Tarja fuhr schwungvoll zu ihm herum, schnippte mit den Hosenträgern und grinste mit einem Mal. „Demnächst bist du auch mit im Verein und wirst ständig durch ganz Avasikuu und den halben Kontinent gescheucht.“
„Ich freu mich“, ächzte Nemo, der Unna kurz absetze. Sie zappelte ihm zu viel.
„Komm schon, das wird dir gut tun.“ Sie gab ihm einen leichten Hieb mit dem Ellenbogen in die Seite. „Ordentlich Beschäftigung und so. Und um gut im Job zu sein, ist eine Menge...“
„Sag es nicht.”
„Eine Menge Zusammenarbeit mit den Kollegen von Nöten. Oh ja. Teamtests. Großartige Sache.“
Er rollte mit den Augen. „Zum Glück sind es noch zwei Trimester.“
„Und die gehen schneller um, als du denkst. Ehe du dich versiehst, sind Herbstferien und kurz darauf ist das Schuljahr auch schon vorbei, das kannst du mir glauben. Dann bist du fertig und ein neuer Lebensabschnitt steht bevor!“
„Für dich aber auch“, sagte er. „Und wie gesagt. Ist noch ein Jahr. Also... Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. Ein Glück kam in jenem Moment die Bahn und die beiden stiegen wieder ein. Diesmal mussten sie stehen, Nemo erneut mit Unna auf dem Arm.
„Wer weiß. Vielleicht darf ich dich ja offiziell herumkommandieren, so als Offiziersanwärterin.“
„Ja. Aber vielleicht versetzen sie dich auch nach Lakejew.“
„Die versetzen mich schon nicht nach Lakejew“, widersprach sie, schien aber darüber nachzudenken, wie hoch die Wahrscheinlichkeit lag, dass die Marschälle sie die ehemalige Hauptstadt abschoben. Nemo wusste nicht, ob es sich bei Lakejew tatsächlich um die kalte Schneehölle handelte, als die es im Süden des Landes verschrien war - aber zumindest die örtlichen Annahmen über seine eigene Heimatstadt stimmten teilweise.
Kurz vor dem Tunnelausgang kam ein Fahrkartenkontrolleur. Tarja wurde nicht gefragt, denn ihr war an der Kleidung ihre Zugehörigkeit zum hostischen Militär mehr als deutlich anzuerkennen. Nemo hingegen musste seinen Personalausweis hervorholen. In der heutigen, modernen Welt hatte es nicht viele Vorteile, einem Clan anzugehören und dessen spezielle magische Fähigkeiten zu besitzen, doch einer eben jener wenigen Vorteile waren diverse Vergünstigungen im Alltagsleben und dazu gehörte unter anderem kostenfrei Bahn fahren in ganz Hostrimaa.
Der Kontrolleur machte große Augen, schaute ihn kurz an. „Was für ein eigenartiger Tag“, murmelte er und ging zum nächsten Fahrgast, auch wenn mehr als ein Augenpaar seine Blicke jetzt auf Tarja und Nemo hatte. Letzterer sah aus dem Fenster, auch wenn es da im Moment nichts zu sehen gab. Tarja hingegen schien es einfach zu ignorieren.
„Ist das immer so?“, fragte er leise und überlegte, sich das nächste Mal tatsächlich eine Fahrkarte zu kaufen. Es war das erste Mal seit er hier war, dass man ihn kontrolliert hatte.
„Ja, das musst du einfach ignorieren. Ich denke auch nicht, dass es besser werden wird. Außer vielleicht, wir drei kriegen einen Rappel und vermehren uns wie die Kaninchen und der Clan wird wieder groß.“
Nemo verzog das Gesicht. „Nein, danke.“
Tarja lachte leise. Bedauerlicherweise hatte sie damit Recht, dass sich zumindest in absehbarer Zeit an ihrer Clangröße nichts ändern würde. Ihre Familie war international für ihre Magie bekannt und dennoch lag die Anzahl der derzeitigen Mitglieder bei genau drei Leuten. Nemo hatte neben Tarja und seinem Bruder keine lebende Verwandtschaft mehr, außer einem Cousin, der aber zu einem anderen Clan gehörte und außerdem auf dem nächsten Kontinent lebte.
Für einen kurzen Moment kam die Straßenbahn aus dem Tunnel heraus und wurde von den Lichtstrahlen der Nachmittagssonne geflutet. Doch das nächste Viertel war ein wichtiger Teil der Altstadt, an dessen Rand auch der Palast der Zarenfamilie stand, und so wurde die Strecke gleich wieder unterirdisch.
„Weißt du, wie viele Leute dann bei mir im Jahrgang sein werden?“, fragte Nemo Tarja nach einigen Minuten. Sie würden noch eine Weile fahren; das Militärgelände lag am anderen Ende der Stadt.
„Nur von den Magierlehrlingen her?“
Er nickte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie mit einem Schulterzucken. „Ich kann mal nachfragen, aber es werden nicht viele sein.”
Der Krieg hatte eine tiefe Schneise in die Geburtenraten geschlagen, vor allem bei magischen Familien. Soweit Nemo wusste, war Tarja selbst die einzige Magierin in ihrem Jahrgang.
Sie nahm ihm Unna ab und sie freute sich so sehr, dass sie Tarja über das Kinn leckte. „Hey, hey“, lachte sie, rieb sich das Gesicht trocken, ehe sie wieder zu Nemo schaute. „Ich muss sagen. Der Gedanke, dass du dann ab März mit an der Akademie bist, löst schon ein wenig Nostalgiegefühle bei mir aus.“
Nemo seufzte leise, aber es war ein positives Seufzen.
„Komm schon.“ Sie lehnte sich an ihn. „Lass mich. Ich finde es ja auch gruselig, dass du mittlerweile größer bist als ich.“
Nemo hob die Augenbrauen. „Ich bin schon seit zwei Jahren größer als du.“
„Garantiert nicht. Vor zwei Jahren warst du zwölf.“
„Ich war vor zwei Jahren nicht zwölf!“ Er merkte, dass sich das eher danach anhörte, als wäre er jetzt im Moment erst zwölf. „Ich war dreizehn“, nuschelte er dann, wohl wissend, dass es das nicht besser machte.
Tarja musste laut auflachen. Unna bellte kurz, um sie zu unterstützen.
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Nemo befürwortete das. Die ärztliche Untersuchung des Militärs hatte die ganze letzte Woche wie ein Stein in seinem Magen gelegen - besser, er brachte es schnell hinter sich.