Den Weg zur Uni ließ sie sich von Polar begleiten, die sie daran erinnerten, dass dieses eine Leben voller vorbeiziehender Tage, alles war, was sie hatte und was sie und jeder andere Mensch sein Heim nennen konnte. Es gab für niemanden ein Heilmittel und auch keinen Retter vor dem Tod. Tom schien das egal zu sein. Ari fragte sich, ob ihm sein Leben überhaupt etwas wert war, wo er doch beharrlich jeden verprellte, der sich ihm zu nähern und helfen versuchte. Ja, er würde ganz allein sein. Und Ari befürchtete, dass sie ihn vielleicht nicht retten konnte. Weil er es nicht zulassen würde. Womöglich würde es völlig sinnlos sein, herauszufinden, wie man Tom wieder an die Uni zurückbekam. Dennoch glaubte Ari daran, dass Katrin recht hatte und es seine beste Chance war, sein Pfad, auf dem es keine Gnade für ihn gab, aus der Dunkelheit heraus.
„Find what you love and let it kill you / No saviour, no saviour / Will save us“, flüsterte Ari synchron mit Adam Woodford, während sie ihr Rad vor dem Institut für Virologie anschloss. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, streifte einen Handschuh ab und aktivierte das Display. Kurz vor Acht. Sie war ziemlich früh dran. Ari sah sich um. Es war auch sonst noch keiner ihrer Kommilitonen da. Sie ließ die Musik an und lehnte sich an die Mauer, die die Treppe hoch zum Gebäude begrenzte. Sie stellte ihren Rucksack darauf ab, zog ihr Drehzeug aus der Seitentasche und begann sich eine Zigarette zudrehen.
Während die Minuten verstrichen, versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie beide sich zufällig auf dem Campus oder in der Mensa begegneten. Wenn Thomas bereit wäre, sein Studium wiederaufzunehmen, idealerweise gefördert durch irgendein Stipendium, vielleicht könnte er dann wieder werden, wie er einst war. Unbeschwert, sich selbst und seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst und bereit zu leben. Eine Traumvorstellung. Aber nicht völlig unmöglich. Und Ari wusste was sie zu tun hatte, um ihm den Weg zu ebnen.
Während sie sich verträumt vorstellte mit Tom Mittag zu essen, füllte sich die breite Treppe vor dem Institut und dem kleinen halbrunden Platz mit den alten Holzbänken. Jemand stellte sich neben sie und knuffte sie freundschaftlich in die Seite. Ari sah grinsend auf und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren.
„Immer so zeitig da, unsere Lieblingsstreberin“, lachte eine junge Frau mit rosa gefärbten Haaren und zog an ihrer Zigarette, die einen aromatisch fruchtigen Geruch verströmte.
„Merle, auch mal wieder bei `ner Vorlesung? Hab‘ ich dich dieses Semester überhaupt schon mal geseh‘n?“, knuffte Ari zurück und schnupperte nach ihrer Zigarette. Merle lachte und zuckte leichthin die Schultern. „Was rauchst du da für Kraut? Lass ma kosten“, fragte Ari und nahm die Selbstgedrehte entgegen. „Mango“, antworte Merle. „Hab letztens tatsächlich noch ein Päckchen im Schrank gefunden. Super geil, oder?“ Ari nickte andächtig und inhalierte tief. „Aaaah…“, machte sie genießerisch. „Den Tabak hab ich echt geliebt. Schade, dass sie den aromatisierten verboten haben.“
„Auf jeden! Puh, ist echt frostig geworden. Na los, lass langsam reingehen und Plätze an der Heizung sichern.“
Sie teilten sich den letzten Rest der Kippe und eilten ihren Mitstudierenden nach, die sich ebenfalls in die Wärme des Gebäudes verzogen. Die ersten Stunden vergingen ziemlich zügig und Ari hatte keine Gelegenheit während der Vorlesung die Schwarmintelligenz des Internets zu konsultieren, um Antworten auf Katrins Fragen zu finden. Aufmerksam lauschte sie ihrem Professor, der für sein Amt noch ziemlich jung war. Ari schätzte ihn auf maximal Mitte Vierzig. Leidenschaftlich schwadronierte er über typische Viruserkrankungen bei Kleintieren und deren Symptome. Immer wieder zählte er fiktive oder auch tatsächliche Krankheitsgeschichten und –verläufe auf, schilderte Symptome und forderte seine Studenten auf, die Diagnose zu stellen. Ari meldete ich einige Male, da sie ähnliche Fälle aus der Tierarztpraxis kannte und schon mit Dr. Tomalik durchgegangen war. Merle, die neben ihr saß, grinste sie jedes Mal vielsagend, aber nicht unfreundlich an und wiegte leicht ihren Kopf. Ari grinste zufrieden zurück. „Wer kann, der kann!“, sagte sie und reckte ihre Nase gespielt eitel in die Luft.
