Schlaf allein hilft nicht, wenn die Seele müde ist.
Mit aufmerksamer Miene betrachtet Dr. Schmedding seinen neuen Patienten. Das Erstgespräch vor wenigen Tagen ging ihm ungewohnt nah. Er ist nun wirklich kein Anfänger auf diesem Gebiet, ganz im Gegenteil. Er ist seit einigen Jahren schon Chefarzt dieser sehr angesehenen Klinik. Sie haben eine stolze Bilanz vorzuweisen. Eine geringe Abbruchquote, kaum Rückfälle und vor allem sehr wenige Verluste. Und jeder einzelne macht ihn betroffen. Doch manchmal ist es einfach zu spät. Nicht immer erreicht man die Verzweifelten noch.
Hier könnten sie Glück haben, auch wenn der erste Anschein überhaupt nicht gut ist. Aber nun ist er hier, aus freien Stücken. Und Christian Schmedding ist nicht gewillt, ihn wieder gehen zu lassen. Noch kann er nicht handeln, die Papiere sind noch nicht unterschrieben. Aber er kann sehen, dass es ganz und gar keine gute Idee wäre, den jungen Mann nicht hier zu behalten.
Wie oft er diesen Ausdruck in den Augen schon gesehen hat?
Er kann es gar nicht mehr sagen, aber kann ihn einordnen.
In seinem Kopf schwingen Alarmglocken.
Sein Gespür ist unter den Kollegen legendär.
Vielleicht, weil er sich viel Zeit nimmt, sich mit den Persönlichkeiten vertraut zu machen.
Er hat die Akten aus München mehrfach gelesen und mit den dortigen Therapeuten ausführlich telefoniert. Eine alte und gute Studienkollegin unter anderem, auf deren Urteil er großen Wert legt. Sie war es, die den Platz hier angefragt hat. Die sich spezialisiert hat auf derartige Traumata.
Schon oft hat sie Patienten an ihn und in diese Klinik verwiesen. Ihre Einschätzungen waren immer Gold wert.
Er weiß, dass er dem Mann helfen kann.
Wenn er darf.
Der heikelste Punkt.
Vielleicht der Entscheidenste.
Denn er kann niemanden gegen seinen Willen in dieses System integrieren. Das Vertrauensverhätnis muss von Anfang an stimmen.
Deswegen lotet er in den Aufnahmegesprächen immer aus, wie der aktuelle Stand der Dinge ist.
Im Grunde ist er überrascht, dass der Mann heute Morgen unangemeldet vor der Tür stand. Andererseits passt es aber auch ins Bild.
Es zeigt Dr. Schmedding aber auch, dass die Situation akuter ist, als er sie vor ein paar Tagen eingeschätzt hatte. Oder es ist noch etwas passiert, was die befeuert hat. Das hat er noch nicht herausgefunden.
Draußen sitzt der Vater, der seinen Sohn in aller Herrgottsfrühe hergefahren hat. Für Eltern ist es immer schlimm, egal wie alt die Kinder sind. Im Moment haben sie zwei 17-jährige hier, deren jeweiliges Schicksal vor allem die Eltern belastet. Jenen hat er die Angehörigengruppe empfohlen, die sie zweimal in der Woche betreuen. Man darf nicht unterschätzen, wie sehr das Umfeld unter Druck steht.
In diesem Fall Eltern, ein Bruder, eine Lebensgefährtin und vor allem auch ein Kind.
Mit einem Augenrunzeln betrachtet er jetzt die äußerlichen Verletzungen an den Armen. Rechts sind es nur kleine Schnitte auf der Oberarminnenseite. Links dagegen zieht vor allem eine Brandwunde am Unterarm seine Aufmerksamkeit auf sich. Aber auch frische, tiefe Kratzer zieren die Innenseiten.
"Zigarette?", fragt er vorsichtig und dreht den Arm ein wenig ins Licht. Die Stelle ist stark entzündet und gefällt ihm überhaupt nicht.
Der Patient nickt, bleibt aber stumm.
Überhaupt hat er kaum gesprochen, seitdem sie hier sitzen.
Aber er hat zu Beginn direkt gefragt, ob er bleiben kann.
