"Mitja?", fragte eine tiefe Frauenstimme hinter der Tür und sorgte dafür, dass sich jedes einzelne Nackenhaar von Nemo augenblicklich aufstellte. Nein.
Dmitrij seufzte. Der Hund hingegen rutschte vom Sofa und tappte mit schlaff wedelndem Schwanz zur Tür. "Komm rein."
Nemo wusste nicht, was er machen sollte. Aufstehen, sich verneigen - einfach sitzen bleiben, normal tun, als wäre er einfach bei einem gewöhnlichen Freund zu Besuch, dessen Schwester kurz etwas von ihm wollte? So lief das doch eigentlich, oder? Es war nichts anderes an dieser Situation, es war absolut alltäglich!
Dmitrij schaute ihn an und sein Blick gab zu gleichen Teilen Ekel wie Enttäuschung wieder.
Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, leise Worte zum Hund gesprochen und Nemo saß wie versteinert da. Für einmal wünschte er sich, eine wortwörtliche Marionette zu sein, damit irgendeine höhergestellte Macht ihm die Handlungsentscheidung abnahm. Stattdessen war es seine eigene dumme Entscheidung, sich urplötzlich zu erheben und kerzengerade vor der Couchgarnitur zu stehen. „Zarin Katherina.“ Er schaffte es, nicht mehr zu sagen als das.
Katherina wirkte überrascht. „Oh. Milius. Was für eine Freude.“ Ihr Lächeln war knapp, gab Nemo aber genug Kraft in Form von metaphorischen Messerstichen unangenehmster Kälte, sich wieder zu setzen. „Du hattest nicht erwähnt, dass er heute kommt, Mitja.“
„Setz dich.“ Dmitrij deutete auf den leeren Sessel.
“Ich habe nicht vor, lange zu bleiben.“ Dennoch setzte sie sich, gerade und aufrecht, überschlug die Beine. „Ich habe mich eben mit Roman unterhalten, er wollte dich sprechen.“ Nemo fiel es schwer, ihrem Blick nicht auszuweichen, als sie anschließend zu ihm schaute. „Gut, dass du da bist. Dich wird er sicher auch sprechen wollen, immerhin ist die Sache mit deinem Bruder-“
„Ich glaub kaum, dass das nötig sein wird.“ Dmitrij lehnte sich zurück. „Nemo ist noch nichtmal sechzehn, wenn er was klären will, soll er mit Tarja sprechen.“
„Er wird mit Tarja sprechen. Das hat aber nichts mit Milius zu tun. Nicht direkt zumindest.“ Katherinas Blick war genau so stechend wie der ihres älteren Bruders. Vielleicht dank des dunklen Lidschattens noch etwas mehr. "Du kennst Roman doch, oder?"
Nemo nickte sehr stockend. "Also. Also ich hab schonmal, ihn schonmal gesehen. Und mit ihm geredet."
Sie nickte, ihr Blick wanderte auf den Couchtisch dabei. "Ihr lest... über den Unionskrieg?"
"Nichts, was dich angehen würde", sagte Dmitrij und begann, die Bücher zu verräumen.
"Aber fragen darf ich, oder? Interessehalber?" Nemo konnte nicht sagen, ob leichtes Amüsement in ihrer Stimme mitschwang oder er sich das nur einbildete. Louis Lunoire hätte es sicherlich gefallen.
"Natürlich." Dmitrij seufzte und versuchte gar nicht erst, es vor seiner Schwester zu verstecken.
"Keine Angst. Weiter frage ich nicht nach. Es ist sicherlich... für die Schule." Sie schaute Nemo an dabei, der am liebsten zerflossen und für immer und ewig in der Couchritze verschwunden wäre.
“Bin richtig schlecht, Dmitrij gibt mir Nachhilfe”, sagte Nemo mit flüssigster Stimme, ohne selbst wirklich mitzubekommen, wie das aus seinem Mund heraus kam.
“... Genau das mache ich.”