Als der Prof sie schließlich in die Mittagspause entließ, seufzte Ari erleichtert. Ihr Kopf war voll und die Pause war dringend nötig.
„Kommst du mit in die Mensa?“, fragte Merle auf dem Weg nach draußen, bereits einen Filter zwischen den Lippen. „Nee, ich hab was dabei und muss in die Bib, was recherchieren und zum Studienfachberater.“
„Was willst‘n da?“ „Ach, ein Freund hat sein Studium geschmissen, schon vor 3 Semestern und überlegt es wiederaufzunehmen. Ich will ihm helfen, in dem ich rausfinde ob das geht und unter welchen Bedingungen und so.“ „Ah, na dann viel Erfolg. Gehst du nachher zu Klinische Propädeutik?“ „Ja, klar.“ Merle lachte. „Was frag ich eigentlich? Cool, dann bis nachher.“ „Bis dann“, verabschiedete sich Ari und entschwand Richtung Bibliothek. Sie hatte nicht wirklich vor schon zum Studienfachberater zugehen, zumal sie sowieso zu einer ganz anderen Fakultät müsste. Und sie musste vorher in Erfahrung bringen, wo Toms alte Fakultät überhaupt genau war und wann Sprechzeiten besucht werden konnten. Die Bibliothek war also erstmal der Ort, an dem sie in Ruhe und ohne Ablenkungen ihre Recherche beginnen konnte. Bevor sie das Finanzierungsproblem angehen wollte, war es vermutlich sinnvoller zu prüfen, ob Tom überhaupt ohne Schwierigkeiten in seinen alten Studiengang wieder einsteigen konnte. Auf der Internetseite des Instituts überflog Ari die Voraussetzungen für eine Bewerbung für die normale Aufnahme. Tom musste damals eine Mappe abgegeben und sogar noch eine Aufnahmeprüfung bestanden haben. Wow, das könnte die Sache kompliziert machen.
Über die Seite fand sie schließlich den Ansprechpartner für alle Fragen und Probleme. Sie beschloss ihm erstmal eine formlose Mail zu schreiben und zu fragen und ob eine Wiederaufnahme überhaupt möglich war, bevor sie einen Termin vereinbaren wollte.
Überraschenderweise ließ die Antwort nur wenige Minuten auf sich warten. Der Absender bestätigte im ersten Satz Ariels Hoffnung. Eine Wiederaufnahme war theoretisch möglich, regulär über die Bewerbung in ein höheres Fachsemester. Ein Link zur Immatrikulationsordnung am Ende der Mail war ebenfalls beigefügt, falls die Exmatrikulation aus besonderen Gründen, wie einer Notlage heraus, geschah. Ari klickte sofort den Link an, um nachzusehen, ob eine erneute Aufnahmeprüfung notwendig werden würde. Es öffnete sich eine PDF mit zahlreichen Paragraphen. Im dritten Paragraphen fand Ari erleichtert, worauf sie gehofft hatte:
„Studierende, die sich zum Zweck der Betreuung oder Pflege eines Kindes unter 18 Jahren oder eines pflegebedürftigen sonstigen Angehörigen bis zur Dauer von drei Jahren exmatrikuliert haben, werden ohne erneute Zulassung immatrikuliert.“
Ari atmete innerlich auf. Tom war erst ein Jahr raus. Sie überflog sicherheitshalber noch den Nachsatz, in dem „Angehörige“ definiert wurden, doch natürlich gehörte eine Mutter zweifelsfrei in diese Sparte. Diese Informationen waren soweit eigentlich ausreichend und machten zu diesem Zeitpunkt ein persönliches Gespräch mit dem Berater unnötig. Sie öffnete wieder ihr eMail-Konto, drückte auf den „Antworten-Knopf“ und bedankte sich höflich für die Informationen.
