Die Frau stand am Ufer. Sie trug ein weißes Kleid und die Haare waren zu Zöpfen geflochten.
Ein Gänseblümchen steckte hinter ihrem Ohr. Sie war barfuß.
Ihre nackten Zehen spielten mit den kleinen Kieselsteinen im Lehmboden.
An der Hand hielt sie ein kleines Kind. Mit festem Griff hielt es sich an der Hand der Frau fest. Es war ebenfalls ganz in weiß gekleidet.
Die Morgensonne ließ das Schloss in den Bergen ebenso weiß erstrahlen, wie die Kleider der beiden Personen am Ufer. Die Luft war klar und mild.
Vögel zogen ihre Kreise und ließen sich hier und da auf einem Ast nieder.
Ihr Gesang klang nach Freiheit.
Atemlos war er stehen geblieben.
Hastig pumpte er Luft in seine Lungenflügel.
Stützte die Arme auf den Oberschenkeln ab.
Seine Augen blieben an die Situation am Ufer hängen.
Langsam richtete er sich auf. Sein Puls hatte sich wieder normalisiert. Er spürte einen Schweißtropfen, der ihm von der Stirn über das Gesicht lief. Wischte ihn eilig weg.
Wie gebannt sah er zu den Personen, die sich keinen Millimeter bewegt hatten.
Mussten sie nicht frieren? In den dünnen Leibchen, die sie trugen?
Wer bitte ging so früh mit einem kleinen Kind und noch dazu barfuß spazieren?
Nochmal fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht.
Die Sonne kitzelte ihn auf der Nase und blendete ihn nun leicht.
Sollte er sie ansprechen? Oder einfach seines Weges gehen?
Jetzt, als die Bewegung ausblieb, fröstelte es ihn.
Das nasse, durchgeschwitzte Shirt klebte ihm am Körper.
Eine Dusche würde gut tun.
Auch eine Tasse Kaffee. Vielleicht ein paar Sonnenstrahlen auf der Terrasse mitnehmen.
Die Frau war in die Hocke gegangen und zeigte hinüber zum Schloss.
Sie schien etwas zu erklären und deutete mit ihrer Hand mal hier, mal dorthin.
Das Kind war näher gerückt und lehnte sich vertrauensvoll an sie.
Ein feines, glockenhelles Lachen klang herüber.
Er wusste nicht warum, aber es ging ihm durch und durch.
Berührte sein Herz und seine Seele.
Beinahe krampfartig zuckte er zusammen.
Als das Lachen erstarb, fühlte sich die Stille bleischwer an.
Langsam setzte er sich in Bewegung.
Dabei konnte er gar nicht sagen, was ihn so magisch anzog.
Die ganze Stimmung hatte ihn gefangen genommen.
Das Bild der vermeintlichen Mutter mit ihrem Kind rührte ihn.
Noch ehe er sie erreicht, drehte sich die Frau zu ihm herum.
Sie lächelte.
Die Augen durchbohrten ihn.
Er blieb fassungslos stehen.
Sein Schrei aber blieb tonlos.
Stumm suchte er ihren Blick.
Seine Atmung hatte sich unbewusst beschleunigt.
Und sein Mund war ganz trocken.
Warum passierte das jetzt?
Er betete, dass sich das Kind niemals umdrehen würde.
Ansonsten könnte er für nichts garantieren.
Hektisch machte er noch einen Schritt.
Sie hob einfach nur die Hand.
Bedeutete ihm, stehen zu bleiben.
Zog einfach eine unsichtbare Grenze.
Und er gehorchte.
Ihr Haar glänzte in der Sonne. Sie gab ihm einen besonderen Schimmer.
Hatte es immer getan.
Das Weiß des Kleides hob sich von ihrer Haut ab.
Am eindrucksvollsten blieben ihre Augen.
Die lagen ruhig auf ihm.
Musterten ihn aufmerksam.
Tasteten ihn ab.
Nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Innerstes.
Und er konnte sich nicht dagegen wehren; sie las ihn ihm wie in einem Buch.
Dann nickte sie ihm zu. Fast etwas bedauernd.
Aber auch tröstend.
Eine seltsame Wärme durchflutete ihn.
Und auf einmal wurde er ganz ruhig.
Wie in Zeitlupe fiel er auf die Knie.
Die Frau ließ die Hand des Kindes los, flüsterte ihm etwas zu.
Es nickte und setzte sich auf den Lehmboden.
Sie dagegen kam beinahe schwebend auf ihm zu.
Er schloss die Augen. Spürte ihre Nähe.
Sie kniete direkt vor ihm und ihre Hand suchte seine Wange.
"Sieh mich an.", bat sie leise.
Mit einem Kloß im Hals schüttelte er den Kopf.
Doch sie setzte sich durch. Brachte ihn dazu, ihr direkt in die Augen zu sehen.
Dort sah er seine Geschichte und verzweifelt versuchte er, sich abzuwenden.
Doch sie ließ es nicht zu. Zwang ihn, hinzusehen.
"Verabschiede dich, Jan.", forderte sie ihn auf.
Der bestimmte Tonfall.
Keine Widerrede zulassend.
Streng. Sanft.
Alles in einem.
"Lass deine Vergangenheit los. Streife sie ab. Begrüße die Zukunft, die neben dir steht und wartet!"
Sie flüsterte es.
Eindringlich.
Ihre Hand verließ seine Wange.
Er atmete durch.
Spürte Tränen, die er nicht zurückhalten konnte.
Und nicht wollte.
"Lass los.", wiederholte sie.
Er hob seinen Kopf.
Sah die letzten Bilder in ihrem Blick.
Alles zog sich zusammen.
Es wurde unscharf.
Unsicher blinzelte er.
Und auf einmal war alles schwarz.
"Denk daran, warum du hier bist. Du schuldest mir noch etwas.", mahnte sie.
Nun zeigte sie zum Schloss.
"Ich erinnere dich an dein Versprechen. Du wolltest leben. Nicht aufgeben. Nun nimm dein Herz in die Hand. Sei mutig. Lass los, was dir Schmerzen bereitet. Lass den Emotionen ihren Lauf. Lebe deine Träume. Lache. Lebe. Liebe. Weine, wenn es nötig ist. Mach dich frei und verabschiede dich von diesem Ballast. Gib ihn mir mit und ich schicke dir die Zukunft."
Tief atmete er durch.
Es wurde schlagartig wieder hell um ihn.
Er wagte es nicht, zum Ufer zu blicken.
Keinesfalls wollte er das Kind ansehen.
Sie berührte seine Hand, dann erhob sie sich langsam.
Wie ein Engel, durchfuhr es ihn.
Wie der Engel, den er n ihr Grab gestellt hatte.
Weil sie doch sein Schutzengel war.
Anna.
War er nun wach oder im Traum?
Er konnte es nicht mehr einordnen.
Hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Und nun stand sie vor ihm und lächelte wieder.
Verabschiedete sich.
Sein Herz wurde leicht.
Sie bewegte sich rückwärts, ließ ihn nicht aus den Augen.
Wurde sie kleiner?
Durchsichtiger?
Sie erreichte das Kind.
Mit einem letzten Nicken wandte sie sich von ihm ab.
Streckte die Hand aus.
Nochmal war da das Lachen. Nur ganz leise, sehr entfernt.
Und mit einem Mal waren sie verschwunden.
Noch immer kniete er auf dem Boden.
Blinzelte.
Die Tränen liefen über seine Wange und vermischten sich mit dem Schweiß.
Alles war gedämpft und wie betäubt.
Er glaubte, stundenlang in dieser Haltung zu verharren.
Und dann war es vorbei.