Vom breiten Grinsen schmerzten Nemos Mundwinkel. Katherina hob die Augenbrauen, ohne den Rest von ihrem Gesicht zu bewegen, fragte aber wie angekündigt nicht weiter nach. Nemo hätte sich am liebsten geohrfeigt.
Ein Wecker klingelte und Nemo schrak beinahe intensiver zusammen als der Hund, der kurz aufbellte. “Psht, Lyubochka.” Dmitrij sah sie nicht an, Katherina jedoch fuhr ihr sanft über die Schnauze mit ihren langen, dünnen Fingern und den aufwändig verzierten Fingernägeln. Ihre Haut fasste sich sicherlich unglaublich weich an.
“Eine Erinnerung?” Katharinas Blick folgte ihrem Bruder sehr genau. “Wofür?”
“Lass mich nachschauen.” Er stand an seinem Schreibtisch, holte ein zerfleddertes Notizbuch hervor, aus dem zahlreiche Zettel heraus schauten. Nemo fühlte sich immer mehr, als wäre er Zeuge von etwas Privatem an einem Ort, an den er nicht gehörte. “Ah. Ich muss los.”
“Wie lange brauchst du?” Katherina erhob sich. Lyubochka folgte ihren Bewegungen mit dem Blick.
“Eine halbe Stunde? Geh allein zu Roman, ich komme nach und bringe Nemo noch zum Ausgang.”
“Roman hat gesagt, er würde gern…”
“Mir ist egal, was Roman sagt”, fuhr Dmitrij ihr dazwischen. “Wenn er mit ihm reden will, soll er es über Tarja ausmachen, sie ist sein Vormund. Unter Stress ist Nemo ohnehin nicht brauchbar und Roman löst schon in normalen Erwachsenen Stress aus.”
Katherina schwieg unter Dmitrijs strengem Blick und auch Nemo sagte nichts. Es stimmte, dass er unter Stress nicht brauchbar war, dennoch löste diese Aussage ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust aus und Nemo musste erst einmal intensiv seine Knie anschauen, um sich davon abzulenken.
Katherina erhob sich, griff zu Lyubochkas Leine. “Wir reden später darüber”, sagte sie kalt. Nemo wusste, dass sie nicht nur ihren Bruder abschätzig anschaute, sondern auch ihn. Er wollte etwas sagen, bekam aber seine Zähne nicht auseinander. Als er es endlich schaffte aufzusehen, stand sie schon mit dem Rücken zu ihm und Nemo konnte nur ihre aschblonden Locken anstarren, die ihr über die Schultern flossen. “Du bewegst dich auf dünnem Eis, Dmitrij”, sagte sie noch, dann rauschte sie zur Tür hinaus.
Nemo atmete tief durch, als wäre es ihm die ganze Zeit über verboten gewesen. Die Kontrolle über seinen Körper kam zurück, mit dieser Kontrolle aber auch noch ein paar andere Gefühle.
“Das war erbärmlich”, sagte Dmitrij und sein Tonfall war dem seiner Schwester sehr ähnlich.
“Es- es tut mir Leid, ja?” Nemo wollte Dmitrij wissen lassen, dass er sich verletzt fühlte, aber alles woran er denken konnte, war die perfekte Silhouette der Zarin. “Sie ist wunderschön und du warst ziemlich gemein.”
“Wenn du es schon nicht schaffst, vor deiner Cousine die Wahrheit zu verbergen, wie stellst du es dir dann bei jemandem wie Roman Kraskow vor, hm?!” Dmitrij sprach lauter als er und es ließ Nemo zusammenzucken. “Der Mann war jünger als du jetzt bist, als er in die politischen Machenschaften des Landes eingestiegen ist und wenn er herausfindet, dass du deine Informationen von einem Geist hast, der im Unionskrieg für Tribunie gearbeitet hat, denkst du dann noch, dass du irgendeine Chance hast, dich mit Shadrach zu beschäftigen, hm? Er würde alles machen, um Hostrimaa sicher und aus den Fängen der Union zu halten. Alles.”
Er seufzte, setzte sich neben ihn auf die Couch. Nemo starrte auf den Boden, auf den Teppich mit den feinen Goldfäden drin.