Ewan blickte gerade aus dem Fenster seines Zimmers, als er Liana das Haus verlassen sah. Trotz ihrer burschikosen Kleidung wirkte sie anmutig und unendlich liebreizend.
Er beobachtete, wie sie den kleinen Hügel am Rande des Waldes erklomm, um dann anschließend auf dem abschüssigen Gelände ihr Tempo zu beschleunigen. Dann verschwand sie aus seiner Sichtweite – verschluckt von den dunkelgrünen Schatten der Bäume.
Ewan verspürte augenblicklich nicht den Wunsch, ihr nachzugehen. Er musste erst einmal mit sich selbst ins Reine komme. Ferner hatte er kein Interesse daran, dass sie ihn in dieser Form zu Gesicht bekam. Oft genug war er auf der Suche nach Erlösung durch Wälder und Berge gestampft. Er war es einfach leid, auf etwas zu warten, was niemals eintreffen würde.
Doch wenn er Liana für sich gewinnen wollte, blieb ihm wohl nichts weiter übrig, als noch einmal gegen sein Schicksal anzukämpfen.
Wollte er das tatsächlich?
Die Antwort auf diese Frage hatte er hier – in der Abgeschiedenheit seiner vier Wände – zu finden erwartet.
Zwischen ihnen war nichts einfach. Er hatte wirklich keine Ahnung, wie eine Beziehung zwischen jemandem wie ihm, der den überwiegenden Teil des Tages als Geist zubringen musste, und ihr, einer wunderschönen sterblichen Frau, funktionieren sollte.
Dieser Kuss, den sie letzte Nacht miteinander geteilt hatten, bedeutete ihm alles. Nur würde das ausreichen?
In den vielen Jahrhunderten, die er bereits auf dieser Welt lebte, hatte es dunkle, quälende wie auch alptraumhafte Augenblicke gegeben. Ihr Kuss hatte all das vergessen lassen. Er bedeutete Hoffnung und die Rettung vor den Dämonen in seinem Inneren.
Er hatte sie geküsst, weil ein verrücktes Aufwallen von Gefühlen ihn dazu trieb, sie mit Leib und Seele für sich zu fordern.
Grundgütiger! Was war bloß in ihn gefahren?
Ein hohles Lachen entrang sich seiner Brust.
Stunde um Stunde war er in diesem Zimmer umhergelaufen, wohl wissend, dass lediglich eine Treppe und der Korridor zwischen ihm und der Frau lagen, die in seinen Armen zu halten, er nicht berechtigt war.
Am Tage hatte er sich in seinem Zimmer verkrochen, am Abend sich dann so weit wie möglich von ihr entfernt hingesetzt und versucht, das Ganze mit einem vorübergehenden Schweigegelübde zu überstehen. Vergebens. Er hatte gewusst, dass es zu einem Intermezzo wie gestern Nacht kommen musste.
Charme und Höflichkeit waren ihm schon vor langem genommen worden. Zurückgeblieben war allein Verzweiflung.
Mit einem abgrundtiefen Seufzer wandte Ewan sich ab.
Es war an der Zeit, ehrlich zu sein. Er wusste nicht, was er wegen Liana tun sollte. Dennoch war die Antwort simple. Er hatte es spätestens zu jenem Zeitpunkt verstanden, als er wenige Stunden zuvor seine Lippen auf ihre gedrückt hatte. Er musste sie gehen lassen, selbst wenn es ihm schwerfiel.
⁂.※.~.※.⁂