Du beginnst es immer gleich.
Diese letzten 60 Minuten folgen einem eigenen, deinem eigenen Ritual, einem ganz bestimmten Muster.
Vom Sign-In an der Pforte gehst du beim Studio vorbei. Du betrittst diesen kleinen Raum immer zuerst mit dem linken Fuß. Darauf musst du dich gar nicht mehr konzentrieren.
Den Sender klemmst du vorerst an die Jeans, den Mikroport führst du nachlässig über Hals und Ohr an die Wange. Fixiert wird es für den kurzen Moment nicht.
Der erste Schritt auf die Bühne an diesem Abend.
Ebenfalls mit Links.
Den Blick fliegt hoch zum Tonpult, genau gegenüber unter dem Logenbalkon. Klaus winkt und du hörst im Rücken dein Zeichen.
Wie immer singst du erst einen ersten tiefen, dann den zweithöchsten Ton der Partitur an. Den Höchsten hebst du dir für die Vorstellung auf. Nur zweimal muss er kommen. Es hat dir noch nie Glück gebracht, ihn schon beim Soundcheck raus zu hauen.
"Prima, danke!", schallt es durch den leeren Saal.
Keine Überraschungen.
Du nimmst das Mikro wieder ab und verlässt die Bühne über die linke Seite.
Im Treppenhaus nickst du zwei Kolleginnen zu, die dich nicht aufhalten.
Du stoppst eine Etage weiter und biegst zur Kantine ab. Dort sitzen in einer Ecke die TänzerInnen zusammen. Höflich schenkst du ihnen ein Lächeln und durchschreitest den Raum mit langen Schritten.
Das Problem beim Abgang über die linke Seitenbühne: das Treppenhaus hier endet im ersten Stock. Daher musst du jetzt auf die andere Seite, um über die eine Etage höher gelegene Kostüm- und Maskenabteilung zu deiner Garderobe zu gelangen.
Dein Kostüm für die erste Szene hängt bereit, du nimmst es an dich und betrittst die Maske. Dort reicht ein kurzer Augenkontakt, die Kollegin deutet an, dass du in zehn Minuten dran bist. Alles wie immer. Kein Verzug.
Du holst den Schlüssel aus der Tasche, dann stehst du schon vor der schlichten weißen Tür. Auf der Fußmatte stehen die Stiefel, die am Vormittag frisch poliert wurden. Du atmest dich, schiebst den Schlüssel ins Schloß, dann gehst du, mit dem linken Fuß zuerst, in den Raum. Der klein, aber gemütlich ist.
Du hängst das Kostüm an den großen Spiegel, holst die Stiefel herein und ziehst die Tür hinter dir fest zu.
Einen Moment noch ganz allein.
Die Jacke landet achtlos auf dem Sofa in der Ecke.
Sender, Mikroport und Handy legst du auf dem Schminktisch ab.
Aus dem Rucksack holst du den großen Thermobecher mit Tee und stellst dich dann ans Fenster. Auf dem Parkplatz herrscht jetzt zunehmend Verkehr.
Noch ein langsamer Schluck, dann verschließt du den Becher sorgfältig. Du schlüpfst aus Oberteil und Jeans, tauschst beides gegen Kostümteile. Oben zunächst nur das weiße Unterhemd, über das du eine Sweatjacke ziehst. Dann fährst du in die Stiefel. Du greifst nach dem Mikroport nebst Sender und der nächste Gang führt dich zurück in die Maske.
In den nächsten 20 Minuten wirst du geschminkt, das Kabel des Mikrofons verlegt und fixiert, sowie die Perücke gesetzt. Stück für Stück verwandelst du dich in deine Rolle und beobachtest dies wie immer über den Spiegel. Alle Handgriffe sind routiniert und du lauschst dabei dem üblichen Tratsch. Beteiligst dich aber bewusst nicht daran.
Auf dem Rückweg hältst du an der Probebühne. Fünf Minuten mit dem Pianisten müssen reichen. Zurück in der Garderobe singst du dich weiter ein wenig ein und leerst nebenher den Tee. Ein letzter Gang ins Bad.
Über den Lautsprecher werden die letzten 15 Minuten zum Treffpunkt an der Hinterbühne angesagt. Es wird Zeit.
Du schreibst eine schnelle Nachricht auf dem Handy und verstaust das Gerät in der Schublade des Schminktischs. Den Schlüssel deponierst du in der kleinen Vordertasche des Rucksacks.
Nochmal stehst du am Fenster. Der Parkplatz ist jetzt voll und du summst die Melodie der Eröffnungsszene vor dir her. Ein letzter Blick in den Spiegel. Du wechselt von der Sweatjacke in die Kostümjacke und ziehst die Tür dann fest ins Schloß.
Genau 20 Schritte bis zur Treppe. An der Hinterbühne wirst du erwartet und der Sitz des Kostüms überprüft. Nochmal wird an der Perücke gezupft, etwas Puder nachgelegt und der Sender auf seine Funktionstüchtigkeit gecheckt. Der Regisseur klopft dir im Vorbeigehen auf die Schulter. Eine Kollegin lächelt dir zu. Überall Gewusel und Gemurmel, wie in einem Bienenstock. In fünf Minuten wird es hier totenstill sein.
Du schirrmst dich nochmal ab. Stehst mit geschlossenen Augen am Bühnenrand und wartest auf die Aufforderung des Inspizienten. Auf sein "go" öffnest du die Augen wieder und setzt dich in Bewegung. Du erreichst deine Position auf der Bühnenmitte und blickst auf den geschlossenen Vorhang.
Dahinter wartet das Publikum.
Du bist jetzt ganz bei dir.
Nur aus dem Augenwinkel siehst du den Kollegen, der seinen Platz Gegenau gegenüber am vorderen Rand einnimmt.
Du atmest durch.
Schaust zuerst nach links, dann nach rechts.
Zu linken Hand steht die Regieassistentin an der Seitenbühne und hält einen Daumen nach oben. Erst wenn jener sinkt, geht es los.
Rechts liegt alles im Dunkeln.
Es wird still.
Und dunkel.
Die Hand zur Linken verschwindet aus deinem Sichtbereich.
Durchatmen.
Alles ist wie immer.
Es beginnt.
Der Vorhang wird hochgezogen.
Vorstellung Nummer 250 für dich.
Wie Donnerschläge knallen die ersten Töne durch den Saal.
Zu zählst lautlos.
Ein Muster.
Wie 249 Mal zuvor.
Alles ist gut.