„Puh…“, seufzte sie und öffnete ihren Browser. Sie begann ihre Recherche zu Finanzierungsmöglichkeiten mit Stipendien für Bedürftige, durchsuchte die Internetpräsenz des Arbeitsamtes, der Stadt und des Bundes. Alles was ihr nützlich vorkam, speicherte sie als Lesezeichen und machte sich Notizen. Sie war noch längst nicht fertig, als ihr Handy zu vibrieren begann und sie daran erinnerte, dass ihre nächste Unterrichtseinheit bald begann. Etwas überrascht schaute sie auf die Uhr und stellte fest, dass sie tatsächlich schon fast zwei Studenten in der Bibliothek verbrachte hatte. Und völlig vergessen hatte, etwas zu essen. Hastig klappte sie ihr Notebook zu, ohne es richtig herunterzufahren und stopfte es nebst Block, Kugelschreiber und Textmarkern zurück in ihren Rucksack. Bei der Gelegenheit zog sie ihre uralte bordeauxrote Brotbüchse, die sie schon mindestens seit der 2. Klasse hatte, aus einer der Fächer, und griff sich eines der Käsebrötchen, um es auf dem Weg zur nächsten Vorlesung zu verschlingen.
Als Ariel am späten Nachmittag ihre letzte Vorlesung hinter sich gebrachte und mit einigen Kommilitonen noch ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte, ging sie zu ihrem Fahrrad und erwog, ob sie noch am selben Tag zu Katrin fahren und einen ersten Bericht abgeben sollte. Mit Blick auf die sinkende Sonne entschied sie sich allerdings dagegen und beschloss ihre Recherche noch etwas vorzuführen, um vielleicht sogar schon eine Liste potentieller und vor allem realistischer Finanzierungsmöglichkeiten zusammenzustellen.
Sie fuhr ohne Musik nach Hause. Ihr Kopf war voll von der Uni und ihren Überlegungen, wie sie Tom zurück an die Hochschule bringen konnte. Sie fragte sich, ob er seine Kamera noch hatte, befürchte jedoch, dass er sie womöglich verkauft haben konnte. Einige Vollstipendien boten allerdings zusätzlich ein „Büchergeld“ an. Mittel, die man sicher auch für andere Unterrichtsmaterialen ausgeben konnte. Wie in Toms Fall für eine zumindest semiprofessionelle Digitalkamera und einen Laptop. Sie seufzte und setzte diesen Punkt auf ihre mentale Liste an Fragen, die sie noch beantworten wollte, bevor sie Katrin unter die Augen trat. Ari hasste es unvorbereitet zu sein und wollte der Frau möglichst alle Antworten präsentieren können, auf Fragen, die sie eventuell stellen konnte. Zu Hause angekommen begann Ari aber dennoch erstmal mit der Nachbereitung der Seminare, die sie an diesem Tag hatte sowie der sich anschließende Vorbereitung der Veranstaltung, die sie am folgenden Tag besuchen würde. Ihre Mutter war noch nicht zu Hause und so warf Ari sich für ihre Nachbereitung auf die gemütliche Couch, die sie nach dem stundenlangen Sitzen auf harten Stühlen, ihrem wenig gepolsterten Schreibtischstuhl vorzog.
