Und dann ist da nur noch Leere in ihr. Sie erschrickt beinahe, als sie fühlt, dass sie in diesem Moment nichts fühlt.
Zumindest keine positiven Gefühle mehr.
Nicht für ihn.
Sie lehnt an der Balkontür und betrachtet seinen Rücken.
Er atmtet hektisch.
Kurz schließt sie die Augen und schluckt die verräterischen Tränen hinunter.
Da ist er also erreich. Der Punkt, vor dem sie sich in all den Monaten gefürchtet hat.
Er dreht sich langsam zu ihr herum.
In seinem Blick Zorn.
Wut.
Aber auch Angst.
Und all das gepaart mit einem Kummer, den er nicht mit ihr teilen will.
Er steht völlig unter Strom.
Seit Tagen.
Sie fürchtet, dass ein einziger kleiner Funken ausreicht.
Sie fragt sich, wer dann den vollen Zorn, die pure Hilflosig- und Ungerechtigkeit abbekommt. Sie oder der Kleine?
Sie mustert ihn weiter.
"Ich kann nicht mehr.", flüstert sie.
Sein Blick weitet sich.
Kopfschüttelnd sieht er sie stumm an.
"Das geht so nicht weiter. Bei allem Verständnis.", schiebt sie nach.
Er öffnet den Mund, schließt ihn wieder und presst die Lippen aufeinander.
"Du musst hier raus, ehe es völlig eskaliert und nichts mehr zu retten ist.", sagt sie mit fester Stimme. "Und du musst endlich abschließen. Ehe es dich endgültig auffrisst und all das zerstört, was dir wichtig ist."
Sie denkt an die letzten Tagen. Seine Wutausbrüche.
Dann sieht sie die Kinderaugen vor sich.
In dem Moment wird aus der Leere in ihrem Herz ein warmes Gefühl. Sie muss den Jungen beschützen. Das ist sie ihm schuldig. Für den Sohn da sein, wenn schon der Vater sie nicht an sich heran lässt. Vor allem muss sie verhindern, dass der größeren Schaden anrichtet, als er derzeit begreifen kann. Es handelt sich um eine Ausnahmesituation, keine Frage. Und die nächsten Worte fallen ihr schwer. So schwer.
"Bitte gib uns ein paar Tage. Fahr vor zu deinen Eltern, wir kommen Ende der Woche nach. Vielleicht hilft der Abstand. Vielleicht brauchen wir alle etwas Zeit. Verstehe mich nicht falsch, aber ich kann und will das nicht leisten. Du schlägst um dich und machst alles nur noch schlimmer. Ich kann dich nicht auffangen. Es tut mir Leid. Hier ist Ende."
Vorsichtig sieht sie ihn an. Es zerreißt ihr beinahe das Herz. Einst hat sie sich geschworen, ihm keine weitere Narben zuzufügen. Doch nun muss sie Prioritäten setzen. Es geht um das Kind. Es geht um sie. Und es geht um die Liebe, die sie gerade nicht spüren kann. Sie zittert und ihr wird kalt. Er rührt sich nicht, behält sie aber fest im Blick. Erst als sie sich wegdreht und den Fuß zurück in die Wohnung setzt, kommt Bewegung in ihn.
"Bitte.", hört sie ihn flüstern.
Sie bleibt stehen.
Kann seinen Atem in ihrem Nacken spüren.
Seine Nähe riechen.
Dann schüttelt sie den Kopf und eilt durch das Wohnzimmer zur Treppe.
Hinter ihr hört sie das Splittern von Glas.