Dr. Schmedding greift nach den Papieren. Zur Aufnahme gehört eine ausführliche Anamnese. Das Blutbild lässt einen starken Infekt im Körper vermuten, vermutlich ausgelöst von der Entzündung. Dafür spricht auch das Fieber. Ihm gefällt der Gewichtsverlust nicht, den hat schon die Kollegin aus München attestiert. Laut dem Vater hat der Sohn die letzten Nächte nicht geschlafen. Das Erlebte hat ihn eingeholt, mit brachialer Gewalt. Es ist nicht nur fünf vor Zwölf.
Er betrachtet ihn nochmal, nickt und stellt die Frage, die er jedem stellt, der an diesem Punkt hier vor ihm sitzt.
"Lassen Sie sich darauf ein? Vertrauen Sie uns und mir ihr Leben an? Sind Sie sich bewusst, dass Sie auf diesem Weg der Heilung mitarbeiten müssen? Wir können Ihnen helfen, werden alles dafür tun und manchmal auch Wege gehen, die vielleicht nicht dem Standard entsprechen. Ich kann Ihnen nur versprechen, dass Sie hier in den besten Händen sind. Wir sind da, bieten Ihnen ein Auffangnetz an und werden Sie erstmal zur Ruhe kommen lassen. Dann aber werden wir mit der Arbeit beginnen, damit Herz und Seele gesunden können. Es wird nicht von heute auf Morgen alles wieder gut. Aber ich verspreche Ihnen, dass es schnell sehr viell besser sein wird. Möchten Sie hier mit uns diesen Weg gehen? Sind Sie bereit sich darauf einzulassen?"
Jetzt hat sein Gegenüber den Kopf gehoben und die müden Augen sehen ihn still an. Dr. Schmedding lächelt und versucht ihm die Zuversicht auch zu zeigen, sie ihn spüren zu lassen.
"Wenn ich leben will, habe ich dann eine andere Wahl?", antwortet der Patient mit kratziger Stimme.
"Na, das ist ein guter Anfang. Leben wollen.", stellt der Arzt nüchtern fest. Der junge Mann nickt und fährt sich über die Brandwunde am Arm. Dr. Schmedding weiß, dass er gekommen ist, weil er sich selbst nicht mehr traut. Die Angst vor einer Kurzschlussreaktion.
"Sie haben immer eine Wahl. Es liegt ganz bei Ihnen." Christian Schmedding steht auf und legt ihm im Vorbeigehen eine Hand kurz auf die Schulter, dann bleibt er am Fenster stehen. Es wird ein sonniger Frühlingstag werden. In der Parkanlage sind schon die Gärtner unterwegs.
Er lächelt, als er das leise, dennoch bestimmte, fast etwas trotzige "ja" vernimmt. Nur wenige Minuten später beobachtet er die Verabschiedung zwischen Vater und Sohn. Beiden ist die Erleichterung anzusehen. Er begleitet den jungen Mann auf die Station, in den Bereich, in dem kein Besuch mehr Zutritt hat. In den nächsten Wochen wird das so bleiben.
Schmedding weiß, dass es ein harter Prozess wird, aber er freut sich schon jetzt auf die Belohnung. Auf das erste befreite Durchatmen, auf die wertvollen Momente auf dem Weg zur Gesundung.
Er ist Arzt mit Leib und Seele. Heilen seine Berufung. Verletzungen auf der Seele, tiefe Narben auf derselben, sind sein Spezialgebiet. Zurück ins Leben, das ist sein Ziel.
In all den Jahren hat er seine eigenen Methoden entwickelt.
Er gilt als geduldig, außerordentlich einfühlsam und geschickt.
Immer sieht er das große Ganze, nimmt sich aber bewusst Zeit für Details.
Sein Personal schätzt ihn für seine Menschlichkeit und Fairneß.
Er hat ein gutes Händchen, setzt die Mitarbeiter gezielt und passend ein.
Die Chemie muss stimmen, betont er stets.
Keine Massenabfertigung, das ist sein Credo.
Individualität.
Daher weniger Plätze, lieber eine intensive Betreuung.
Nur wenn die Seele gesund ist, kann auch der Körper heilen.
Und andersherum ebenso.
Sein Patient hier wird Kraft brauchen, wenn er ans Eingemachte geht.
Er wird da sein für ihn, das ist sein Versprechen.