Als mit ihren „Hausaufgaben“ fertig war, behauptete die digitale Anzeige am Fernseher, dass es bereits dreiviertel Neun sei. Ihre Mutter war immer noch nicht da. Obwohl ihre Schicht längst zu Ende sein müsste. Mit knurrendem Magen, brachte Ari das Unizeug in ihr Zimmer. Sie hatte keine Lust länger auf ihre Mutter zu warten und schrieb ihr eine kurze Nachricht, mit der Frage, ob sie demnächst nach Hause kommen würde. Dann verpackte Ari vorsorglich schon alle Unterlagen, die sie am nächsten Tag brauchen würde, im Rucksack. Nur ihr Notebook nahm sie, unter den Arm geklemmt, mit in die Küche. Sie stellte es auf den Küchenschrank, klappte das Display hoch und der Computer erwachte zum Leben. Alle Tabs und Dokumente waren noch geöffnet.
Sie ließ den Rechner erstmal stehen und öffnete den Kühlschrank. Eine Weile stand sie nur davor und starrte blind hinein, auf einzelne Lebensmittel, die sich in ihrem Kopf einfach nicht zu einer richtigen Mahlzeit zusammenfügen wollten. Gerade als sie die Tür unverrichteter Dinge wieder schloss, brummte ihr iPhone. Sie zog es aus der Hosentasche und aktivierte das Display. I
„Hey Spatz. Bleibe die Nacht im KH. Hier ist der Teufel los. Musste eine Schicht übernehmen. Bis morgen. Kuss“
Etwas beruhigt legte sie das Telefon beiseite. Sie hatte nicht wirklich angenommen dass ihrer Mutter es passiert sein könnte, schließlich kam es öfter vor, das Schichten getauscht oder übernommen wurden oder ein andere Notfall es nötigt machte, über die eigentliche Arbeitszeit hinaus zu bleiben. Statt sich also etwas Richtiges zu kochen, betankte Ari den Wasserkocher und suchte sich eine Nudelterrine aus dem Vorratsschrank. Während das Wasser sich erwärmte, führte Ari ihre Recherche fort. Doch ihre Augen schmerzten schon nach kurzer Zeit von der Anstrengung des Tages. Mit einem lauten Klacken, meldete der Wasserkocher, seine Aufgabe erledigt zu haben und Ari beschloss, ihre Arbeit für diesen Tag ebenfalls einzustellen. Sie konnte sie am nächsten Tag fortführen, da sie ohnehin erst mittags an der Uni erscheinen musste und durch die flotte Antwort des Studienfachberaters von Toms ehemaliger Fakultät wahrscheinlich gleich mehrere Tage gespart hatte.
Den nächsten Tag begann Ari, wie sie den letzten beendet hatte. Sie machte sich eine Liste mit Pros und Cons, dazu zahllose Stichpunkte und Bemerkungen. Als sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, war es bereits so spät, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, bis sie in der Uni sein musste. Ein Besuch bei Katrin konnte also frühestens morgen stattfinden. Bevor sie sich fertig für die Uni umzog, schrieb sie ihrer Mutter eine kurze Nachricht.
„Hey Mama, alles gut bei dir? Sag ma, hat Thomas feste Zeiten wenn er seine Mutter besucht? Ich würde morgen zu Katrin gehen, aber ich will ihm nicht über den Weg laufen.“
Die Antwort ihrer Mutter traf erst ein, als Ari schon wieder mit der Uni fertig und auf dem Weg zurück war. Auf dem Fahrrad wollte Ari allerdings lieber nicht nach sehen, bei ihrem Glück würde sie direkt in eine zufällige Polizeikontrolle rasseln und richtig Ärger kriegen. So gab sie Tempo und radelte fix nach Hause. Auf dem Weg durchs Treppenhaus hoch in den dritten Stock zu ihrer Wohnung laß sie schließlich die Nachricht.
„Hi Puppi. Ja, alles ok. Ging nur drunter und drüber, komme aber auch bald heim. Tom ist meistens nachmittags da. Bis gleich.“
Meistens. Na toll. Ari hatte jedoch keine Wahl als das Risiko einzugehen.
