Keine fünf Minuten später platzte Robert herein. Der nahm sogleich Ewans mürrischen Gesichtsausdruck und dessen unordentliche Kleidung zur Kenntnis. Spannung lag in der Luft. Und da er eins und eins zusammenzählen konnte - er hatte Liana auf dem Flur gesehen - war er sich ziemlich sicher über das, was sich hier vor kurzem abgespielt haben musste.
„Ich habe das gesamte Haus nach dir abgesucht. Im Musikzimmer hätte ich dich am aller wenigsten vermutet.
‚Nur gut, dass Elmore Castle relativ weitläufig ist‘, dachte Ewan bei sich. ‚Wäre Robert hier nur zehn Minuten früher aufgetaucht, wäre ich definitiv in Erklärungsnot gewesen. Was für ein Schlamassel!‘
„Willst du reden?“, fragte Robert.
„Bist du der Auffassung, dass es dafür einen Grund geben könnte?“
„Oh, ja! Ich bin doch nicht blöd. Eins uns eins zusammenzuzählen, sollte unter den gegebenen Umständen nicht schwierig sein. Ich habe Liana völlig aufgelöst auf dem Flur gesehen, weil meine Zimmertür offenstand. Was hast du mit ihr gemacht?“
„Da du ja allwissend zu sein scheinst, kannst du dir diese Frage bestimmt selbst beantworten.“
Grimmig sah Ewan Robert an.
„Hast du mit ihr geschlafen?“
„Und wenn ich es getan hätte? Was geht es dich an?“
„Sehr viel.“
„Ach? Hat sich der Herr Bruder jetzt zum Beschützer der holden Maid erkoren?“
„Dein Sarkasmus ist völlig fehl am Platze. Diese Frau liebt dich. Das kann ein Blinder sehen. Und was tust du? Du trittst nicht nur ihr Herz mit Füßen, sondern scherst dich zudem auch nicht im Geringsten um ihre Gefühle!“
„So denkst du also von mir. Lass dir gesagt sein, dass du einem Irrtum unterliegst. Wären mir sie und ihre Gefühle egal, dann hätte ich genau das getan, dessen du mich bezichtigst. Ich hätte mit ihr geschlafen. Zu deiner Information: Ich habe es nicht getan. Dafür empfinde ich zu viel für sie. Verdammt noch mal!“
Wutentbrannt schlug Ewan mit beiden Händen solange auf die Wand ein, bis seine Fingerknöchel wehtaten.
„Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“
„Dann mach der Sache ein Ende. Was hast du zu verlieren?“
„Mich selbst“, kam es leise von Ewans Lippen.
„Du liebst sie also.“
„Mehr als ich sagen kann. Aber was ist mit diesem unsäglichen Fluch? Wir haben Jahrhunderte versucht, ihm zu entrinnen und des Rätsels Lösung zu finden. Vergiss nicht, was geschrieben steht. Wir müssen lieben – und zwar alle drei, ansonsten kann er nicht gebrochen werden.“
„Jetzt vergiss für einen Augenblick einmal diesen verdammten Fluch! Hilf ihr und hilf dir selbst, indem du ihr endlich deine Gefühle gestehst. Ansonsten wird nicht nur sie leiden, sondern auch du.“
„Es ist besser, wenn ich sie gehen lasse.“
„Nein. Das ist es nicht. Du hast ihr das Leben gerettet. Unbewaffnet hast du einen wilden Keiler getötet, der sie wahrscheinlich zerfleischt und am Ende gefressen hätte!“
„Und was ändert das?“ Ewan schüttelte den Kopf. „Nichts. An den Tatsachen ändert das nicht einen Deut! Wir sind nur begrenzt menschlich – in der Dunkelheit. Wie soll eine Beziehung zwischen einer Sterblichen und einem Mann wie mir, der überdies einen großen Teil des Tages als Geist zubringen muss, funktionieren? Es ist nicht möglich.“ Bedrückt verstummte Ewan.
„Woher willst du das wissen?“, warf Robert ein. „Hast du Liana jemals die Möglichkeit gegeben, darüber eine Entscheidung zu fällen? Du versteckst dich hinter der Maske des gefühlskalten Mannes und meinst, sie damit in die Flucht schlagen zu können. Doch du irrst dich, mein Lieber. Das Mädchen hat hinter deine Fassade gesehen und erkannt, dass da mehr ist. Gib ihr…, gib euch eine Chance. Versuche es einfach. Wenn nicht um deinetwillen, dann um ihretwillen. Ich werde jetzt gehen. Allan wartet draußen auf mich. Wir wollen noch eine Runde mit den Motorrädern drehen. Bis zur Morgendämmerung sind wir zurück. Mach das Beste daraus, großer Bruder. Gib diese Liebe nicht einfach auf. Sowohl du als auch Liana haben es verdient.“
Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, drehte sich Robert um und verließ das Zimmer. Zurück ließ er einen in sich gekehrten und nach wie vor von Zweifel geplagten Ewan…
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