Dmitrij stand vor Nemo, die Hände auf dessen Schultern. Sie drückten ihn nach unten und in die Fänge der Realität zurück, wobei er sich nicht sicher war, ob ihm das gefallen sollte oder nicht. Er zuckte nicht einmal zusammen, als er sich dessen bewusst wurde. Er schaute Dmitrij nur mit müdem Blick an.
"Hast du mir zugehört?" Dmitrij sprach nicht laut, dafür aber deutlich, vielleicht ein wenig angespannt.
Natürlich hatte Nemo ihm nicht zugehört. Dennoch nickte er, auch wenn sein Blick dabei zu seiner Cousine schweifte. Tarja stand immer noch direkt vor dem Militärgericht und schien etwas mit der Frau Major zu besprechen. Was genau es war, konnte er nicht sagen. Der Innenhof des riesigen Gebäudes lag in hellem Scheinwerferlicht, das der aufgehenden Sonne Konkurrenz machte. Nemo war weder müde noch wach. Er hatte nicht das Gefühl, dass sein Körper und sein Geist zusammenhingen und irgendetwas mit dieser Realität zu tun hatten.
„Es tut mir Leid“, sagte er leise, ohne sich dabei auf eine spezifische Sache zu beziehen. Er bereute den ganzen letzten Tag und vielleicht ein wenig mehr als diesen. „Es tut mir so Leid…“
Dmitrij musterte ihn sehr auffällig, ehe er seufzte. „Schlaf erstmal drüber. Katjuscha und ich kümmern uns drum.“
Nemos Mundwinkel zuckten kaum merklich nach unten. Er wollte weder Dmitrij noch dessen Schwester damit belasten. Es war ihm schon zu viel, dass Tarja jetzt mit anwesend war. Dmitrij klopfte ihm noch einmal auf die Schultern, dann nahm er etwas Abstand, denn Tarja kam zu ihnen.
„Los, Nemo, wir gehen.” Ihrer Stimme war zu entnehmen, wie gestresst sie war, und Nemo wäre lieber noch hier stehen geblieben für die nächsten Tage, als auch nur annähernd mit Tarja allein zu sein. „Braucht Eure Eminenz eine Begleitung nach Hause oder schafft Ihr es selbst?“ Sie schaute Dmitrij nicht an, schaffte es aber, dass sie sowohl neutral wie abfällig klang.
„Oh, danke für das Angebot“, sagte Dmitrij, der Tarjas Tonfall sehr gut mitbekam und amüsiert lächelte. „Aber darauf werde ich wohl ein anderes Mal zurückkommen. Man soll sich ja immer mal am Pöbel orientieren und den Fußweg wählen, um auf dem Boden zu bleiben, habe ich gelesen.“
“Na dann ist gut. Nemo, komm.“
“Wir sehen uns“, wandte Dmitrij sich noch einmal an ihn.
Nemo wich seinem intensiven Blick aus, nickte, bekam den Mund aber nicht auf. Dmitrij Seufzen war das Letzte, was er hörte, bevor Tarja sie beide direkt nach Hause teleportierte.
Im Flur stehend brach eine unangenehme Stille aus. Unna kam höchst erfreut angetapst, bellte einmal und Nemo ging in die Hocke, um sie gebürtig begrüßen zu können. Doch selbst die Wärme ihres Körpers und ihrer Zunge, die begeistert seine Hände ableckte, konnte ihn nicht von Tarjas Anwesenheit direkt neben sich ablenken.
"Was hast du dir dabei gedacht?", fragte Tarja, noch ehe er begonnen hatte, sich die Schuhe auszuziehen.
Nemo schaute zu Unna. Er wollte sie fest umarmen und nie wieder loslassen, doch er wusste, dass sie Umarmungen weniger gern hatte als er. Der Gedanke schmerzte ihn gerade umso mehr.
"Es ist in Ordnung, du brauchst nicht zu antworten, ich beantworte mir das einfach selbst wie generell alle Fragen, die ich innerhalb der letzten zwölf Stunden hatte!" Tarja zog schwungvoll die Küchentür auf, blieb im Rahmen aber stehen und drehte sich zu Nemo um. Sie wirkte noch ein wenig größer als sonst.