Am nächsten Morgen raffte sie ihren Mut und ihre Unterlagen zusammen, um Katrin einen ausführlichen und zufriedenstellenden Plan zu präsentieren, der die Zukunft ihres Sohnes wieder in ruhigere und sichere Gewässer steuern konnte. Sollte er es zulassen.
Sie war bereits alles am Abend zuvor mit ihrer Mutter durchgegangen, nachdem diese endlich mal wieder nach Hause gekommen war, um einschätzen zu können, welche Fragen ihr möglicherweise begegnen könnten, an die sie selbst nicht gedacht hatte. Doch zumindest für ihre eigene Mutter schien sie alles von Relevanz erfasst, gelistet und gelöst zu haben. Dennoch war sie aufgeregt, wie vor einem Bewerbungsgespräch. Es ging um die Zukunft. Und wenn sie ehrlich war, tat sie das alles nicht nur für Tom, sondern auch für sich selbst. Ihre Zukunft, mit ihm.
Sie fuhr am Vormittag mit ihrer Mutter zusammen mit dem Auto zum Krankhaus. Es war knackig kalt geworden über Nacht, und Ari befand, dass ihr Fahrrad bei diesem Wetter im Keller besser aufgehoben war, als mit ihr auf der Straße. Sie parkte den Mini auf Connys Stellplatz in der Tiefgarage, und nahm anschließend mit ihrer Mutter den Fahrstuhl nach oben.
Um zu Katrin zu gelangen, mussten sie in anderes Gebäude, doch Conny hatte vorher noch etwas zu erledigen und schickte ihre Tochter voraus. Auf Katrins Etage, der Station für Innere Medizin, angekommen spähte Ari vorsichtig in den Gang, doch außer zwei Schwestern in ihrer dunkelblauen Kleidung, die sich unterhielten, war niemand zu sehen. Ari schlich den Flur hinunter, bog links ab, durch eine breite Glastür, die sich mit einem Wandschalter öffnen ließ, passierte einige Zimmer, deren Türen offen standen und die vermutlich gerade nicht besetzt waren oder gereinigt wurden, bevor sie schließlich vor Zimmer 316 stand. Sie klopfte leise an und trat ein, ohne auf eine entsprechende Aufforderung zu warten. Die hätte sie vermutlich eh nicht gehört. Katrin lag halb aufrecht in ihrem Bett, die Decke bis zum Kinn und hatte die Augen geschlossen. Außer ihrem Gesicht, war sonst nur noch ihr linker Arm den Blicken anderer ausgesetzt, die den Raum betraten. Sie war an einen Tropf mit mehreren kleinen Beuteln angeschlossen. Ari trat vorsichtig näher, um einen Blick darauf werfen zu können. Der Frau wurden nicht nur Elektrolyte, Vitamine und Enzyme verabreicht, die Teil ihrer Ernährungstherapie waren, sondern auch Morphin. Ohne diese palliative Behandlung müsste Mutter Toms furchtbare Schmerzen erleiden. Aber es war auch ein weiterer Hinweis für ihre Angehörigen, sich vorzubereiten. Kam Morphin erstmal zum Einsatz, blieb nicht mehr viel Zeit.
Doch Katrin schien zu schlafen und Ari wollte sie nicht wecken. Sie beschloss sich still in einen der niedrigen Sessel zu setzen und auf ihre Mutter zu warten. Conny ließ nicht lange auf sich warten. Sie betrat den Raum ebenso so still wie Ari, jedoch ohne zu klopfen.
