Liana versuchte alle Gedanken an Ewan auszublenden. Doch das klappte nicht.
Die Erinnerungen verfolgten sie über die von Wurzeln durchwachsenen Wege und den moosbegrünten Boden. Es kam ihr beinahe vor, als würden ihre Gedanken lange Schatten werfen.
Sie hatten sich geküsst. Der Kuss war verzweifelt und fordernd gewesen, dazu erregend in einer Weise, die sie nicht erklären konnte. Sie war ihm verfallen - und das mit Haut und Haar. Jetzt sollte sie sich jedoch erst einmal auf das Wesentliche konzentrieren. Der Wald barg noch weitere Geheimnisse, nicht nur das jener Hexe, die hier Jahrhunderte zuvor einen Fluch über drei Männer ausgesprochen hatte. Angeblich sollte hier auch ein weißer Hengst sein Zuhause haben.
Schenkte man der Legende Glauben, waren die Wälder seit Generationen verflucht. Zumindest das deckte sich mit Ewans Aussagen.
Besagter Hengst soll früher angeblich ein normaler Mann gewesen sein. Er hatte sich – aufgrund einer Hungersnot – der Wilddieberei strafbar gemacht, und war gezwungen gewesen, vor den Männern des damaligen Gutsherrn zu flüchten, die auf ihn Jagd machten.
In dem Augenblick als ihn die Hunde seiner Häscher beinahe eingeholt hatten, betete er zu den Geistern des Waldes. Kurz darauf soll ihn eine seltsame Macht zu Boden geworfen haben. Als er wieder zu sich kam, war er in jenes Pferd verwandelt. Er konnte die Wälder nie wieder verlassen. Jedes Mal, wenn er es versuchte, hatte ihn eine geheimnisvolle Kraft zurückgehalten. Seitdem war er dazu verdammt, auf ewig die unergründlichen Tiefen des Waldes zu durchstreifen.
Liana, die wusste, dass es viel Unerklärliches auf der Welt gab, tat die Geschichte nicht als Unsinn ab. Sie drang weiter in den Wald vor. Irgendwann hielt sie inne. Sie vernahm neben der gedämpften Stille auch das Zirpen der Insekten sowie das Knistern der Äste und Zweige. Hinzu kam das Geraschel, das von kleineren Waldbewohnern kündete, die durch Moos und Gras huschten.
Plötzlich blitzte seitlich von ihr etwas Helles auf. Sie sah es aus dem Augenwinkel heraus und drehte sich nach rechts. Nichts. Sie spähte in den Wald, dann eine kleine Anhöhe hinauf.
Da war es wieder. Ein weißer Blitz, der gekonnt durch die Schatten sprang. Konnte der helle Schein, das Glänzen weißen Felles sein?
Liana ging darauf zu. Überrascht blickte sie nach unten, als sie unter ihren Schuhsohlen nicht das erwartete Knacken hörte, welches ihr eigentlich nach Verlassen des Pfades hätte zu Ohren kommen müssen, da sie über trockenes Laub und heruntergefallene Zweige gelaufen war.
Aber es war nicht an dem.
Man sagt, dass ein schmaler Grat Verwegenheit von Torheit trennt. Sie selbst hatte diesen mehr als einmal überschritten. Das letzte Mal in der zurückliegenden Nacht.
Das ironische Lachen, das sich ihrem Munde entrang, überraschte sie, ebenso die Tatsache, wie leicht es ihr fiel, eine Wahl zu treffen. Sie folgte dem Pfad…
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