Die Nächte lehren viel, was die Tage niemals wissen.
(Sprichwort)
❤*❤*❤
„Nun denn“, sagte Ewan, als er zwei Stunden später zum Abendessen Platz nahm.
„Wie war dein Ausflug in den Wald?“, erkundigte er sich bei Liana und richtete seinen Blick auf die andere Seite des Tisches.
„Ich bin dem geheimnisvollen, weißen Hengst begegnet“, antwortete sie in ruhigem Ton, ohne von der Tasse aufzublicken, in der sie gerade herumrührte.
„Tatsächlich?“
„Und dann kam ein unbekannter Mann daher und hat ihr den Schuh weggenommen“, führte Robert weiter aus, wobei er Ewan ansah und diesem zuzwinkerte.
„Was erzählst du da, Robert? Er hat sich meines Schuhes nicht bemächtigt, sondern diesen abgestreift. Er hat lediglich ein Stück meiner Jeans zum Verbinden genommen.“
„Ach ja?“, merkte Ewan amüsiert an.
Liana schaute ihn entrüstet an - eindeutig verstimmt über seine Reaktion.
Ewan wandte sich an Bruder und Cousin.
„Könnte mir jemand die Geschichte freundlicherweise von Anfang an erzählen?“
„Ich habe ein weißes Pferd im Wald gesehen“, begann Liana, während sie gleichzeitig eine Scheibe Brot mit Margarine bestrich. „Ich folgte diesem, bis es irgendwann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Dann hat mich im Wald ein Wildschwein angegriffen. Kurz darauf erschien praktisch aus dem Nichts ein Mann und tötete das Biest. Er hat mir das Leben gerettet, und das unter Gefahr für sein eigenes. Er hat ein Stück meiner Jeans entfernt, sich seine Wunde verbunden und ist verschwunden. Vielleicht war er ja der Hengst.“
„Du hast sehr viel Phantasie, Mädchen. Du hast ein Pferd gesehen und im Folgenden einen Mann. Daraus solltest du nicht schlussfolgern, dass es sich dabei um ein und dasselbe Wesen handelt. Vielleicht war es ja ein Jäger.“
„Der Mann war unbewaffnet“, wandte Liana ein. „Sonst hätte er sich wohl kaum unter Zuhilfenahme eines Knüppels des Tieres erwehren müssen. Und für den Fall, dass du meinst, ich sei übergeschnappt, muss ich dich enttäuschen. Ich weiß, was ich gesehen habe. Darüber hinaus gehöre ich nicht zu jenen Frauen, die sich Sachen einbilden oder gar überreagieren.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Ewan und nippte an seinem Glas. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass du zu jener Sorte von Frauen gehörst, die romantischen Träumen nachhängt, in der Hoffnung darauf, dass die sich eines Tages erfüllen werden.“
„Du bildest dir zu viel ein, Ewan Cameron!“
Mit diesen Worten sprang sie wutentbrannt auf und verließ das Esszimmer.
Oh, oh. Wenn Blicke töten könnten, wäre er augenblicklich zu Staub zerfallen.
„Ich denke, dass reicht jetzt, Ewan!“, meldete sich Allan zu Wort. „Liana ist eine intelligente Frau, vernünftig wie auch geistreich. Sie ist unser Gast. Ich werde nicht zulassen, dass du ihre Aufrichtigkeit in Zweifel ziehst, zumal du es besser weißt.“
Er beugte sich vor und fixierte seinen Cousin mit einem strengen Blick.
„Hör auf, dieses infame Spiel zu spielen. Du wirst es nicht gewinnen.“
Mit diesen Worten verließ Allan den Raum, dicht gefolgt von Robert, der ebenso wenig verstand, was sein Bruder mit diesem Verhalten bezweckte.
Ewan nahm alles mit einem leichten Nicken hin.
Die Erinnerung an ihren gemeinsamen Kuss lebte. Es gefiel ihm zu glauben, was auch immer in der Zukunft geschah, dass Lianas und seine Gedanken stets zu demselben Augenblick zurückkehren würden. Er war überzeugt davon, dass auch sie den gestrigen Abend niemals vergessen konnte. Verdammt noch mal! Er jedenfalls würde die Erinnerung in all den bitteren Zeiten, die ihm noch bevorstanden, wie einen kostbaren Schatz hüten.
Nach der letzten Nacht wollte er, dass Liana sich auf ewig nach ihm verzehrte. Stattdessen sehnte sie sich nach zärtlicher Liebe, von der er wusste, sie ihr niemals geben zu können…
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