Der Pfad hinter dem Haus führt bis zum Waldrand.
Heute kann man ihn aufgrund des ganzen Schnees nur noch erahnen.
Fußabdrücke und Spuren des Schlittens weisen ganz gut den Weg.
Was ein herrlicher Wintertag.
Es hat in der Nacht geschneit, aber am frühen Morgen aufgehört.
Dafür hat sich die Sonne heraus getraut.
Schon beim Frühstück ist der Kurze unruhig auf seinem Stuhl umher gerutscht. Zu verlockend ist die Aussicht auf die Schlittenpartie gewesen.
Jetzt hüpft er aufgeregt an ihrer Hand auf und ab, dabei ist er den Hügel schon einige Male herabgesaust. Er bekommt einfach nicht genug. Quietscht bei jeder Fahrt vor Glück und zieht auch jetzt den Schlitten eifrig hinter sich her. Löst sich von ihr und stapft vorweg. Ab und an dreht er sich um, ob die Erwachsenen auch folgen.
"So viel Energie.", lacht sie und der Mann zu ihrer Linken gibt ihr schmunzelnd recht. Er zieht den zweiten Schlitten hinter sich her. Zu Dritt ist es doch zu unbequem auf einem Gefährt.
"Da denkt man, so kleine Kinder werden schnell müde, von wegen.", lacht er. Die vertrauten Augen blitzen. Sie zieht die Mütze etwas aus dem Gesicht. Durch die Bewegung wird ihr ganz schön warm. Der Kleine ist schon an der Bank angekommen, von der aus man über das Dorf und die Höfe blicken kann. Er winkt und sie ruft ihm zu, dass er warten soll. Alleine fahren soll er nämlich noch nicht. Er ist gerade erst vier geworden vor wenigen Wochen. Sie hat die Verantwortung an diesem Vormittag und es fühlt sich etwas ungewohnt an.
"Heute Abend wird er schon merken, dass er herumgetobt ist und viel an der frischen Luft war.", sagt sie. "Gut für uns.", lacht sie dann leise. Schon gestern war der Heilige Abend aufregend gewesen und der Kurze viel zu spät im Bett. Am Morgen hatte er noch im Schlafanzug nochmal die Rennbahn bewundert und mit seinem Opa damit gespielt. Doch er war dann kaum drinnen zu halten gewesen.
Sie erreichen nun ebenfalls die Bank und noch ehe sie reagieren kann, landet ein etwas unbeholfen geformter Schneeball auf ihrer Jacke. Der Junge kichert übermütig und läuft um die Bank herum. Lachend sieht sie zu, wie sein Onkel ihm nachsetzt und sich dann mit ihm im Schnee balgt.
"Jetzt ist genug, Räuber.", meint der schließlich. "Es wird langsam kalt." Mit dem Jungen im Arm kommt er zum Schlitten und sieht sie an. "Dann fahren wir unten über die Wiese bis hin zum Tor, okay?"
Nickend nimmt sie sich den zweiten Schlitten. Sie wird etwas langsamer folgen, wie bei den anderen Fahrten auch. Ihr Begleiter nimmt den Jungen vor sich und sorgt dafür, dass der sich seine Mütze wieder aufsetzt. Die Wangen des Kindes sind gerötet und die blauen Augen strahlen. Er liebt es, diesen Hang hinunterzusausen. Und wie auch gestern nachmittag ist die letzte Fahrt die längst und schönste. Und sein Onkel macht daraus ein Vergnügen.
Sie startet kurz hinter den beiden und behält den Schlitten im Augen. Er fährt hier und da einen Slalomkurs und immer wieder kann sie das Lachen des Kurzen hören. Schließloch bremst der Schlitten ab und auch sie kommt kurz danach direkt daneben zum Stehen. Schon ist aufgeregtes Bellen zu hören. Der junge Schäferhund springt auf der anderen Seite des Zaunes wild auf und ab. Sofort möchte der Vierjährige zu seinem neuen Freund. Der Einfachheit halber wird er hochgehogen und von seinem Onkel auf der anderen Seite abgesetzt.
"Lauf schon mal zum Haus und bitte Oma um einen Kakao.", ruft der Onkel dem Neffen noch hinterher.
Lachend schließt er das Törchen auf und nimmt ihr den zweiten Schlitten ab.
"Nach dir.", zwinkert er und sie betritt das Grundstück. Kind und Hund sind schon am Wohnhaus angekommen und das helle Rufen klingt über den Hof.
"Danke für den Nachmittag." Sie vergräbt ihre Hände in der Manteltasche.
Die Lichterkette an der Tanne im Hof brennt, ebenso die Beleuchtung am Haus und den beiden Nebengebäuden. In den Fenstern stehen Kerzen und sie kann ausmachen, wo sich Bibliothek und Wohnzimmer befinden. Auch sie freut sich jetzt auf ein heißes Getränk. Die Sonne senkt sich schon wieder und ein leichter Wind setzt ein.
"Bist du noch sauer", fragt sie und bleibt stehen. Sie haben den Schuppen erreicht und er lehnt die Schlitten dort an die Wand. Dabei schüttelt er den Kopf.
"Mein Brüderchen war schon immer schwierig. Unsere Beziehung ebenso. Ich kann das einordnen. Ich finde es nur traurig, dass er sich ausgerechnet gestern so hat gehen lassen. Und dass er offenbar nicht sieht, was er an dir hat."
Es sind wirklich fast die gleichen Augen, denkt sie. Nur dass der ältere der beiden Brüder ein paar mehr Fältchen hat. Und sein Blick insgesamter ausgeglichener ist.
"Ich kann mich nur für ihn entschuldigen.", sagt sie leise. Er schüttelt den Kopf und betrachtet sie.
"Fang nicht damit an. Tu dir selbst den Gefallen. Mama und Papa meinten es auch immer gut. Es bringt aber auch ihm auf Dauer nichts. Du hast das Herz auf dem rechten Fleck, bist eine tolle Frau und steckst voller Liebe für ihn und den Kleinen. Ich würde mir wünschen, dass er sich das nicht versaut. Setz ihm frühzeitig Grenzen. Ich verstehe vollkommen, warum unseren Eltern das immer schwer gefallen ist, aber es muss sich endlich was ändern. Er ist keine fünf oder neun oder zwölf mehr.Auch keine zwanzig mehr und die Probleme verschwinden nicht, nur weil man ihn ein paar Jahre in die Staaten schickt. Wir mögen nicht das innigste Verhältnis haben, aber er ist mein kleiner Bruder. Das gestern war ein weiterer Hilferuf und ich denke, wir dürfen nicht mehr weghören. Auch wir als Familie nicht."
Ernst ist er auf einmal und sie beißt sich auf die Lippe. Sie hat so viele Fragen. Es kommt ihr so vor, als würden zig Puzzleteile vor ihr liegen. Sie kann das nocht nicht als fertiges Bild sehen.
"Komm, lass uns reingehen. Muttchen hat bestimmt schon den Braten im Ofen und wartet mit Kaffee und Schokolade." Er nimmt sie kurz etwas unbeholfen in die Arme, dann gehen sie auf das Haus zu.
Sie sieht sich nochmal um. Die Sonne wird gerade von einer Schneewolke verdeckt und den Pfad zum Wald kann sie von hier nicht mehr erkennen.
Sie verspricht sich selbst, morgen einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Allein nur sie. Vielleicht führt sie der Pfad auf den richtigen Weg.