Er rang nach Worten, ich konnte sehen, wie er fieberhaft überlegte, was er mir sagen sollte, aber was konnte an dieser Schleife nun so schrecklich sein? Schlimmer als die Erkenntnisse aus dem Laptop konnte es nicht werden.
Endlich raffte er sich auf, mir die Frage zu beantworten, wobei er sichtlich mit seiner Fassung rang.
»Du wirst langsam erwachsen.«
Nein, er sagte natürlich noch viel mehr, aber das war die Kernaussage.
Ich verstand nicht wirklich, was er mir damit sagen wollte. Gut, die rote Schleife erklärte es vielleicht, aber irgendwas war da noch - und mal wieder wollte er nicht heraus mit der Sprache. Ich wollte ihn aus der Reserve locken, aber er konterte so gut, dass ich es lieber ließ. Klar, ich hatte auch meine Geheimnisse, von denen er nichts wusste. Ich schluckte die Kröte erstmal und konzentrierte mich auf meine neue Aufgabe, die er mir gestellt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dafür brauchen würde - aber wir hatten ja Zeit. Dachte ich. Ich hätte mir mehr Zeit gelassen, wenn ich gewusst hätte, was Sandro noch für Überraschungen für mich hatte.
Die nächsten sechs Wochen beschäftigte ich mich Tag und Nacht mit diesem Laptop. Ich erstellte Listen mit Recherche über die Kontinente, Länder und Regierungsform. Ich ging mit der Zeit immer mehr ins Detail, Geschichte, Entwicklung, heutiger Stand - welche Auswirkungen das eine oder andere auf die Welt hatte. Am schlimmsten fand ich die Liste mit den - meiner Meinung nach - gefährlichsten und brutalsten Menschen, die zur Zeit an der Macht waren. Ich schaute mit Besorgnis darauf, dass die Liste immer länger wurde. Auch die mit den augenblicklichen Konfliktherden, Kriegen und Massakern wurde jeden Tag länger.
Immer nach zwei Stunden brachte ich meine Aufzeichnungen in Ordnung, schlief dann ein paar Stunden und wenn es sich ergab, diskutierte ich mit Sandro über meine neuesten Erkenntnisse. Er blieb merkwürdig still dabei, ich merkte es nicht sofort, aber ich hatte den Eindruck, er wollte, dass ich etwas sah, was ich noch nicht erkennen konnte.
Er meinte einmal nur »Du denkst den Gedanken nicht zu Ende, Angelina. Du suchst die Ursache - für alles hier.«, nur das half mir nicht weiter.
Aber ich war zuversichtlich, dass ich es irgendwann erkennen würde und blieb mit unverminderter Energie bei der Arbeit.
Es ging wochenlang so weiter, weil in zwei Stunden konnte ich nicht immer alles so herausfinden wie ich wollte und vor allem, ich konnte mit den Ergebnissen immer noch nicht mehr anfangen.
Nach sechs Wochen kam uns Gio besuchen - ohne Anhang. Ich hätte eh keine Zeit gehabt und mit halbem Ohr hörte ich nur, wie er Sandro von Marcellas Studpartnero, der nun zeitweise bei ihnen wohnte, erzählte und wie glücklich sie darüber sei. Maria hatte schon länger ihren Studpartnero Francesco, wobei deren Treffen eher sporadisch ausfielen, aber es interessierte mich im Augenblick nicht sonderlich. Ich wollte endlich bei meinem Projekt weiterkommen und es machte mich langsam wütend, dass ich es einfach nicht begriff, was für alle anderen wohl so offensichtlich war. Nur - einen Tipp wollte mir keiner geben und so saß ich mal wieder grübelnd über meinen Listen. In einer halben Stunde konnte ich wieder an das Gerät und ich wusste gerade nicht, was ich noch recherchieren sollte.
Gio stand plötzlich neben mir und schaute sich meine Listen an, Sandro hielt sich im Hintergrund.
Es war dann auch Gio, der mich ansprach.
»Du hast eigentlich alles schon sehr gut erfasst, Angelina. Ich bin beeindruckt von deinem Fleiß, aber so kennen wir dich ja.« Er lächelte mich an und es gab mir die kleine Hoffnung, dass ich mich endlich dem Problem genähert hatte.
»Ich hätte da noch eine Idee zu einer weiteren Liste. Möchtest du den Vorschlag hören?«
Ich nickte sofort. Natürlich wollte ich endlich den Sinn dahinter verstehen. Wenn ich dazu noch eine Liste erstellen sollte - warum nicht?
»Sie ist relativ einfach, wenn auch nicht besonders kurz, aber du kannst sie irgendwann nach Gutdünken abkürzen, wenn du den Sinn vorher erkennst Davon bin ich übrigens fest überzeugt. Ich schlage vor, du machst eine Liste über sämtliche Lebensformen auf der Welt, angefangen mit den Menschen über Tiere und Pflanzen und was dir noch so einfällt. Und du schreibst daneben in die Spalte, was sie an Schäden verursachen oder verursacht haben. Das ist nicht schwer, wird dir aber entscheidend weiterhelfen.«
Ich schaute verblüfft auf das leere Blatt vor mir, aber ich teilte es mechanisch schon in zwei Spalten auf.
Links oben schrieb ich, wie Gio mir geraten hatte, als erstes die Menschen hin und wechselte dann in die Spalte daneben. In der Zwischenzeit konnte ich schon wieder an den Computer, also rief ich in Windeseile schnell Tierarten auf und Pflanzenarten auf, damit ich später die LIste vervollständigen konnte. Ich merkte gar nicht, dass Gio und Sandro vor die Tür gegangen waren und sich dort leise unterhielten, so vertieft war ich in meine Arbeit.
Als nach zwei Stunden der Laptop wieder seinen normalen Abbruch hatte, wollte ich nur schnell noch aus dem Kopf die rechte Spalte ergänzen. Das schaffte ich schon aus dem Gedächtnis, das waren alles Dinge, mit denen ich mich schon zu Anfang beschäftigt hatte.
Nach einer Stunde, war ich rechts schon auf der zweiten Seite unten angekommen, ohne dass ich links den nächsten Punkt erreicht hatte. Mir tat die Hand weh und ich brauchte eine Pause. Ich stand auf und ging hinaus auf die Terrasse.
Gio war bereits weg, aber Sandro saß dort und schaute mir entgegen.
»Möchtest du was essen oder trinken? Ich mache dir gern was fertig, damit du dich mal erholen kannst.«
Ich legte die Zettel, die ich mitgebracht hatte, auf den Tisch, den Stift daneben und setzte mich. Nach kurzem Zögern nickte ich.
»Das ist eine gute Idee. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich Hunger habe. Danke.«
Sandro nickte stumm und ging hinein.
Ich griff gedankenverloren nach den Papieren und starrte darauf.
Ganz langsam sickerte eine Erkenntnis in mir durch. Noch eindeutiger konnte solch eine Liste gar nicht aussehen, oder?
Jetzt hatte ich tatsächlich - und ganz einfach - den Verursacher gefunden.
Glücklich machte es mich nicht.
Es waren eindeutig die Menschen, die hier alles kaputt machten.
Dann trat Sandro durch die Tür mit dem Tablett in der Hand. Er sah mir an, was ich entdeckt hatte.
Auch er war nicht glücklich, aber das hatte andere Gründe, die ich bald darauf erfahren sollte.