Nemo war sich bewusst, dass sie erwartete, dass er jetzt etwas sagte. Sich erklärte, sich verteidigte, irgendetwas. Aber er bewegte sich nicht, gab kein Geräusch von sich. Mit geschlossenen Augen versuchte er, all seine Konzentration auf die Beschaffenheit von Unnas Fell zu legen. Selbst die Hündin war mittlerweile ruhig und als er die Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass sie ihn mit hochgezogenen Brauen anschaute.
"Hausfax, bist du eigentlich völlig bescheuert?!"
Er zuckte zusammen. "Ich... Ich wusste nicht...", wisperte er, unfähig seine Stimme zu finden.
"Ich begreife es einfach nicht, du weißt selbst, dass es in solchen Situationen Scheiße ist zu lügen, und Junge, wenn du Kontakt mit deinem Bruder hattest dann..."
"Ich hatte keinen Kontakt mit Shadrach", unterbrach Nemo sie, aber im Versuch, seine Stimme lauter klingen zu lassen, hörte sie sich unnatürlich hoch an und er bereute sofort, den Mund geöffnet zu haben.
"Du brauchst jetzt nicht auch noch mich zu belügen." Tarjas Präsenz füllte den Flur wie Rauch. Nemo bekam keine Luft, aber er wusste, dass es nicht an ihr lag. Er hatte versagt. Er hatte die Wahl gehabt und die falsche getroffen. "Das mit dem Geisterpakt - wusstest du das auch?"
Unna winselte und wich zurück, als Nemo reflexartig etwas zu fest zugriff. Er hatte es nicht gewusst, nein. Aber hätte er anders gehandelt, hätte er diese Information gehabt? Nemo presste die Lippen zusammen. Er musste irgendetwas mit seinen Händen machen, weshalb er sie in die Jackentaschen steckte, damit Tarja nicht sah, wie sich seine Fingernägel in seine Handflächen bohrten. Er erhob sich, schaute auf, aber zur Decke und nicht zu seiner Cousine. Mit schwerem Atem versuchte er sich zu erden.
"Weißt du eigentlich, was für beschissene Fragen ich beantworten muss, Nemo, was soll der Scheiß, warum erzählst du mir nichts?" Selbst wenn Tarja versuchte, sich ruhig und verständnisvoll anzuhören, tat sie es nicht. Sie war enttäuscht und wütend und sie konnte nichts davon verstecken. "Und dein Gejammer von wegen, es ist nicht mein Problem, sag mal, hast du überhaupt irgendetwas gelernt im letzten halben Jahr? Ich glaub ja nicht, denn ich bürge für alle Scheiße die du verzapfst und deine falsche Bescheidenheit hilft weder dir noch mir!"
Ihre Worte trafen ihn wie ein Tritt in den Bauch. Tarja verschwamm vor seinen Augen, als diese sich mit Tränen füllten. "Ich wünschte auch, sie wär nicht gestorben", sagte er, aber seine Stimme waberte nur vor sich hin, wie besonders zähflüssiger Schleim im Abfluss. "Dann müsste ich nicht hier sein und ich, ich wäre einfach, vielleicht..."
"Vielleicht was, Nemo? Das bringt nichts, sie kommt nicht zurück, und offensichtlich ja auch weder Shadrach noch dein Vater, also reiß dich endlich zusammen und hör auf dich zu verkriechen, du packst das nicht allein und wenn du nicht mal nach Hilfe fragst..."
"Welche Hilfe könntest du mir denn bieten?!", platzte es aus ihm heraus, endlich mit fester und lauter Stimme, aber er wusste nicht, ob irgendetwas davon gewollt war. "Was soll ich machen? Was macht es besser, nichts macht es besser! Tut mir Leid dass ich dir Umstände bereite und Scheiße bin, ich... ich wäre nur..." Ihm ging die Luft aus sowie die Wörter. In seinem Körper war ein Sack aus Gummi, in den jemand all seine Organe gestopft hatte und jetzt fest zog.
Tarja öffnete den Mund, doch auch ihr schienen die Worte allmählich schwerer zu fallen. Nemo sah endlich zu ihr und alles war eng und sein Inneres drückte nach außen, als würde es jeden Moment explodieren. Er wollte Tarja nicht treffen.
Bevor sie etwas sagen konnte, teleportierte er sich aus der Wohnung.