„Sie schläft“, flüsterte Ari. Conny warf einen Blick auf ihre Freundin und schüttelte leicht den Kopf. „Na meine Gute“, sprach sie Katrin sanft an und zog sich einen Stuhl an ihr Bett. Ari stand auf und stellte sich neben ihre Mutter. Katrin hatte die Augen nur einen schmalen Spalt breit offen. Sie verzog die trockenen Lippen zu einen leichten Lächeln. „Ariel“, wisperte sie. „Schön, dass du dich mal blicken lässt.“ Ari nickte und lächelte zurück. „Ari hat ein bisschen recherchiert“, sagte Conny. „Sie hat mir schon erzählt was sie herausgefunden hat. Ich glaube es sieht gut aus.“ Langsam wanderten Katrins Augen zurück zu Ari, deren Mund plötzlich ganz trocken und die Hände feucht wurden.
„Ja“, bestätigte sie und räusperte sich. „Rein formal von Seiten der Uni aus ist Toms Re-Immatrikulation kein Problem. Er brauch‘ sie nur normal für ein höheres Semester bewerben. Alles was er schon gemacht hat, wird ihm angerechnet.“ Sie stockte und warf ihren Plan zur Präsentation ihrer Ideen über den Haufen. Sie konnte die Frau nicht überfordern. Es musste reichen ihr die Hoffnung zu geben, dass alles möglich war und Toms Zukunft sicher.
„Ich hab auch zwei, drei Stiftungen entdeckt, die Stipendien anbieten, für die Thomas in Frage kommt.“
„Wirklich?“, hauchte Katrin und lächelte schwach. „Ja meine Liebe. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Wir kümmern uns Tom und wenn ich ihn persönlich zur Bewerbung vor den Dekan schleife.“
Ari verzichte darauf, ihrer Mutter zu erklären, wie der Bewerbungsprozess tatsächlich stattfand, während sie sich fragte, wie sie Tom dazu überreden sollte, wenn er gar nicht zurück wollte. Und wenn er noch gar nicht darüber nachgedacht hatte oder sich momentan gegen den Gedanken sperrte, war es vielleicht sogar besser, ihn vor vollendete Tatsachen zustellen. Konnte sie für ihn die Bewerbungen bei Uni und für die Stipendien mit allen Formalitäten übernehmen? Diese Frage hatte sie sich bisher nie gestellt. So wie Thomas drauf war, war es womöglich das Beste, den Prozess ohne ihn durchzuziehen, und ihn nur davon in Kenntniszusetzen, sollte ihr Plan aufgehen. Eine Ablehnung, nachdem er sich darauf eingelassen, vielleicht schon echte Hoffnung gemacht und Vorfreude entwickelt hatte, könnte ihn erneut aus der Bahn werfen. Und Ari wusste nicht, ob er sich dann überhaupt nochmal auf sie einlassen konnte.
„Na gut ihr Hübschen. Ich muss noch ein paar andere alte Freunde besuchen.“, sagte Conny und erhob sich. „Bis später.“ Sie drückte ihrer Tochter einen kleinen Kuss auf die Wange.
„Ariel“, sprach Katrin sie leise an, als Ari überlegte, ob sie nun auch besser gehen sollte und ob alles Wichtige gesagt war. „Bleib noch einen Moment.“ Ihre Hand zuckte schwach, doch Ari wusste, was die Frau wollte. Sie setzte sich auf den freigewordenen Stuhl und nahm vorsichtig die schmale, kalte Hand zwischen ihre eigenen. Aufmerksam und ein wenig neugierig sah sie Katrin an.
„Bitte versprich mir, für Thomas da zu sein. Kümmere dich um ihn, auch wenn er schwierig ist.“ „Ja, natürlich. Immer! Ich würde alles für ihn tun…“ Sie zögerte und schlug die Augen nieder. „Aber ich kann mich nur bis zu einem gewissen Grad aufdrängen… Unsere… ähm, Freundschaft ist ziemlich fragil.“
„Mein Sohn muss manchmal zu seinem Glück gedrängt werden. Aber du bedeutest ihm viel. Das weiß ich ganz sicher. Und ich glaube, er würde auf dich hören.“ Ari schwieg. Sie war sich da überhaupt nicht sicher.
