss wohlfühlen.
Den restlichen Vormittag verbrachte Liana damit, sich im Cottage einzurichten. Im Anschluss daran entschied sie sich zu einem Rundgang über das Anwesen. Dabei führte sie der Weg zu einem Pavillon auf der Südseite des Areals. Angesichts des guten Wetters beschloss sie, hier eine Zeit lang zu verweilen. Sie setzte sich auf eine der Bänke, nahm Bleistift und Papier aus ihrer Tasche und begann zu zeichnen.
Malen war ein Hobby, dem sie leider nur äußert selten nachgehen konnte, fehlte ihr dazu einfach die Zeit. Wenn sie Stift oder Pinsel benutzte, vergaß sie die Welt um sich herum. So war es auch heute. Dementsprechend überrascht blickte sie auf, als sie bemerkte, dass sich allmählich die Dämmerung herabzusenken begann. Sieben Uhr. Nun musste sie sich sputen, wurde sie doch zum Dinner erwartet. Eilends packte sie ihre Sachen zusammen und lief zum Cottage zurück, nicht wissend, dass sie bereits seit geraumer Zeit beobachtet wurde…
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