"Was haben wir?"
Die Stimme des Chirurgen schallt durch den Raum und er betrachtet den Patienten auf der Liege vor ihm aufmerksam.
Der Rettungswagen hat den etwa 30jährigen Mann vor wenigen Minuten hergebracht.
Er lauscht auf die sachlichen Worte des Sanitäters und lässt dabei seinen Blick über die Vitalwerte des jungen Mannes gleiten.
Zusammenbruch am Hauptbahnhof.
Bauchschmerzen und Übelkeit seit einigen Tagen, die innerhalb weniger Stunden stark zugenommen haben.
Dazu Fieber, Orientierungsverlust, Erbrechen und seit der Erstversorgung kaum ansprechbar.
Ein Deutscher, der gerade aus München eingereist ist.
Angehörige sind auf dem Weg ins Spital.
Doktor Tillmann nickt und tastet den rechten Unterbauch ab.
Was der Patient mit einem schmerzerfüllten Stöhnen quittiert.
Der Puls reagiert parallel und der erfahrene Arzt nickt.
"Wir operieren offen, ich vermute mindestens einen Riss, wenn nicht gar einen Durchbruch."
Eine Schwester eilt in seinem Rücken aus dem Raum. Sie sind ein eingespieltes Team.
Noch ein Blick auf den Monitor.
"Sobald die Angehörigen da sind, benötigen wir Informationen, was für Medikamente neben Schmerzmitteln er eingenommen hat. Weder Puls noch Blutdruck gefallen mir."
Doktor Tillmann dreht sich zu einer weiteren Schwester um.
"Bitte den Patienten vorbereiten und den Anästhesisten zu mir schicken." Auch jene nickt und greift nach der Kladde. Während das Bett mit dem Patienten aus der Notfallambulanz geschoben wird, taucht ein Pfleger neben dem Arzt auf.
Er folgt dem Bett und wird sich um die Gegenstände kümmern, die der Mann bei sich hat.
Der Chirurg selbst eilt auf den Gang und durchquert diesen bis zum Ende. Dort befindet sich der Personalaufzug, der ihn in den zweiten Stock bringt. OP Nummer fünf wird gerade vorbereitet und er betritt den Raum daneben.
"Klaus." Nickend begrüßt er den Kollegen, den die Schwestern als Unterstützung angepiept hat. Auch ihn unterrichtet er von dem vermuteten Durchbruch und der Kreislaufinstabilität. Der Anästhesist kommt dazu und gemeinsam betreten sie den OP.
Die Vorbereitungen gehen schnell, jeder kennt seine Aufgabe.
Der Narkosearzt geht routiniert vor und stimmt die Dosis vorsichtig ab. Als die Bauchdecke geöffnet ist, kommt es zu einer ersten Komplikation. Der Blutdruck sackt rapide ab.
Doch das Team ist erfahren, fängt ihn zweimal auf.
Doktor Tillmann seufzt, als er die Bruchstelle des Blinddarm entdeckt. Nur ein kleiner Riss, aber dennoch ein gut sichtbarer Durchbruch. Vielleicht auch erst bei Einlieferung passiert, so genau kann man das selten sagen. Etwas Eiter ist ausgetreten. Zunächst entfernt er den Wurmfortsatz, dann saugt der Kollegen den Eiter ab.
Mittlerweile beginnt er mit der Naht, als endlich eine Schwester mit dem Patienfragebogen dazu kommt.
"Sagen Sie nichts. Diazepam?", fragt der Anästhesist. Der Chirurg wirft einen Blick auf die Liste und schüttelt den Kopf.
"Davon steht hier nichts.", meint er.
Die Schwester holt eine Packung aus der Kitteltasche.
"Dies hat mir die Lebensgefährtin eben in die Hand gedrückt. Hat sie vor ein paar Tagen in seinen Sachen gefunden. Ich würde sagen, der Punkt geht an Doktor Zander." Scheu lächelt sie dem Anästhesisten zu.
Das beliebte Beruhigungsmittel macht nicht nur schnell abhängig, es wirkt bei einer Narkose beinahe wie ein Katalysator.
Der junge Mann vor ihm hatte heute doppelt Glück.
"Sagen Sie der Frau, dass wir gleich fertig sind. Ich komme dann selbst zu ihr."
Dann erteilt er der Schwester die Anweisungen für die postoperative Betreuung. Antibiotika und Flüssigkeit intravenös, dazu Schmerzmedikamente. Engmaschige Beobachtung in der Aufwachphase und Überwachung für mindestens drei Stunden. Er möchte sichergehen, dass die Wechselwirkungen nicht doch noch zu weiteren Komplikationen führen. Erst dann tritt er an das Waschbecken im Nebenraum.
Im Wartebereich sitzt eine blasse Frau, der die Sorge ins Gesicht geschrieben steht. Sie wird von zwei Männern flankiert, die sich als gute Freunde und Kollegen des Mannes vorstellen.
In solchen Momenten erfährt Doktor Tillmann immer mehr über die Menschen, die er auf dem OP-Tisch hatte, als ihm oft lieb ist.
Die junge Frau schildert, dass ihr Freund in den letzten Tagen immer wieder starke Bauchschmerzen hatte und sie auf einen Magen-Darm-Infekt getippt hatten. Er lächelt milde.
"Das passiert oft. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Die Symptome bei einer Blinddarmreizung sind oft unspezifisch. Reizungen klingen auch wieder ab, können aber auch chronisch werden. Es war ein kleiner Riss, er wurde rechtzeitig hergebracht. Jede weitere Stunde aber hätte gefährlich werden können. Ich denke, dass wir mit der Heilung an sich keine großen Probleme haben werden. Sorge bereitet mir etwas ganz anderes."
Später sieht er nochmal auf der Intensivstation nach dem Rechten. Drei Operationen hat er seit dem frühen Nachmittag durchgeführt. Zwei Patienten wurden bereits verlegt, nur der Blinddarm ist noch hier. Die Nachtschwester blickt auf, als Doktor Tillmann an ihrem Zimmer vorbeigeht. Knapp unterrichtete sie ihn, dass die Freundin nochmal hier war und der Patient nach der Gabe eines Schlafmittels stabil sei.
Obwohl er erfahren ist und schon viel gesehen hat, gehen ihm diese Geschichten immer nahe. Wie vermutet ist der Riss an dem vermaledeiten Blinddarm das kleinste Problem. Der Riss auf der Seele des Mannes, den kann er nicht flicken. Er hofft auch hier von Herzen, dass die Überdosierung mit dem Diazepam eine einmalige Angelegenheit war. Dass die einzige Folge nun die ist, dass die Ärzte mit der Dosierung der Medikamente vorsichtiger als gewöhnlich sind. Nochmal studiert er die Ergebnisse der Blutuntersuchung von vor zwei Stunden. Dann ordnet er an, dass keine weiteren Präparate bis zum Morgen gegeben werden dürfen und er zur Visite eine Überprüfung der Werte erwartet.
Er weiß, schon in einer Woche wird er auch diesen Patienten vergessen haben. Trotzdem wünscht er ihm Glück.