„Katrin, hat Thomas aus Geldgründen diese Käfigkämpfe mitgemacht?“, fragte sie aus einem Impuls heraus und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, denn das ging sie gar nichts an. Doch Katrin wirkte nicht beleidigt oder unangenehm berührt, sondern nur traurig.
„Ja, am Anfang“, begann sie leise zu erzählen. „Auch weil er oftmals hilflos gegenüber seiner Wut war und ein Ventil brauchte. Ich fürchte, der Hang zur Gewalt ist tief in ihm verankert.“ Sie machte eine kleine Pause. Das Sprechen musste anstrengend sein. Ari reichte ihr einen Becher Tee mit einem Strohhalm und Katrin nickte dankbar. Sie nahm zwei kleine Schlucke und Ari stellte den Becher zurück. Katrin sah aus dem Fenster, als sie erneut zu reden begann, so leise, das Ari die Luft anhielt, um sie verstehen zu können.
„Er hat sich schon als Kind oft geprügelt. Manchmal einfach nur weil er Lust darauf hatte.“
Ari atmete überrascht aus. Sie hatte ihn nie als mutwillig gewalttätig eingeschätzt. Andererseits, überlegte sie grübelnd, hatte er damals ganz allein drei Typen auseinander genommen, die nicht gerade klein und schwach gewirkt hatten, als die sie angegriffen hatten. Ari war immer davon ausgegangen, dass er das eben für sie getan hatte. Oder auch für jedes andere hilflose Mädchen. Aber vielleicht hat er es auch zusätzlich genossen.
„Aber er hat schnell verstanden, dass das falsch war und wollte auch nie jemanden willentlich wehtun und grundlos verletzen. Er hat gelernt sich zu kontrollieren und im Sport seinen Ausgleich gefunden. Damals, am Anfang, wollte er nur schnelles Geld, da es bei seinen Nebenjobs an der Tankstelle oder im Lager und der Waschstraße nicht gereicht hat, oder der Lohn zu spät auf dem Konto einging. Doch ich fürchte, mein Sohn ist süchtig nach den Kämpfen geworden. Ich hab ihn sooft gebeten aufzuhören… doch er wollte es nicht hören.“
Tränen liefen über ihre Wangen. „Er hat sich immer nur im mich gesorgt und um mich gekümmert… alles aufgegeben …“ Ihre Stimme brach und wurde immer leiser und rauer. „… hab ihn gebraucht. doch wofür… zu spät...“
„Katrin“, flüstert Ari betroffen und streichelte ihr sanft über den Arm. „Er kann das Studium beenden“, versicherte sie ihr, auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob die Frau noch viel mehr mit ‚aufgeben‘ gemeint hatte. „Wirklich, das ist kein Problem. Ich helfe ihm bei allem. Wir kriegen das hin. Aber du bist seine Mama. Natürlich hat er erstmal alles auf Eis gelegt um für dich dazu sein. Mach dir keine Vorwürfe deshalb.“
Katrin blinzelte träge und wandte Ari wieder das Gesicht zu. „Du bist ein gutes Kind.“ Sie lächelte leicht und schien Mühe zu haben, die Augen offenzuhalten. „Danke, dass du bei mir warst und das alles in Erfahrung gebracht hast. Ich werde eine Weile schlafen…“
Mit diesen Worten verließ die Frau die Kraft und schlief ein. Erschrocken prüfte Ari sofort ihren Puls, doch Katrin war tatsächlich nur eingenickt. Etwas beruhigt erhob sie sich, stellte den Stuhl zurück an seinen Platz und verließ hastig den Raum. Sie schloss die Tür bewusst leise, doch zügig, um Katrin nicht zu stören. Als sie sich in den Gang und die Richtung wandte, in die sie gehen wollte, nahm sie gerade noch einen dunklen Schatten war, bevor sie erschrocken in eine hochgewachsene Gestalt hineinstolperte, der wie aus dem Nichts vor der Tür erschienen war.
„Autsch!“ „Ari! Was machst du denn hier?“, fragte Tom und schob sie auf Armeslänge von sich.
Oh fuck…