Kapitel 36
Minigeschichten – Donnerstag – 22.08.2024
Aus der Adamstraße
Die alte Frau
Zerbrechlich, langsam geht Luise die Straße entlang. Vorsichtig und mit Bedacht setze Luise einen Schritt nach den anderen. Passanten, die sie sahen, machten einen großen Bogen um die alte Frau, denn wer weiß schon, da könnte die kleinste Berührung zu einem kleinen Unglück führen.
Luise selbst schmunzelte über die Vorsicht der Passanten, die ihr entgegenkamen, für sie war es nur eine Show, die Leute wegen ihrer angeblichen Gebrechlichkeit abzulenken, denn sie selbst führte Böses im Schilde. Sie war schon immer eine Taschendiebin, die die sich im Gedrängel an Leute heranmachte, um ihnen ihr Geld zu stehlen. Dazu brauchte sie Gedrängel, um sich an die Leute zu drücken, die ahnten nichts Schlimmes, und bemerkten es auch nicht wie sich ihre geübte Hand in ihre Taschen drehte. Dem einen und dem anderen war es schon bewusst, dass da eine andere Person sich sehr dicht an ihrem Körper abdrückte. Dann bemerkten sie die Gebrechlichkeit der älteren Dame, die in Wirklichkeit nicht so alt war, und versuchten sogar noch zu helfen, damit der älteren Dame nichts geschehe. Genau das waren die Momente, wo Luise unbehelligt in die Taschen der ahnungslosen Mitmenschen hinein fassen konnte. Auf der Suche nach Wertgegenständen, die so mancher achtlos in seine Hosentasche gesteckt hatte, oder einfach nur eine Geldbörse, die vielleicht gut gefüllt war. Die Masche schien gut zu funktionieren, dazu kam ihr Talent, sehr geschmeidige Hände zu besitzen, die ihr die Arbeit erleichterten. Merkte es doch jemand, dann lenkte sie denjenigen mit einem Stolpern, aus dem Gleichgewicht geraten zu sein ab. Schon war derjenige so hilfsbereit, dass er einfach nur helfen wollte. Dass er gerade bestohlen wurde, merkte keiner.
Die Nacht war ausgesprochen kurzweilig gewesen, in Luise war etwas, was sie sich nicht erklären konnte. Sie lebte doch das harmonischste Leben, brauchte nicht früh aufzustehen, denn arbeiten musste sie nicht, wenn man davon absieht, dass der Taschendiebstahl ja auch eine Arbeit war. Natürlich war es für Luise keine Arbeit, es war ein Hobby, was in ihr aufging, und das mit Freude. Wer konnte so etwas von sich behaupten, die meisten Menschen quälen sich doch jeden verdammten Arbeitstag, weil sie davon leben mussten. Ja mussten, das war das Zauberwort, sie selbst konnte es sich aussuchen, war nicht auf feste Arbeitszeiten angewiesen. Ja manchmal hatte sie schon feste Zeiten, das hatte etwas mit Urlaub zu tun, die Urlaubszeit musste sie natürlich ausnutzen. Dann konnte es tatsächlich anstrengend werden. Dafür saßen die Gelder bei den Urlaubern deutlich lockerer. Fast hatte sie sogar das Gefühl, als würden sie nur hier erscheinen, dass sie das Geld aufhob, was sie achtlos liegenließen. Da jubelte ihr Herz, als würde auch sie eine Urlauberin sein.
Jedoch in der letzten Nacht konnte sie kaum einschlafen, da war sie immer wieder aufgewacht, hatte vor ihren Augen ein rotes Leuchten gesehen. Das Leuchten war so stark, dass sie aufwachen musste, und selbst dann sah sie ihr Zimmer in einem rötlichen Licht, was schier unmöglich war. Große Augen stachen aus diesem rötlichen Lichtschimmer hervor. Sie schienen so stark in ihre innere Welt eindringen zu wollen, dass ihr unwillkürlich kleine Tränen aus den Augen flossen.
Die Sonne hatte die Dunkelheit noch nicht vertrieben, da stand Luise auf, ging in die Küche, um sich ein Kaffee zuzubereiten. Eigentlich trank Luise ihren Kaffee mit mehr Milch, als das Kaffee in der Tasse war, jedoch heute war der Kaffee ohne Milch, und dazu war er stark gebrüht.
