In den Bergen fühle ich mich immer ganz frei.
Schwerelos.
Mir geht das Herz auf, wenn ich dieses besondere Grün der Wiesen sehen.
Oder das tiefe Blau am Himmel.
Die weißen Schneekuppen der umliegenden und noch viel höher liegenden Gipfel.
Hier bin ich ganz nah bei mir.
Vergesse Sorgen und Kummer.
Höre auf meine Schritte, meinen Atem und auf die Kuhglocken am Wegesrand.
Weiter oben erfordert der Weg meine ganze Konzentration.
Es gilt aufmerksam zu bleiben, jeden Schritt bewusst zu setzen.
In kurzen, aber knackigen Serpentine schlängelt sich der Weg jetzt nach oben. Mit jedem Schritt gewinne ich an Höhe.
Vorbei an den kleinen Einzianblüten.
Immer wieder bleibe ich stehen.
Der Ausblick ist phänomenal.
Unter mir Seen, Kirchen, Felsen, Kühe.
Nein, schöner kann es kaum noch sein.
Der Weg führt jetzt immer wieder durch kleine Durchgänge.
Oft ist der Weg unglaublich schmal.
Und dann erreiche ich die Felsformation, auf die ich mich besonders gefreut habe.
Ob ich den richtigen Platz noch finde?
Nun werde ich ganz aufgeregt.
Diesen Weg habe ich ein paar Jahre nicht genommen.
Doch heute ist ein besonderer Tag.
Kaum, dass ich in den Halbkreis eintrete, wird es kühler.
Ich taste mich voran, betrachte dabei aufmerksam die Felswände.
Nur wenn du richtig stehst, wir dir das Wunder gewährt.
Auf einmal bin ich wieder zehn Jahre alt und höre die tiefe, sehr liebevolle Stimme.
Ich zögere. War es hier?
Prüfend drehe ich mich um die eigene Achse.
Ich räuspere mich und vergewissere mich, dass ich wirklich allein bin.
Dann rufe ich deutlich.
Nichts.
Okay.
Ich gehe ein paar Schritte weiter.
Bleibe dann wie angewurzelt stehen.
Wenn du glaubst, dass sich die Felsspitzen berühren, bist du richtig,
Tatsächlich.
Die Illusion ist hier perfekt.
Ich teste erneut mit einem kräftigen Hallo.
Das Echo wirft es etwa zehnmal zurück.
Zufrieden schließe ich die Augen.
Hole Luft.
Wippe ein bisschen auf und ab.
Opa, ich liebe dich!
Die Worte scheinen im Kreis zu laufen.
Und dann verklingen sie langsam.
Mir laufen die Tränen.
Heute ist dein Todestag und du fehlst mir so sehr.
Immer noch.
Jeden Tag.
Seit 18 Jahren.
Für Jakob