"Es gibt keine Feinde, nur Feindbilder."
Ja, dachte ich, Bernstein hat gut reden. Aber was ist, wenn einer mit ner Keule auf dich zu kommt?
"Damit meine ich nicht, dass wir uns nicht verteidigen dürfen oder sollten. Im Gegenteil, es ist nur natürlich, das zu schützen, was wir lieben. Doch wir brauchen uns nicht in die Hass-Welle hinein reißen zu lassen. Wir haben die Wahl, tiefer schauen zu lernen: Bei uns und bei den anderen."
Klar, und wie soll das gehen? Sehe ich etwa aus wie Mutter Theresa?"
"Und dazu müssen wir nicht wie Mutter Theresa werden." Er lächelte wieder dieses unergründliche Orakel-Lächeln, das seine ebenmäßigen Zähne so gut zur Geltung brachte. Während er eine beredte Pause einlegte, wurde ich unruhig. Ich spürte Wut in mir aufkochen. Am liebsten hätte ich ihm ein paar Takte erzählt über die Dinge, die in der Welt geschehen. Wie kann einer ruhig bleiben bei Themen wie Kindesmisshandlung, Tierquälerei und Umweltverschmutzung? Ich könnte schreien manchmal. Dieses Mal schlug ich nur auf ein Kissen, das auf dem Sofa neben mir lag und fauchte "verdammt".
"Zum Beispiel schauen sie sich eine Frau an, die wütend wird, weil sie ihre Kinder in Gefahr sieht. Da melden sich Wut und vielleicht der Wunsch, den potenziellen Täter zu schlagen."
Nun bekam ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Sprach er von mir? Kann nicht sein, ich bin hunderte Kilometer von ihm entfernt. Er kennt mich nicht. Er sieht mich nicht. Er steht einfach irgendwo vor einer Kamera und spricht.
"Wenn es gelingt hinter unsere eigene Wut zu sehen, erkennen wir vielleicht so etwas wie Ohnmacht, Hilflosigkeit, Schutzbedürfnis und etwas noch viel Größeres ..."
Wieder eine dieser Pausen. Im Moment brachte er mich damit in Rage ...
"... es sei denn, wir lassen uns von einer bloßen Eigenart eines anderen Ablenken und verstärken die Wut, in dem wir uns noch einbilden, der andere habe sie verursacht." Nun grinste er und strich sich durch die gewellten blonden Haare. "Dabei können wir nur die an sich harmlose Eigenschaft gerade jetzt nicht aushalten. Wir wünschen vielleicht, der andere möge schneller sprechen ..."
Irgendwas setzte in meinem Gehirn aus und die Wut verebbte so schnell, wie sie aufgekommen war. In meinem Kopf schien nur ein einziges Denkloch zu sein ...
"... wenn es uns dann gelingt, wieder ruhig und vor allem präsent zu werden, haben wir automatisch viel bessere Kapazitäten, die Situation einzuschätzen und zum Beispiel uns darauf besinnen, dass wir ja gerne zuhören wollen, weil wir erfahren wollen, was unser Gegenüber zu sagen hat. Also: Hinter allen diesen Emotionen der Frau in meinem Beispiel steckt etwas viel Größeres: Ihre Liebe zu Kindern."
Bei mir machte es 'klick' und ich spürte Erleichterung durch meinen Körper fluten ...
"Wenn sie das sieht, wird sie frei, auch aus dieser Liebe zu handeln. Ihr Gehirn verbraucht keine unnötige Energie mit emotionalen Vernebelungen ..."
Ja, und, wie soll das gehen, einfach so die Emotionen abzuschalten? Das kann doch nicht gesund sein!
"Und damit schlage ich nicht vor, die Emotionen zu unterdrücken. Das ist ungesund. Gefühle sind dazu da, sie zu fühlen."
Dieses Mal fand ich seine Pause sehr angenehm.
"Sondern was ich meine, ist, dass wir Ressourcen frei bekommen, wenn wir die Fähigkeit entwickeln, unsere Emotionen zu beobachten. Sie werden sich dann viel schneller legen, wir sind nicht mehr von ihnen abhängig. Sondern bekommen mehr und mehr Zugang zu unserer Kraft: Der Liebe. Sie wird wissen, was zu tun ist. Es kann auch passieren, dass wir kämpfen. Aber dann tun wir es nicht, weil wir es müssen, aus innerem Druck. Wir werden frei."
Ich fühlte mich ein wenig beschämt, und sehr nachdenklich: Es fühlte sich gut an, auch wenn ich mir noch nicht so recht vorstellen konnte, nicht vor Wut zu platzen.
"Je mehr wir einfach liebevoll mit uns sind und beobachten, desto mehr werden wir die Wut umfassen, statt in ihrem Klammergriff fest zu hocken. Wenn die Menschheit sich da hin bewegt, werden Kämpfe unnötig."
Auch als das Bild endete und nur noch Musik zu hören war, die Bilder von Kindern, die auf einer Blumenwiese spielten, umspielte, starrte ich auf den Bildschirm. In mir breitete sich ein Gefühl von Frieden aus. In deren Mitte hockte ein Funken Hoffnung. Doch schon bald erinnerte ich mich, dass er nichts zu dem Hass unserer Feinde gesagt hatte. Wenn er uns einreden will, dass auch dahinter Liebe steckt, schreie ich. Kaum hatte ich das gedacht, endete die liebliche Bilderschau.
"Etwas schwieriger mag es vielen erscheinen, auch bei Menschen tiefer zu sehen, die als Täter Leid in die Welt bringen. Und das ist natürlich viel schwieriger. Dazu ist es meist hilfreich, auch tiefer in die Zeit zu schauen, als diese Menschen Kinder waren. Dabei ist es so, dass sie sich buchstäblich immer mehr abtrennen müssen, von ihren eigenen Gefühlen, ihrer Seele."
Jetzt fehlt nur noch, dass er Harry Potter zitiert, dachte ich in einem Anfall von Sarkasmus.
"Im Grunde hat Joan K. Rowling diesen Vorgang meisterlich geschildert, als sie die Horkruxe erfand. Das ist tatsächlich ein bisschen so: Menschen verrohen, weil sie ihre Umstände nicht ertragen und sich von ihnen distanzieren müssen. Sie werden mit ihrer Wut nicht fertig, steigern sich hinein, geraten in seltsame Weltanschauungen und reden sich irgendetwas ein, das sie tiefer in die gefühlte Isolation treibt. Aus dieser heraus beginnen sie mit ihrer Schlächter-Karriere. Mit jeder Tat trennen sie sich ein bisschen mehr von ihrer Seele, weil sie die Gefühle nicht aushalten können." Er machte eine Pause und wirkte sehr nachdenklich.
Ich schaute ruhig zu, während er aus der Kamera zurückschaute und nichts sagte. Das ging vielleicht zwei Minuten so. Dann endete sein Vortrag:
"Daraus finden sie nicht zurück. Leider kenne ich keine Möglichkeit für eine gute Lösung. Sonst würde ich den Menschen gerne helfen. So bleibt nur die geringe Möglichkeit, dass sie sich eines Tages entscheiden. Ohne eine Entscheidung sehe ich keinen Weg. Da bleibt nur die Hoffnung, dass sich mehr und mehr Menschen ihrer bewussten Entwicklung zuwenden und Kinder fortan bessere Bedingungen vorfinden, in denen sie sich und ihr Wesen positiv entfalten können."