„Ein Geist war gestern in meiner Küche und hat mir erzählt, wo Shadrach steckt.“
„Das ist selbst für dich schlecht.”
„Ich lüge nicht gern“, murmelte Nemo in sein Frühstück. „Vor allem nicht bei sowas.“ Als ob sowas ihm bisher je passiert wäre. Sowas war nichts, was irgendwem jemals passiert war!
Dmitrij feixte. „In Ordnung. Also, dieser Geist, dieser General aus den Thronkriegen, wie war der so? War er heiß?“
Nemos Wangen wurden warm. „Er war tribunischer Kampfmagier im Unionskrieg, ganz so uralt ist er nicht.“ Er ließ es unkommentiert, ob Louis Lunoire heiß gewesen war oder nicht. In Nemos Küche hatte auf einmal eine historische und mythologische Figur gesessen, da hatte er nicht drauf geachtet, ob er ihn heiß fand, einmal davon abgesehen, dass er Leuten gegenüber ohnehin keine physische Anziehung verspürte. Zumindest allen, außer einer einzigen Person und darüber wollte er nicht nachdenken, erst Recht nicht, während er neben Dmitrij saß.
„Willst du mich verarschen?“
„Ich wünschte“, jammerte Nemo. „Aber ich glaub, das ist sauschwer bei dir.“
„Und deshalb denkst du dir so etwas peinliches aus?“
Nemo machte den Fehler ihn anzuschauen und fühlte Dmitrijs skeptischen Blick förmlich auf der Haut. Er wollte im Boden versinken. Er hätte nicht herkommen sollen.
„Ich wünschte. Ich wünschte, es wäre ausgedacht! Aber das ist es nicht! Ich kam gestern nach Hause und Louis Lunoire saß in meiner Küche und hat mir Tee gemacht!“
„Welchen Tee?“
„Heiße Liebe.“ Nemos Stimme brach.
„Du solltest eine Novelle darüber schreiben.”
Nemo öffnete kurz den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Stattdessen machte er die Augen zu und ging in sich. Er musste das schaffen. Es wäre lächerlich, wenn nicht. Dann steckte er seine Hand in die Hosentasche und zog den Zettel heraus, den der Geist gestern auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte.
Dmitrijs Miene wurde ein wenig ernster, als er das sah. Er nahm den Zettel auf, las ihn offenbar mehrfach. Anschließend legte er ihn auf den Tisch zurück.
„Wo ist das?“, fragte er, woraufhin Nemo mit den Schultern zuckte.
„Ich habe einen Stadtplan zu Hause, ich werde einfach suchen müssen.“ Tarja hatte ihn ihm geschenkt, als er nach Avasikuu gekommen war, und Nemo hatte sich geweigert, ihn zu benutzen, weshalb er sich seinem Trotz sei Dank mehr als nur einmal auf seinen Gassirunden mit Unna verlaufen hatte. Mit ihr konnte er sich nicht teleportieren, wenn er nicht wollte, dass sie ihm alles voll kotzte.
Dmitrij schien noch etwas sagen wollen, aber als die Tür geöffnet wurde, pflückte er den Zettel wieder vom Tisch.
„Prinz Dmitrij, Ihr habt Arbeit zu erledigen“, sprach der Mann, der soeben eingetreten war.
Nemo starrte einfach nur auf seinen Teller und fragte sich, ob es ihm angenehmer gewesen wäre, wäre statt des ehemaligen Leibwächters der Zarenfamilie einfach nur Dmitrijs Schwester herein gekommen.
„Ja. Und zu essen“, erwiderte Dmitrij genau so kalt. Die Hand, in der er den Zettel hielt, ließ er unten.
„Guten Morgen, Herr Roman“, kam es sehr leise von Nemo, weil er es für unhöflich erachtet hätte, einfach zu schweigen. Vielleicht gerade deswegen verdrehte Dmitrij leicht die Augen.
Herr Roman schaute ihn kurz an, nickte. „Guten Morgen, Milius.“
Nemo versuchte, ihn nicht allzu auffällig anzuschauen. Zwar hatte er Herrn Roman schon das ein oder andere Mal gesehen - vermutlich häufige als Dmitrij und dessen Schwester - aber nie wirklich mit ihm geredet. Merkwürdig zum Einen, denn Herr Roman war genauso mit Nemos Mutter befreundet gewesen wie die Eltern von Dmitrij. Aber dass der Mann nicht unbedingt Wärme und Geborgenheit ausstrahlte, war für Nemo nichts Neues. Im Gegenteil, seine Distanz und sein kühler Blick, die grau melierten Haare und der dichte Bart sorgten für eine Ausstrahlung, die allein einen gewissen Abstand aufbaute.
„Es ist Samstag um acht, Werktag. Ihr seid alt genug, ich bin nicht Euer Bediensteter.“
„Dann verhalten Sie sich nicht so“, sagte Dmitrij scharf und nahm die Akte entgegen, die ihm gereicht wurde. „Danke. Darf ich noch aufessen?“
Herr Roman reagierte darauf nicht. Stattdessen deutete er eine Verbeugung an und ging einfach. Nemo konnte sich vorstellen, dass er als Ratsmitglied sicherlich andere Dinge zu erledigen hatte und es erschien ihm, als wäre er seit ihrer letzten Begegnung um zehn Jahre gealtert. Zumindest waren damals seine Haare noch deutlich mehr schwarz als grau gewesen. Vielleicht passierte das, wenn man sich seit über drei Jahrzehnten mit hostischer Politik herum schlug.
Dmitrij ächzte schon, als der Mann noch in Hörweite war, und schien dann besonders langsam weiter zu essen.