Weil er nicht wusste, wie er beginnen sollte, schloss Ewan für einen Moment die Augen.
Er wollte, dass Liana verstand, warum er sie nicht berühren oder gar küssen durfte, auch wenn es nichts gab, was er lieber getan hätte. Sie sollte wissen, was mit ihm los war - was er war. Daher begann er, ihr die Geschichte zu erzählen.
„Man schrieb das Jahr 1460, als eine Gruppe Schotten sich eines Tages unter der Führung ihres Clanoberhauptes Ailean nan Creach (1) aufmachte, um sich wegen eines Viehdiebstahls an dem benachbarten Clan der Mackintoshs zu rächen. Derlei Aktivitäten waren damals an der Tagesordnung. Die Clans bekämpften sich schon seit ewigen Zeiten untereinander. Man klärte solche Angelegenheiten, in dem man seinen Feind entweder zum Kampf herausforderte oder versuchte, ihm in irgendeiner anderen Form Schaden zuzufügen. Zu jener Zeit galten bereits Sechzehnjährige als erwachsen. Männer arbeiteten entweder auf den Feldern, zogen in die Schlacht oder starben im Kampf. Viehdiebstähle kamen nicht selten vor. Der Clan der Mackintoshs war zu dieser Zeit geschwächt, da sein Anführer kurz zuvor verstorben und dessen Nachfolge noch nicht geregelt war.“
Ewans Blick suchte Lianas, die inzwischen in einem der Sessel Platz genommen hatte.
„So zogen die Camerons los, um dem verfeindeten Clan einen Besuch abzustatten. Kleine Scharmützel, die in dieser Zeit verübt wurden, konnten leicht dazu führen, dass ein Clan gespalten wurde. Das wollte Ailean verhindern, weswegen er immer sorgsam darauf achtete, dass es innerhalb des Clans der Cameron zu keinerlei Unstimmigkeiten kam. An diesem Tag begab es sich, dass sich in der Dämmerung etwa zehn Männer auf den Weg machten. Doch von vornherein stand diese Unternehmung unter keinem guten Stern.“
„Warum?“, fragte Liana.
„Das tut nicht wirklich etwas zur Sache. Ich drücke es mal so aus: Es wäre besser gewesen, wenn die Männer Zuhause geblieben wären – zumindest ein Teil von ihnen. Ihre Absicht war es, den Mackintoshs ihre Grenzen aufzuzeigen, was auch gelang. Sicher wäre vieles anders gekommen, wenn nicht ...“ Ewan räusperte sich und drückte Lianas Hand, ehe er fortfuhr. „Wenn nicht die Hexe im Wald gewesen wäre und über einige der Männer einen Fluch ausgesprochen hätte. Unter den Menschen der Region ist allgemein bekannt, dass die Wälder hier verflucht sind.“
„Hexen und Flüche? Willst du mir tatsächlich erzählen, dass du an derlei Märchen glaubst?“
„Ich wünschte, es ließe sich so einfach erklären. Aber man muss etwas nicht glauben können, wenn man jeden Tag damit leben muss“, erwiderte er, ging zum Fenster hinüber und starrte in die Nacht hinaus.
„Was war das für ein Fluch?“
„Drei Männer wurden dazu verdammt, ein Leben ohne Liebe und Gefühle zu führen. - Und das bis in alle Ewigkeit, denn der Tod würde niemals zu ihnen kommen. Ihr Schicksal war es, am Tag als Geister umherzuirren. Nur in der Dunkelheit durften sie ihre menschliche Gestalt annehmen.“
„Verfluchte Geschöpfe, zu einer Ewigkeit der Einsamkeit verdammt? Das hört sich für mich recht plausibel an“, sagte Liana, während sie an Ewans Seite trat und ihre Hand vertraulich auf seinen Arm legte. Ihr Gehirn brauchte nur wenige Minuten, um die Zusammenhänge zu begreifen. Sie blickte in seinen Augen, erkannte darin die Wahrheit.
„Du redest von dir, Robert und Allan, nicht wahr?“
Ein Nicken war alles, was sie als Antwort erhielt.
„Da steckt sicher mehr dahinter. Diese Frau hat euch doch nicht ohne Grund verflucht.“
„Nein. Sie tat es aus verschmähter Liebe. Ich hatte mit ihr mehrfach das Bett geteilt. Ich war nicht ihr erster und gewiss nicht der einzige Mann, den sie auf diese Weise benutzte. Sie dachte wohl, der Neffe des Clanoberhauptes wäre eine gute Partie. Es waren keine Gefühle im Spiel, weder von ihrer Seite noch von meiner. An dem Abend nach dem Überfall habe ich ihr genau das gesagt. Ihrer Illusionen beraubt, wurde sie wütend, beschimpfte mich und warf mich aus dem Haus. Robert und Allan, die draußen auf mich warteten, waren mehr als bestürzt, als sie mitbekamen, mit welchen Ausdrücken Lorna um sich warf. Zu guter Letzt beschwor sie die Naturelemente herauf. Während Donner und Blitz den Himmel erhellten und der Regen niederprasselte, sprach sie einen folgenschweren Fluch aus.“
„Dann kannst du nichts fühlen?“
„Dazu später. Vorher möchte ich dir etwas zeigen.“
Mit diesen Worten wandte er sich vom Fenster ab und einem der Regale zu, wo er einen versteckten Mechanismus betätigte. Dahinter befand sich ein Wandschrank. Er öffnete diesen, wühlte für einen Moment darin herum, dann nahm er eine kleine Schatulle heraus, die er ihr reichte.
„Öffne sie. Und sieh selbst.“
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(1) 12. Chief des Clan Cameron in der Zeit von 1460 bis 1480. Gefallen in einem Gefecht mit den Macintoshs.