Trotzdem tauchte immer wieder der rötliche Lichtschimmer vor ihr auf, und im Zentrum leuchten die finsteren Augen. Mit zitternden Fingern trank sie den starken Kaffee aus, doch besser ging es ihr danach auch nicht. Sollte sie heute ihrem Hobby nachgehen, überlegte sie ernsthaft, worauf sofort die unheimlichen Augen vor ihr erschienen. Böse blickte die Augen zu ihr, wie eine Warnung, die etwas nicht dulden wollten. So wie sie sich anders entschied, verschwanden die Augen auf der Stelle. Also sagte sie sich, dabei nippte sie an der Neige ihres Kaffees, soll es geschehen. Plötzlich konnte Luise einen harmonischen Ton wahrnehmen, der angenehm in ihrem Kopf nachhallte.
Ein Tag wie jeder andere, dachte Luise noch, als sie in die Bahnhofshalle trat, Leute, die es eilig hatten, einige zogen große Koffer hinter sich her, in ihren Gesichtern war Stress zu erkennen. Sorgfältig wollte sie sich ihr erstes Opfer aussuchen, denn in ihrer Einschätzung durfte sie keinen Fehler machen. Man hatte Luise schon zugesteckt, dass Leute von der Polizei unterwegs waren, die Taschendieben das Leben schwer machen wollte, damit der Bahnhof für Reisende sicherer wird. Sie konnte nichts erkennen, dass hier falsche Fahrgäste unterwegs waren, und auf ihr inneres Gespür konnte sie sich verlassen, das hatte sie drauf.
Da kam ihr ein junger Mann entgegen, der schien völlig abwesend zu sein, als würde er schwerwiegende Probleme wälzen.
Was es sein konnte, darüber überlegt sie nicht, denn was hatte so ein junger Bursche schon für Probleme?
Sicherlich konnte es nur Liebessachen sein, die bei so jungen Leuten die Hormone durcheinanderbrachten. Auch wenn er traurig blickte, musste Luise vorsichtig sein, schon seine Kleidung war nicht billig, sie war hochwertig und bestimmt teuer gewesen. Ein Beamter verdient nicht so viel Geld, also war es für Luise ein potenzielles Opfer.
Genau das war der Impuls, es mit dem jungen Mann zu versuchen, der wird bestimmt eine gute Ausbeute abgeben. Innerlich jubelte sie sogar schon, denn es wird ein leichter Gang werden, dachte sie noch, wo sie sich aber das erste Mal in ihrem Leben völlig verschätzte.
Sie ging, wie immer gebrechlich auf ihm zu, vor ihm tat sie, als würde sie plötzlich aus dem Gleichgewicht geraten, was aber nur die Vorbereitung für ihre flinken Finger war. Noch ein Blick in seine traurigen Augen, die Luise …
„Oh, welch ein Unheil!“
Es waren dieselben Augen, die sie schon vorher im rötlichen Schimmer gesehen hatte, als sie immer wieder aufgewacht war. Es waren dieselben Augen, wie konnte es überhaupt sein? -überlegte sie noch in Panik geraten.
Das Vorhaben war gescheitert, war der erste Gedanke, nur ihre Finger konnte sie nicht mehr stoppen, sie handelten automatisch, als wären sie ferngelenkt. Automatisiert von der tagtäglichen Herausforderung. Plötzlich hatte sie einen Ring in der rechten Hand, ein Ring der schwer in der Handinnenfläche wog. Genau in diesem Moment verwandelte sich der traurige Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes, ein Strahlen erwachte aus seinen Augen.
Als hätte gerade eine Verwandlung stattgefunden, die alles in seinem Leben mit einem Schlag veränderte. Gerade eben, war ein fürchterlicher Fluch von ihm genommen, und der Fluch war dieser schwere Ring, der jetzt in der rechten Handinnenfläche von Luise lag. Gerade eben hatte der Fluch sein Leben geändert, denn der junge Mann war einfach immer nur traurig, was den roten Stein im schweren Ring nicht behagte. Er hatte sich eine neue Seele gesucht und gefunden, deren Leben ihm besser gefiel.
Luise selbst hatte keine Wahl den Wechsel der finsteren Augen zu unterbinden. Sie war jetzt die Trägerin des schweren Ringes, der als Fassung einen roten Rubin hatte.
Luise selbst war nicht traurig, so wie der junge Mann.
In ihr schwang ein Glück mit, was ihrer diebischen Art entgegenkam.
Ende der kleinen Minigeschichte, die in meinem Kopf eine Kurzgeschichte werden sollte. So kann man sich irren, denn am Ende zählt die Anzahl der Wörter!
Klaus Konty – 22.08.2024
Namen der kleinen Minigeschichte;
Luise; ist die Hauptfigur und ist keine alte, schwache Frau.