Noch während er aus dem Haus rannte, zog sich Ewan die schwarze Lederjacke über. Schnurstracks lief er zu seinem Motorrad, startete es und brauste davon. Und während er mit mehr als hundert Sachen die Landstraße entlangjagte, legte sich allmählich sein innerer Aufruhr. Seine Gedanken schlugen eine andere Richtung ein.
Lianas Nähe war inzwischen nur noch zu erahnen. Die nächtliche Kälte hatte ihren Geruch an seiner Kleidung verwischt, weswegen er auch wieder fähig war, klar zu denken.
Am Loch Beannacharan stoppte er seine Maschine und atmete tief durch.
Er durfte sich nicht zu allzu weit von Elmore entfernen. In weniger als einer Stunde würde der Morgen heraufdämmern, bis dahin musste er wieder dort sein. Zwar hatte er nie ausprobiert, ob es möglich war, sich als Geist außerhalb der Grenzen des Anwesens aufzuhalten, aber andersherum funktionierte die Sache jedenfalls nicht. Das hatte er unzählige Male getestet, war jedoch immer auf eine unsichtbare Barriere gestoßen, die das Verlassen der Ländereien von Elmore verhinderte. Vielleicht löste er sich ja in Luft auf, wenn er in nicht körperlicher Form hier draußen ausharrte. Darauf wollte er es nicht ankommen lassen. Jetzt nicht mehr. Liana hatte nicht nur die Einsamkeit aus seinem Herzen vertrieben, sondern ihm den Glauben an das Leben zurückgegeben. Sie hatte es tatsächlich geschafft, den Fluch zu schwächen, der ihn umfangen hielt. Er musste ihr einfach wieder nahe sein.
Kurz nachdem er das Schloss erreicht hatte und von seinem Motorrad geklettert war, brach die Morgendämmerung an. Sein Körper wurde von einem Beben erfasst. Er dematerialisierte sich und befand sich wieder in jenem Zustand, der ihn dazu verdammte, im hellen Licht des Tages als Geist umher zu wandeln.
Bevor er jedoch ins Haus zurückkehrte, um sich den Fragen seines Bruders zu stellen, verweilte er noch geraume Zeit auf einer kleinen Bank unter einem Baum.
Er fühlte keinen Schmerz. Dennoch kam es ihm vor, als würde sein Herz entzweibrechen.
Stumm und starr saß er da. Eine einzelne Träne rann an seiner Wange hinab.
Im dritten Fenster des ersten Obergeschosses schimmerte ein Lichtschein durch die geschlossenen Vorhänge. Es war das Zimmer, in dem Liana untergebracht war. Wie oft hatte er in den letzten Tagen hier in der Dunkelheit gesessen und versucht zu verstehen, was ihre Gegenwart bedeutete. Hatte die Sehnsucht ebenso gespürt wie jene geheimnisvolle Macht, die sie auf nicht zu erklärende Weise aneinanderband.
Diese Frau - vor zwei Wochen noch eine Unbekannte - hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Darüber hinaus war er sich seit ihrem ersten Aufeinandertreffen der Tatsache bewusst gewesen, dass sie eine besondere Rolle in seinem Dasein spielen würde. Doch dass er sie lieben würde, daran hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Liebe war etwas für Träumer. Und seine Träume waren schon vor Jahrhunderten zerstört worden. Das hatte er zumindest angenommen.
Mittlerweile war er um einiges gescheiter. Er wusste, egal was auch immer die Zukunft für ihn bereithielt, dass sein Herz nur für Liana schlug, und dass solange er auf dieser Welt verblieb – womöglich sogar bis in alle Ewigkeit. Nicht, was der Mensch erlebte, sondern das, was er empfand, machte sein Schicksal aus. Diese Frau war seine Bestimmung. So viel stand fest.
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